Über das Buch

Der Roman »Pedro Paramo« und all seine Erzählungen — das Werk des großen lateinamerikanischen Autors Juan Rulfo in einem Band

Eine Wiederentdeckung: Rulfos bahnbrechender Roman »Pedro Páramo« — sowie sämtliche Erzählungen in neuer Übersetzung von Dagmar Ploetz: Die Stimmen der Lebenden und der Toten kreuzen sich in seinen Büchern. Sie erzählen von der entsetzlichen Welle der Gewalt, die nach der Revolution über Mexiko hereingebrochen ist. Dörfer in der Wüste, die Steinhaufen gleichen, werden von Banditen und Despoten in Friedhöfe verwandelt. Ein bettelarmer Marktschreier gelangt dank seiner Kampfhähne zu Reichtum. Rulfo lotet die Abgründe des Menschlichen aus, mit seiner Ästhetik der Kargheit hat er Figuren von ungeheurer Intensität erschaffen, vor deren eindringlichen Stimmen es kein Entrinnen gibt.

Juan Rulfo

Unter einem ferneren Himmel

Gesammelte Werke

Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz

Kommentiert und mit einem Nachwort von Benjamin Loy

Hanser

Inhalt

Der Llano in Flammen

Man hat uns Land gegeben

Die Cuesta de las Comadres

Wir sind eben sehr arm

Der Mann

Im Morgengrauen

Talpa

Macario

Der Llano in Flammen

Sag ihnen, sie sollen mich nicht töten!

Luvina

Die Nacht, in der sie ihn allein ließen

Die Grenze im Norden

Erinnere dich

Hörst du nicht die Hunde bellen

Der Tag, als die Erde bebte

Das Erbe von Matilde Arcángel

Anacleto Morones

Pedro Páramo

Der goldene Hahn und andere Erzählungen

Der goldene Hahn

Die Geheimformel

Das Leben ist nicht sehr ernst mit seinen Dingen

Ein Stück Nacht

Briefe an Clara — XII

Castillo de Teayo

Nach dem Tod

Meine Tante Cecilia

Cleotilde

Mein Vater

Genauso wie gestern, sagte der Priester

Susana Foster

Er ging unter Schmerzen, benommen vor Erschöpfung

Ángel Pinzón hielt im Zentrum an

Der Entdecker

Anhang

Anmerkungen

Nachwort von Benjamin Loy

Eine kurze Bibliografie

Der Llano in Flammen

Für Clara

Man hat uns Land gegeben

Nach so vielen Stunden des Gehens, ohne Schatten zu finden, kein Baum, kein einziger Trieb, keinerlei Wurzel, ist das Gebell von Hunden zu hören.

Zuweilen hat man auf diesem uferlosen Weg geglaubt, dass es danach nichts gäbe; dass nichts auf der anderen Seite zu finden wäre, am Ende dieser von Rissen und trockenen Bächen gespaltenen Ebene. Aber doch, es gibt etwas. Es gibt ein Dorf. Man hört die Hunde bellen, man spürt in der Luft den Geruch des Rauches und man schmeckt diesem Geruch von Menschen nach, als wäre da Hoffnung.

Aber das Dorf ist noch weit weg. Es ist der Wind, der es nahebringt.

Wir sind seit dem Morgengrauen gelaufen, jetzt müsste es ungefähr vier Uhr nachmittags sein. Jemand schaut zum Himmel auf, hebt die Augen der dort hängenden Sonne entgegen und sagt:

»Müsste jetzt etwa vier Uhr nachmittags sein.«

Dieser Jemand ist Melitón. Mit ihm zusammen gehen wir, Faustino, Esteban und ich. Wir sind vier. Ich zähle, zwei vorne, zwei andere hinten. Ich schaue weiter zurück und sehe niemanden. Da sage ich mir, ›Wir sind vier‹. Vor einiger Zeit, so gegen elf, waren wir mehr als zwanzig; aber nach und nach haben sie sich abgesetzt, bis nur noch dieser Kern geblieben ist, der wir sind.

Faustino sagt: »Es könnte Regen geben.«

Alle heben wir das Gesicht und schauen auf eine Wolke, die schwarz und schwer über unsere Köpfe zieht. Und denken: ›Könnte sein.‹

Wir sagen nicht, was wir denken. Schon seit langem ist uns die Lust am Sprechen vergangen. Sie ist uns in der Hitze vergangen. Woanders würde man durchaus gern reden, aber hier macht es Mühe. Redet man hier, werden die Worte von der Hitze draußen heiß im Mund und trocknen einem auf der Zunge aus, bis sie im Keuchen vergehen.

So ist es hier eben. Deshalb kommt keiner darauf zu reden.

Ein Wassertropfen fällt, groß, dick, und hinterlässt ein Loch im Boden und einen Erdbrei, wie vom Spucken. Er fällt allein. Wir warten darauf, dass weitere fallen. Es regnet nicht. Schaut man jetzt zum Himmel, sieht man die Regenwolke eilig davonziehen. Der Wind vom Dorf bedrängt sie und schiebt sie gegen den blauen Schatten der Berge. Und den irrtümlich gefallenen Tropfen frisst die Erde, und ihr Durst lässt ihn verschwinden.

Wer zum Teufel hat diesen Llano wohl so groß gemacht? Für was ist er gut, he?

Wir gehen wieder. Wir waren stehengeblieben, um den Regen zu sehen. Es gab keinen Regen. Jetzt gehen wir weiter. Und mir kommt der Gedanke, dass wir länger gegangen sind, als wir unterwegs sind. So ein Gedanke kommt mir. Hätte es geregnet, kämen mir vielleicht andere Gedanken. Dabei weiß ich, seit meiner Kindheit hab ich es nie auf dem Llano regnen sehen, also richtig regnen.

Nein, der Llano ist zu nichts gut. Es gibt weder Kaninchen noch Vögel. Es gibt nichts. Mal abgesehen von ein paar dürftigen Akazien und dem einen oder anderen Fleckchen strohigen Unkrauts mit eingerollten Blättern; davon abgesehen ist da nichts.

Und hier sind wir unterwegs. Alle vier zu Fuß. Davor ritten wir auf Pferden und hatten einen Karabiner umgehängt. Jetzt haben wir nicht einmal mehr den Karabiner.

Ich habe immer gedacht, dass sie gut daran taten, uns den Karabiner abzunehmen. In dieser Gegend ist es gefährlich, bewaffnet zu sein. Man wird ohne Warnung getötet, wenn man die ganze Zeit mit dem »30er« am Riemen gesehen wird. Aber das mit den Pferden ist eine andere Sache. Wären wir zu Pferd unterwegs, hätten wir schon vom grünen Wasser des Flusses gekostet und unsere Mägen durch die Dorfstraßen spazieren geführt, um das Essen sacken zu lassen. Das hätten wir schon getan, hätten wir all die Pferde gehabt, die wir hatten. Aber mit den Karabinern haben sie uns auch die Pferde weggenommen.

Ich wende mich nach allen Seiten und betrachte den Llano. So viel Land, so groß, für nichts und wieder nichts. Der Blick rutscht ab, er findet nichts, was ihn aufhalten könnte. Nur ein paar Eidechsen strecken den Kopf aus ihren Löchern, und wenn sie dann die Brandhitze der Sonne spüren, eilen sie, sich im kleinen Schatten eines Steines zu verbergen. Aber wir, wenn wir dann hier arbeiten müssen, wie sollen wir uns von der Sonne abkühlen, he? Denn sie haben uns diesen krustigen Boden überlassen, damit wir etwas anbauen.

Sie sagten uns: »Von hier bis zum Dorf, alles für euch.«

Wir fragten: »Der Llano?«

»Ja, die Ebene. Der ganze Llano Grande.«

Wir muckten auf, sagten, dass wir den Llano nicht wollten. Dass wir das Land am Fluss haben wollten. Jenseits des Flusses, bei den Auen, wo diese Bäume stehen, die man Kasuarinen nennt, wo Grasland ist und gute Erde. Nicht diese harte Kuhhaut, die man den Llano nennt.

Aber man ließ uns nicht reden. Der Delegierte war nicht gekommen, um sich mit uns zu unterhalten. Er gab uns die Papiere in die Hand und sagte:

»Bekommt keinen Schreck, weil so viel Grund ganz allein für euch ist.«

»Aber der Llano, Herr Delegierter …«

»Das sind abertausende Tagwerk.«

»Aber es gibt kein Wasser. Nicht mal um den Mund zu spülen, gibt es Wasser.«

»Und die Unwetter? Niemand hat euch gesagt, dass ihr bewässertes Land bekommt. Sobald es dort regnet, schießt der Mais in die Höhe.«

»Aber, Herr Delegierter, der Boden ist ausgewaschen, hart. Wir glauben nicht, dass der Pflug in diese Erde eindringen kann, der Llano ist doch wie ein Steinbruch. Man müsste mit der Hacke Löcher schlagen, um die Saat auszubringen, und nicht einmal so ist sicher, dass etwas wächst; weder Mais noch sonst was.«

»Das müsst ihr schriftlich vorbringen. Und jetzt verschwindet. Ihr müsst das Latifundium in Angriff nehmen, nicht die Regierung angreifen, die euch das Land gibt.«

»Warten Sie, Herr Delegierter. Wir haben nichts gegen die Regierung gesagt. Nur gegen den Llano … Wo nichts zu machen ist, ist nichts zu machen. Das haben wir gesagt … Warten Sie, damit wir es Ihnen erklären. Lassen Sie uns da weitermachen, wo wir stehengeblieben waren …«

Aber er wollte uns nicht hören.

So haben sie uns dieses Land gegeben. Und auf diesem erhitzten Comal, dieser Herdplatte, sollen wir Samen von irgendwas aussäen, mal sehen, ob etwas keimt und sich vom Boden erhebt. Aber nichts wird sich von hier erheben. Nicht einmal die Geier. Dann und wann sind sie sehr weit oben zu sehen, sie fliegen rasend schnell; versuchen, so rasch wie möglich dieses weiße, erstarrte Erdreich hinter sich zu lassen, wo sich nichts bewegt und man wie zurückweichend geht.

Melitón sagt: »Dies ist das Land, das sie uns gegeben haben.«

Faustino sagt: »Was?«

Ich sage nichts. Ich denke: »Melitón ist nicht bei Trost. Es muss die Hitze sein, die ihn so sprechen lässt. Die Hitze, die durch den Sombrero hindurch in seinem Kopf glüht. Und wenn nicht, warum sagt er dann, was er sagt? Was für Erde haben sie uns gegeben, Melitón? Hier gibt es nicht einmal das kleine bisschen davon, das der Wind bräuchte, um Staubwirbel zu spielen.«

Melitón hebt wieder an: »Für etwas wird es gut sein. Und sei es nur, um Stuten laufen zu lassen.«

»Was für Stuten?«, fragt ihn Esteban.

Ich hatte mir Esteban nie so richtig angeschaut. Jetzt, da er spricht, schaue ich ihn mir an. Er trägt eine Jacke, die ihm bis zum Nabel reicht, und unter der Jacke streckt so etwas wie ein Huhn den Kopf hervor.

Tatsächlich, es ist eine rote Henne, die unter Estebans Jacke steckt. Man sieht die schläfrigen Augen und den offenen Schnabel, als gähne sie. Ich frage ihn:

»Hör mal, Teban, wo hast du das Huhn geklaut?«

»Es gehört mir«, sagt er.

»Davor hattest du es nicht dabei. Wo hast du es gekauft, sag schon?«

»Ich hab es nicht gekauft, es ist das Huhn aus meinem Stall.«

»Dann hast du es als Proviant mitgebracht, oder?«

»Nein, ich hab es mitgebracht, um es zu versorgen. Mein Haus ist allein zurückgeblieben, da ist keiner, der das Huhn füttern könnte; deshalb habe ich es mitgebracht. Immer wenn ich weit weggehe, schleppe ich es mit.«

»Wenn du es da so versteckst, wird es noch ersticken. Lass es lieber an die Luft.«

Er legt es sich unter dem Arm zurecht und bläst es mit der heißen Luft aus seinem Mund an. Dann sagt er: »Gleich sind wir an der Uferböschung.«

Ich höre nicht mehr, was Esteban noch sagt. Wir haben uns in eine Reihe gestellt, um den Abhang hinabzuklettern, und er geht einfach voraus. Man sieht, er hat das Huhn an den Beinen gepackt und schwingt es immer wieder von sich weg, damit der Kopf nicht gegen die Steine schlägt.

Je weiter wir hinunterkommen, desto besser wird die Erde. Wir wirbeln Staub auf, als wären wir eine kleine Maultierherde, die da runterkommt; aber uns gefällt es, staubig zu werden. Es gefällt uns. Nachdem wir elf Stunden lang den harten Llano unter den Füßen hatten, fühlen wir uns nun sehr wohl, eingehüllt in dieses Zeugs, das um uns herumfliegt und nach Erde schmeckt.

Über den Fluss, über die grünen Kronen der Kasuarinen fliegen Schwärme von grünen Tschatschalakas. Auch das gefällt uns.

Jetzt ist das Bellen der Hunde zu hören, hier, gleich neben uns, und das ist so, weil der Wind, der vom Dorf kommt, an die Uferböschung schlägt und sie mit all seinen Geräuschen füllt.

Esteban hat wieder sein Huhn unter dem Arm, als wir die ersten Häuser erreichen. Er bindet ihm die Beine los, damit es sie strecken kann, und dann verschwinden er und sein Huhn hinter einem der Mesquitebäume.

»Ich lass mich hier nieder!«, sagt uns Esteban.

Wir gehen weiter, weiter ins Dorf hinein.

Das Land, das sie uns gegeben haben, liegt dort oben.

Die Cuesta de las Comadres

Die verstorbenen Torricos waren mir immer gute Freunde. Vielleicht wurden sie in Zapotlán nicht gemocht, aber was mich angeht, waren sie immer gute Freunde, noch bis kurz vor ihrem Tod. Dass sie in Zapotlán nicht gemocht wurden, hat nicht viel zu sagen, denn auch mich mochte man dort nicht, und meines Wissens war keiner von uns, die wir auf der Cuesta de las Comadres lebten, in Zapotlán gern gesehen. Das war schon immer so.

Andererseits vertrugen sich die Torricos auf der Cuesta de las Comadres auch nicht mit allen. Es kam oft zu Zwistigkeiten. Dazu muss gesagt werden, sie besaßen dort den Grund und Boden und die Häuser, die drauf standen, mit allem Drum und Herum, dabei war bei der Landverteilung der größte Teil der Cuesta de las Comadres uns sechzig, die wir dort lebten, zu gleichen Teilen zugesprochen worden, und ihnen, den Torricos, nur ein Stück Bergland, mit Agaven bewachsen, nichts mehr, aber fast alle Häuser lagen darauf verstreut. Dennoch gehörte die Cuesta de las Comadres den Torricos. Das Feld, das ich bearbeitete, gehörte ebenfalls den Torricos, Odilón und Remigio Torrico, und das gute Dutzend grüner Hügel, die man dort unten sah, gehörte ihnen gemeinsam. Es gab da nichts nachzuforschen. Alle Welt wusste, dass es so war.

Allerdings hatte sich die Cuesta de las Comadres von damals bis heute allmählich entvölkert. Von Zeit zu Zeit ging jemand fort; er überquerte das Viehgatter am hohen Pfahl, verschwand zwischen den Steineichen und tauchte dann nie wieder auf. Sie gingen fort, das war alles.

Und auch ich hätte nicht übel Lust gehabt, mal nachzusehen, was es da weit hinter dem Berg gab, das keinen zurückkommen ließ; aber mir gefiel mein kleiner Grund auf der Cuesta, und außerdem war ich ein guter Freund der Torricos.

Der Acker, auf dem ich jedes Jahr wegen der Kolben ein wenig Mais aussäte, dazu ein wenig Bohnen, lag weiter oben, dort wo der Hang zu dieser Schlucht abfällt, bei der sogenannten Cabeza del Toro.

Es war kein schlechter Platz; aber sobald die Regenzeit einsetzte, wurde die Erde klebrig, und danach lagen harte, scharfe Steine dort verstreut, wie Stümpfe, die mit der Zeit zu wachsen schienen. Dennoch gedieh der Mais gut, und die Kolben, die er dort ansetzte, waren sehr süß. Die Torricos, die auf alles, was sie aßen, Tequesquite-Salz taten, brauchten es für meine Maiskolben nicht; nie haben sie versucht, oder auch nur davon gesprochen, Tequesquite auf meine Maiskolben zu streuen, die von der Cabeza del Toro kommen.

Wie auch immer, dies und das, und weil die grünen Hügel da unten besser waren, gingen unserem Flecken die Leute aus. Sie verschwanden nicht Richtung Zapotlán, sondern in diese andere Richtung, aus der so oft der Wind weht, erfüllt vom Duft der Steineichen und den Geräuschen des Bergwalds. Sie gingen schweigend fort, sagten nichts, legten sich mit keinem an. Sicherlich hätten sie sich nur zu gerne mit den Torricos angelegt, um sich für all das Übel schadlos zu halten, das die ihnen zugefügt hatten; aber es fehlte ihnen der Mumm.

Das wird es gewesen sein.

Jedenfalls ist auch nach dem Tod der Torricos niemand hierher zurückgekommen. Ich wartete. Aber keiner kehrte zurück. Erst habe ich mich noch um ihre Häuser gekümmert; ich habe die Dächer ausgebessert und die Löcher in den Wänden mit Ästen geflickt; als ich aber sah, dass die Rückkehrer auf sich warten ließen, gab ich es auf. Die Einzigen, die sich nie verspäteten, waren die Platzregen zur Jahresmitte und diese Stürme im Februar, die einem immer wieder die Decke wegwehen. Hin und wieder kamen auch die Raben, flogen sehr tief und krächzten laut, als glaubten sie, an einem unbewohnten Ort zu sein.

Und so ging es weiter, auch nachdem die Torricos schon tot waren.

Von hier aus, wo ich jetzt sitze, war früher Zapotlán ganz deutlich zu sehen. Zu jeder Stunde, tags oder nachts, sah man in der Ferne dieses weiße Fleckchen Zapotlán. Aber jetzt sind die Larreas so dicht gewachsen und lassen rein gar nichts sehen, selbst wenn der Wind sie hin und her bewegt.

Ich erinnere mich an früher, als auch die Torricos herkamen und hier stundenlang hockten, bis es dunkel wurde, und nicht müde wurden, nach dort zu schauen, als ob dieser Ort sie auf Gedanken bringe oder die Lust wecke, mal wieder durch Zapotlán zu spazieren. Erst später erfuhr ich, dass sie nicht daran dachten. Sie wollten nur den Weg sehen: diese breite, sandige Straße, die man mit dem Blick von ihrem Anfang bis dahin verfolgen konnte, wo sie sich am Hügel der Media Luna zwischen den Okotefichten verlor.

Ich habe nie jemanden gekannt, dessen Sicht so weit reichte wie die von Remigio Torrico. Er war einäugig. Aber das schwarze, halbgeschlossene Auge, das ihm geblieben war, schien die Dinge so nahe zu rücken, dass er sie fast in Reichweite hatte. Daher wusste er genau, was für Gestalten sich da auf der Straße bewegten. Wenn also sein Auge zufriedengestellt war, weil er den Blick auf jemanden heften konnte, standen die beiden von ihrem Ausguck auf und verschwanden für einige Zeit von der Cuesta de las Comadres.

Das waren die Tage, in denen hier bei uns alles anders war. Die Leute holten ihre Tiere aus den Berghöhlen, brachten sie in ihren Pferch und banden sie fest. So erfuhr man, dass es einjährige Schafe und Truthähne gab. Und es war gut zu sehen, wie viel Mais und gelbe Kalebassen morgens in den Höfen in der Sonne lagen. Der Wind, der über die Berge kam, war kälter als sonst; aber, wer weiß warum, alle sagten, das Wetter sei prächtig. Und im Morgengrauen hörte man, wie in jedem ruhigen Ort, die Hähne krähen, und das wirkte so, als habe auf der Cuesta de las Comadres immer Frieden geherrscht.

Dann kamen die Torricos zurück. Ihr Kommen kündigten sie bereits vor ihrer Ankunft an, denn ihre Hunde rannten plötzlich los und hörten nicht auf zu bellen, bis sie sie gefunden hatten. Und allein von dem Gebell her schätzten alle die Entfernung ein und aus welcher Richtung sie kommen würden. Nun hatten die Leute es eilig, ihre Sachen wieder zu verstecken.

Denn jedes Mal, wenn die verstorbenen Torricos zur Cuesta de las Comadres zurückkehrten, verbreiteten sie große Angst.

Aber ich hab nie Angst vor ihnen gehabt. Ich war gut Freund mit beiden und wünschte mir manchmal, nicht ganz so alt zu sein, um bei ihren Unternehmungen mitmischen zu können. Doch ich taugte nicht mehr allzu viel. Das merkte ich in jener Nacht, als ich ihnen half, einen Maultiertreiber auszurauben. Da merkte ich, dass mir etwas fehlte. Als wäre mein Leben schon zu vernutzt für Zerreißproben. Das habe ich gemerkt.

Es war um die Mitte der Regenzeit, als die Torricos mich aufforderten, ihnen zur Hand zu gehen und etliche Sack Zucker zu holen. Ich war etwas erschrocken. Erstens, weil ein derartiges Unwetter niederging, dass einem das Wasser die Füße unterspülte. Und dann, weil ich nicht wusste, wo es hingehen sollte. Wie auch immer, damals sah ich das als Zeichen, dass ich nicht mehr für solche Abenteuer geschaffen war.

Die Torricos sagten mir, der Ort, zu dem wir sollten, sei nicht weit. »In etwa einer Viertelstunde sind wir da«, sagten sie. Als wir aber auf den Weg zur Media Luna bogen, wurde es dunkel, und als wir bei dem Maultiertreiber ankamen, war es schon tiefe Nacht.

Der Mann stand nicht auf, um nachzuschauen, wer da kam. Er hatte wohl auf die Torricos gewartet und wunderte sich nicht, uns kommen zu sehen. Das dachte ich. Doch die ganze Zeit über, in der wir die Säcke von hier nach da schleppten, bewegte er sich nicht, blieb im Gras versteckt liegen. Da sagte ich etwas zu den Torricos. Ich sagte:

»Der Kerl, der da liegt, scheint tot zu sein oder so was in der Art.«

»Nein, der schläft nur«, sagten sie mir. »Wir haben ihn als Wache dagelassen, aber er ist wohl vom Warten müde geworden und eingeschlafen.«

Ich ging hin und gab ihm einen Tritt in die Rippen, um ihn aufzuwecken; aber der Mann blieb genauso steif liegen.

»Der ist tot«, sagte ich.

»Nein, glaub das nicht, der ist nur etwas benommen, weil Odilón ihm eine Holzlatte auf den Kopf geschlagen hat, aber der steht dann wieder auf. Wirst schon sehen, sobald die Sonne rauskommt und er die schöne Wärme spürt, springt er auf und geht schnurstracks nach Hause. Jetzt nimm den Sack dort, und los geht’s«, das war alles, was sie mir sagten.

Ganz zum Schluss gab ich dem Toten noch einen letzten Tritt, und das klang so, als hätte ich gegen einen trockenen Stamm getreten. Dann habe ich die Last geschultert und mich auf den Weg gemacht. Die Torricos folgten mir. Ich hörte sie eine ganze Weile singen, bis der Morgen dämmerte. Als es dämmerte, hörte ich sie nicht mehr. Der Wind, der kurz vor Morgengrauen so stark weht, trug ihre lauten Lieder fort, und ich wusste nicht, ob sie mir folgten, bis ich von allen Seiten das hetzende Bellen ihrer Hunde hörte.

So erfuhr ich, was die Torricos jeden Nachmittag ausspähten, wenn sie vor meinem Haus an der Cuesta de las Comadres saßen.

Den Remigio Torrico habe ich getötet.

Damals gab es nur noch wenige Menschen auf den Höfen. Zuerst waren immer nur Einzelne fortgegangen, aber zuletzt verschwanden sie rudelweise. Sie nahmen die ersten Frostnächte zum Anlass und machten sich auf und davon. In den vergangenen Jahren hatte der Frost in einer einzigen Nacht die Aussaat vernichtet. Und so war es auch dieses Jahr. Deshalb gingen sie fort. Bestimmt dachten sie, im nächsten Jahr würde es genauso kommen, und hatten wohl keine Lust, alle Jahre wieder die Not mit dem Wetter zu ertragen und die ganze Zeit über die Not mit den Torricos.

So war, als ich Remigio Torrico tötete, die Cuesta de las Comadres mitsamt den umliegenden Hügeln schon fast menschenleer.

Es geschah um den Oktober herum. Ich erinnere mich, damals war der Mond sehr groß und sehr hell, denn ich hatte mich vor mein Haus gesetzt, um das gute Licht des Mondes auszunutzen und einen zerlöcherten Sack zu flicken, als der Torrico auftauchte.

Er muss wohl besoffen gewesen sein. Als er sich vor mir aufpflanzte, schwankte er jedenfalls, sodass er das Mondlicht, das ich brauchte, mal verdeckte, mal wieder freigab.

»Es ist nicht gut, krumme Sachen zu machen«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Ich mag die Dinge gerade, und wenn du das nicht magst, dann sieh zu, wie du damit zurechtkommst, denn ich bin hier, um sie geradezubiegen.«

Ich flickte weiter meinen Sack. Ich hatte meine Augen ganz auf das Stopfen der Löcher gerichtet, die Sacknadel kam gut voran, wenn sie vom Mondlicht beleuchtet wurde. Wahrscheinlich dachte er deshalb, dass ich das, was er sagte, nicht ernst nahm.

»Mit dir rede ich«, schrie er mich an, jetzt schon wütend geworden. »Du weißt genau, weshalb ich gekommen bin.«

Ich bekam ein wenig Angst, als er mir so nah kam und mich anbrüllte. Trotzdem bemühte ich mich, ihm ins Gesicht zu sehen, um abzuschätzen, wie groß seine Wut war, und ich sah ihn weiter an, wie um zu fragen, weshalb er gekommen sei.

Das half. Bereits ruhiger, brachte er heraus, Leute wie mich müsse man überrumpeln.

»Mein Mund wird trocken, wenn ich, nach dem, was du getan hast, mit dir spreche«, sagte er zu mir; »aber mein Bruder war mir ebenso nah wie du, und nur deshalb bin ich hergekommen, ich will mal sehen, wie du das mit Odilóns Tod klarstellst.«

Nun hörte ich ihm gut zu. Ich legte den Sack beiseite, hörte ihn an und tat nichts anderes.

Mir wurde klar, dass er mich beschuldigte, seinen Bruder getötet zu haben. Aber ich war das nicht gewesen. Ich wusste, wer es gewesen war, und hätte es ihm auch gesagt, aber es sah nicht so aus, als ob er mich zu Wort kommen lassen würde, damit ich erzählen konnte, wie die Dinge sich verhielten.

»Zwischen Odilón und mir gab es oft Streit«, fuhr er fort. »Er war etwas schwer von Begriff, und er legte sich gerne mit allen an, aber das war’s dann auch. Nach ein paar Schlägen beruhigte er sich wieder. Und deshalb will ich wissen, ob er irgendwas zu dir gesagt hat, ob er dir etwas wegnehmen wollte oder was sonst passiert ist. Es kann ja sein, dass er dich schlagen wollte und du ihm zuvorgekommen bist. Irgend so was muss vorgefallen sein.«

Ich schüttelte den Kopf, das sollte Nein heißen, ich hatte nichts damit zu tun …

»Hör mal«, herrschte mich der Torrico an, »Odilón hatte an dem Tag vierzehn Pesos in der Hemdtasche. Als ich ihn aufsammelte, habe ich ihn durchsucht und die vierzehn Pesos nicht gefunden. Gestern erfuhr ich dann, dass du dir eine Decke gekauft hast.«

Und das stimmte. Ich hatte mir eine Decke gekauft. Als ich merkte, dass die Kälte im Anmarsch war und mein Umhang schon ganz zerschlissen, hatte ich mich nach Zapotlán aufgemacht, um eine Decke zu besorgen. Dafür hatte ich aber meine zwei Böckchen verkaufen müssen, es waren also nicht die vierzehn Pesos von Odilón, mit denen ich die Decke erstanden hatte. Remigio konnte das selbst sehen, denn der Sack war nur deshalb voller Löcher, weil ich das kleinere Ziegenböckchen, das noch nicht so laufen konnte, wie es sollte, darin hatte tragen müssen.

»Merk dir ein für alle Mal, dass ich mich für das, was man Odilón angetan hat, rächen werde, wer auch immer ihn getötet hat. Und ich weiß, wer es war«, hörte ich ihn ganz dicht über meinem Kopf.

»Ich soll’s also gewesen sein?«, fragte ich ihn.

»Wer sonst? Odilón und ich waren Halunken, alles, was du willst, und ich behaupte auch nicht, dass wir nie jemanden umgebracht haben; aber niemals für so wenig. Das muss dir klar sein.«

Der große Oktobermond fiel voll auf den Hof und warf Remigios langen Schatten an die Hausmauer. Ich sah, dass er sich auf einen Weißdorn zubewegte und nach der kurzen Machete griff, die ich immer dort ablegte. Dann sah ich, wie er mit der Machete in der Hand zurückkam.

Als er sich aber von mir wegbewegte, ließ das Mondlicht die Nadel aufglänzen, die ich in den Sack gespießt hatte. Und plötzlich, wer weiß warum, bekam ich ein großes Vertrauen zu dieser Nadel. Als Remigio dann neben mir war, zog ich die Nadel heraus und stieß sie ihm, ohne groß zu warten, nah am Nabel in den Bauch. Ich stieß sie so weit hinein, wie es ging. Und ließ sie da stecken.

Langsam, langsam krümmte er sich, wie bei einer Kolik, er verkrampfte sich, bis nach und nach seine Knie nachgaben und er auf den Boden zu sitzen kam, starr vor Schreck, und Angst aus seinem Auge sprach.

Einen Augenblick lang schien es, als würde er sich aufrichten, um mir einen Hieb mit der Machete zu versetzen; aber das wollte er dann wohl doch nicht, oder er wusste nicht mehr, was tun, er ließ jedenfalls die Machete fallen und krümmte sich wieder. Nur das.

Dann sah ich, wie sein Blick traurig wurde, als fühle er sich plötzlich krank. Seit langem war ich nicht einem so traurigen Blick begegnet, und da überkam mich Mitleid. Also zog ich ihm die Sacknadel aus dem Nabel und stieß sie ihm weiter oben hinein, da, wo ich sein Herz vermutete. Und ja, dort war es auch, denn er zuckte nur noch zwei oder drei Mal wie ein geköpftes Huhn und blieb dann still liegen.

Er muss schon tot gewesen sein, als ich zu ihm sagte:

»Schau mal, Remigio, du musst schon entschuldigen, aber ich habe Odilón nicht getötet. Das waren die Alcaraces. Ich trieb mich da herum, als er starb, aber ich weiß noch genau, dass nicht ich ihn getötet habe. Sie waren es, die ganze Familie Alcaraz. Sie haben sich auf ihn gestürzt, und als ich merkte, was los war, lag Odilón schon im Sterben. Und weißt du, warum? Zunächst mal hätte Odilón nicht nach Zapotlán gehen sollen. Das weißt du. Früher oder später musste ihm an dem Ort etwas zustoßen, wo es so viele gab, die ihn nicht in guter Erinnerung hatten. Und die Alcaraces konnten ihn auch nicht leiden. Warum also hat er sich mit ihnen angelegt? Das kann ich nicht wissen, und du kannst es auch nicht wissen.«

»Es kam ganz plötzlich. Ich hatte gerade meine Decke gekauft und war schon auf dem Rückweg, als dein Bruder einem der Alcaraces einen Schluck Mezcal ins Gesicht spuckte. Für ihn war es ein Spaß. Man sah, dass er es zum Jux gemacht hatte, er brachte auch alle zum Lachen. Aber sie waren allesamt betrunken. Odilón und die Alcaraces und alle anderen auch. Und plötzlich fielen sie ihn an, zogen ihre Messer, warfen sich auf ihn und vermöbelten ihn, bis von Odilón nichts Brauchbares mehr übrig blieb. Dabei ist er gestorben.«

»Du siehst, nicht ich habe ihn getötet. Ich möchte, dass dir das ganz klar ist: Ich hab mich da überhaupt nicht reingemischt.«

Das sagte ich zu dem toten Remigio.

Der Mond war schon hinter die Steineichen gesunken, als ich mit dem leeren Erntekorb zur Cuesta de las Comadres zurückkam. Bevor ich den Korb wieder verwahrte, tauchte ich ihn ein paar Mal in den Bach, um das Blut abzuspülen. Ich brauchte den Korb oft und hatte keine Lust, ständig Remigios Blut sehen zu müssen.

Ich erinnere mich, dass dies im Oktober geschah, zur Zeit der Fiestas in Zapotlán. Und das sage ich, weil ich noch weiß, dass sie in Zapotlán Raketen zündeten und dass in der Gegend, wo ich Remigio abgeladen hatte, bei jedem Raketendonner ein großer Schwarm Aasgeier aufflog.

Daran erinnere ich mich.

Wir sind eben sehr arm

Hier wird alles immer nur schlimmer. Letzte Woche ist meine Tante Jacinta gestorben, und am Samstag, als wir sie bereits begraben hatten und unsere Trauer im Schwinden war, begann es zu regnen wie nie zuvor. Mein Vater wurde sehr zornig, denn die ganze geerntete Gerste lag gerade zum Sonnen auf dem Hof. Und der Wolkenbruch kam plötzlich, in mächtigen Wogen, so dass wir keine Zeit hatten, auch nur ein Bündel zu retten, alles, was uns, der ganzen Familie, blieb, war, dichtgedrängt unter dem Vordach dabei zuzusehen, wie das kalte Wasser vom Himmel die eben erst geschnittene gelbe Gerste verdarb.

Und gerade gestern, als meine Schwester Tacha zwölf wurde, erfuhren wir, dass die Kuh, die mein Vater ihr zum Namenstag geschenkt hatte, vom Fluss mitgerissen worden war.

Vor drei Nächten begann der Fluss zu steigen, das war im Morgengrauen. Ich habe fest geschlafen, und dennoch ließ mich das Tosen, mit dem sich der Fluss heranwälzte, gleich aus dem Bett springen, die Decke in der Hand, da ich glaubte, das Dach des Hauses stürze ein. Aber dann bin ich wieder eingeschlafen, weil ich das Geräusch des Flusses erkannte und dieses Geräusch gleichmäßig wurde und mir den Schlaf wiederbrachte.

Als ich aufstand, war der Morgen voll dunkler Wolken, und es sah so aus, als hätte es pausenlos weitergeregnet. Dafür sprach, dass das Rauschen des Flusses stärker und aus größerer Nähe zu hören war. Man roch, wie man einen Brand riecht, den fauligen Geruch des aufgewühlten Wassers.

Als ich später hinausschaute, war der Fluss schon über die Ufer getreten. Er stieg nach und nach die Hauptstraße hoch und drang eilig in das Haus jener Frau ein, die man La Tambora — die Pauke — nennt. Man hörte das Gurgeln des Wassers, das in den Stall floss und dann im großen Schwall durch die Tür herausströmte. Die Tambora kam und ging durch den Hof, der nun schon Teil des Flusses war, und trug die Hühner raus auf die Straße, damit sie irgendwohin flüchten konnten, wo die Strömung sie nicht erreichte.

Und auf der anderen Seite, da wo die Biegung ist, musste der Fluss, wer weiß wann, die Tamarinde fortgerissen haben, die auf dem Grund meiner Tante Jacinta stand, denn jetzt ist keine Tamarinde mehr zu sehen. Es war die einzige im Dorf gewesen, und schon daran merken die Leute, dass die Überschwemmung, die wir jetzt erleben, die allerschlimmste ist, die uns der Fluss in vielen Jahren beschert hat.

Meine Schwester und ich sind nachmittags noch einmal dorthin gegangen, um diese Wassermassen zu sehen, die immer dickflüssiger und dunkler werden und schon längst die Brücke verschluckt haben. Dort standen wir Stunde um Stunde, nicht müde, dieses Ereignis zu betrachten. Später sind wir die Böschung hochgestiegen, weil wir genau hören wollten, was die Leute sagten, denn unten beim Fluss ist ein großes Gelärm, und man sieht nur viele Münder, die sich öffnen und schließen, als wollten sie etwas sagen, aber man hört nichts. Deshalb sind wir die Böschung hochgeklettert, auch da stehen Leute, die auf den Fluss schauen und von den Schäden erzählen, die er angerichtet hat. Dort erfuhren wir, dass der Fluss die Serpentina mitgerissen hatte, die Kuh, die meiner Schwester Tacha gehörte, weil mein Vater sie ihr zum Namenstag geschenkt hatte, und die ein weißes und ein rotes Ohr hatte und sehr hübsche Augen.

Ich kann mir einfach nicht erklären, wie es der Serpentina einfallen konnte, diesen Fluss zu durchqueren, da sie doch sah, dass es nicht derselbe Fluss war, der ihr vom Alltag her vertraut war. Die Serpentina war nie so unvernünftig gewesen. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie schlafend unterwegs war, wenn sie sich für nichts und wieder nichts töten ließ. Ich musste sie häufig aufwecken, wenn ich ihr die Stalltür öffnete, denn wäre es nach ihr gegangen, wär sie den ganzen Tag dort geblieben, mit geschlossenen Augen, ganz ruhig und seufzend, so wie man die Kühe seufzen hört, wenn sie schlafen.

Und das muss hier passiert sein, dass sie eingeschlafen ist. Vielleicht ist sie aufgewacht, als sie spürte, wie das Wasser schwer gegen ihre Rippen schlug. Vielleicht bekam sie es da mit der Angst zu tun und versuchte, zurückzukehren; aber als sie sich umdrehte, verhakte sie sich und erstarrte in diesem Wasser, das so schwarz und hart ist wie dahinströmende Erde. Vielleicht brüllte sie um Hilfe.

Nur Gott weiß, wie sie da gebrüllt hat.

Ich fragte einen Mann, der gesehen hatte, wie der Fluss sie fortriss, ob er nicht auch das Kälbchen gesehen habe, das bei ihr war. Doch der Mann konnte sich nicht daran erinnern. Er sagte nur, dass die gefleckte Kuh mit den Beinen nach oben sehr nah an ihm vorbeigetrieben war und sich dann überschlug und dass er danach weder Hörner noch Beine noch sonst irgendwas von einer Kuh gesehen hatte. In dem Fluss schwammen viele Baumstämme, mit Wurzeln und allem Drum und Dran, und er war sehr damit beschäftigt gewesen, Brennholz herauszufischen, so dass er nicht darauf achten konnte, ob es Tiere oder Stämme waren, die vorbeitrieben.

Schon deshalb wissen wir nicht, ob das Kalb lebt oder ob es mit der Mutter flussabwärts verschwunden ist. Wenn es so war, möge Gott die beiden beschützen.

Zu Hause treibt uns die Sorge um, was in Zukunft passiert, jetzt wo meiner Schwester Tacha nichts geblieben ist. Denn mein Vater hat die Serpentina, damals noch eine Färse, unter großen Opfern angeschafft, um sie meiner Schwester zu geben, sie sollte ein kleines Kapital haben und kein Flittchen werden wie meine anderen beiden Schwestern, die älteren.

Nach der Meinung von meinem Vater sind diese auf die schiefe Bahn geraten, weil wir zu Hause sehr arm und sie sehr eigensinnig waren. Schon als kleine Mädchen muckten sie auf. Und sobald sie größer waren, ließen sie sich mit Männern von der übelsten Sorte ein, die ihnen schlechte Dinge beibrachten. Sie lernten schnell und verstanden sofort die Pfiffe, mit denen sie mitten in der Nacht gerufen wurden. Später machten sie sich sogar am Tag davon. Ständig gingen sie zum Wasserholen an den Fluss und manchmal, wenn keiner darauf gefasst war, lagen sie hier im Hof, wälzten sich splitternackt am Boden, jede mit einem Mann obendrauf.

Dann hat mein Vater sie rausgeworfen. Zunächst hat er alles ertragen, bis er nicht mehr konnte; und als er es nicht mehr ertragen konnte, setzte er sie auf die Straße. Sie sind nach Ayutla oder wer weiß wohin. Aber als Flittchen.

Deshalb quält sich mein Vater so sehr, jetzt um die Tacha, die soll nicht wie ihre zwei Schwestern werden, wenn ihr klar wird, dass sie nun sehr arm ist, weil ihr die Kuh fehlt, weil sie nichts hat, mit dem sie sich die Zeit vertreiben kann, solange sie heranwächst, bis sie so weit ist, einen anständigen Mann zu heiraten, der sie für immer mag. Und das wird jetzt schwierig. Mit der Kuh war es anders, da hätte sich schon einer gefunden, der sie geheiratet hätte, allein schon um obendrein diese hübsche Kuh zu bekommen.

Als einzige Hoffnung bleibt uns, dass das Kalb noch lebt. Hoffentlich ist es ihm nicht eingefallen, den Fluss hinter seiner Mutter zu durchqueren. Denn falls das so wäre, fehlt nicht mehr viel, bis meine Schwester Tacha ein Flittchen wird. Und Mama will das nicht.

Meine Mutter weiß nicht, warum Gott sie mit zwei solchen Töchtern gestraft hat, wo es doch in ihrer Familie, von ihrer Großmutter bis heute, nie schlechte Menschen gegeben hat. Alle wurden in Gottesfurcht erzogen, waren gehorsam und benahmen sich gegen keinen ungehörig. Alle waren von dieser Art. Wer war das schlechte Vorbild für ihre beiden Töchter? Sie kommt nicht drauf. Sie geht all ihre Erinnerungen durch und kommt nicht drauf, wo ihre Schuld oder Sünde gelegen haben mag, dass ihr eine Tochter nach der anderen mit denselben schlechten Anlagen geboren wurde. Und jedes Mal, wenn sie an die Töchter denkt, weint sie und sagt: »Gott möge die beiden beschützen.«

Aber mein Vater meint, dass da nichts mehr zu machen ist. Gefahr droht bei der, die noch da ist, Tacha, die wie eine Okotefichte wächst und wächst und bei der schon die Brüste zu ahnen sind, die versprechen, wie die ihrer Schwestern zu werden: spitz und hoch und etwas zappelig, um die Aufmerksamkeit zu erregen.

»Ja«, sagt er, »wo immer sie sich zeigt, wird sie allen ins Auge fallen. Und sie wird ein böses Ende nehmen; ich sehe schon, wie sie ein böses Ende nimmt.«

Das quält meinen Vater.

Und Tacha weint, als sie hört, dass ihre Kuh nicht zurückkommt, weil der Fluss sie verschlungen hat. Sie steht hier neben mir, in ihrem rosa Kleid, schaut von der Böschung auf den Fluss hinunter und hört nicht auf zu weinen. Über ihr Gesicht fließen Rinnsale schmutzigen Wassers, als sei der Fluss in sie eingedrungen.

Ich umarme sie, versuche, sie zu trösten, aber sie will nicht begreifen. Sie weint noch heftiger. Aus ihrem Mund kommt ein Geräusch, ähnlich dem, das sich am Flussufer entlangwälzt, und sie erzittert davon, es schüttelt sie ordentlich und das Wasser steigt weiter. Der faulige Geschmack, der von dort unten aufsteigt, erreicht Tachas nasses Gesicht, und ihre Brüstchen springen auf und ab, in einem fort, als fingen sie gerade an zu schwellen und für ihr Verderben zu sorgen.

Der Mann

Die Füße des Mannes drückten sich in den Sand und hinterließen eine formlose Spur, wie von den Hufen eines Tieres. Sie kletterten über die Steine, krümmten sich, als sie die Steigung spürten, dann wanderten sie hoch, den Horizont suchend.

»Plattfüße«, sagte der, der ihm folgte. »Und ein Zeh zu wenig. Ihm fehlt der große Zeh am linken Fuß. Kerle mit diesem Kennzeichen gibt es nicht viele. Es wird also leicht sein.«

Der Pfad stieg an zwischen dornigem Gewächs und wilden Kräutern und erinnerte an eine Ameisenstraße, so schmal war er. Er stieg geradewegs bis zum Himmel. Dort verlor er sich und tauchte in der Ferne wieder auf, unter einem ferneren Himmel.

Die Füße folgten dem Pfad, ohne von ihm abzukommen. Der Mann stützte sich beim Gehen auf seine schwieligen Fersen, schabte mit den Fußnägeln an den Steinen, kratzte sich die Arme auf und hielt bei jedem neuen Horizont an, um sein Ende abzuschätzen. »Nicht meins, sondern das seine«, sagte er. Und wandte den Kopf, um zu sehen, wer gesprochen hatte.

Kein bisschen Wind, nur das Echo der eigenen Tritte auf den brechenden Ästen. Ermattet davon, sich voranzutasten, seine Schritte bemessen zu müssen, sogar den Atem anzuhalten, sagte er wieder: »Ich tu, was ich tun muss.« Und wusste, er selbst war es, der da sprach.

»Hier ist er hochgegangen, hat sich durch das Gestrüpp gekämpft«, sagte der, der ihn verfolgte. »Die Zweige hat er mit einer Machete abgeschlagen. Man erkennt, dass ihn die Angst trieb. Und die Angst hinterlässt immer Spuren. Das ist sein Verderben.«

Er verlor allmählich den Mut, als die Stunden sich dehnten und hinter dem einen Horizont sich immer ein anderer auftat und der Berg, den er hochstieg, kein Ende nahm. Er zog die Machete und schlug die Äste, hart wie Wurzelholz, ab und kappte das Unkraut an der Wurzel. Er kaute an einem zähen Qualster und spuckte ihn wütend aus. Er saugte an seinen Zähnen und spuckte erneut. Der Himmel lag ruhig da oben, still, schimmerte durch seine Wolken und die Silhouetten der blattlosen Weißkopfmimosen. Es war nicht die Zeit für Blätter, vielmehr die trockene, karge Zeit der Dornen und dürren, wilden Ähren. Er schlug wie getrieben mit der Machete auf das Gestrüpp ein: »Davon wird sie nur schartig, lass die Dinge lieber in Ruhe.«

Er hörte dort hinten seine eigene Stimme.

»Seine Wut hat ihn verraten«, sagte der Verfolger. »Er hat gesagt, wer er ist, jetzt muss man nur noch wissen, wo er ist. Ich werde dort hinaufgehen, wo er hinaufgegangen ist, später werde ich dort hinabgehen, wo er hinabgegangen ist, ich spüre ihm nach, bis ich ihn müde gemacht habe. Und wo ich anhalte, da wird er sein. Er wird auf die Knie fallen und mich um Vergebung bitten. Und ich werde ihm eine Kugel ins Genick jagen … Das geschieht, wenn ich dich gefunden habe.«

Er kam ans Ende. Nichts als der Himmel, aschfarben, wie angekohlt vom Gewölk der Nacht. Die Erde fiel auf der anderen Seite ab. Er schaute auf das Haus vor ihm, aus dem der letzte Rauch der Glutasche stieg. Er grub sich in die weiche, gerade erst aufgewühlte Erde. Versehentlich stieß er mit dem Griff der Machete gegen die Tür. Ein Hund kam und leckte ihm die Knie, ein anderer rannte um ihn herum und wedelte mit dem Schwanz. Dann drückte er die Tür auf, die nur nachts geschlossen war.

Der, der ihn verfolgte, sagte: »Er hat gute Arbeit geleistet. Hat sie nicht einmal aufgeweckt. Er wird gegen eins angekommen sein, wenn der Schlaf am tiefsten ist; wenn die Träume beginnen. Nach dem ›Ruhet in Frieden‹, wenn das Leben sich in die Hände der Nacht gleiten lässt und wenn die Müdigkeit des Körpers an den Saiten des Misstrauens kratzt und sie durchtrennt.«

»Ich hätte nicht alle töten sollen«, sagte der Mann. »Zumindest nicht alle.« Das hat er gesagt.

Die Morgendämmerung war grau, von kalter Luft erfüllt. Er ging an der anderen Seite hinunter, rutschte über das Zacategras. Als die Hände von der Kälte gefühllos wurden, ließ er die Machete, die er noch umklammert hielt, fallen. Er ließ sie dort liegen. Sah sie wie ein lebloses Stück Schlange zwischen den vertrockneten Ähren glänzen.

Der Mann stieg, den Fluss suchend, hinab, öffnete eine neue Schneise im Gebüsch.

Sehr weit unten fließt der Fluss, sammelt sein Wasser zwischen blühenden Sadebäumen, wiegt seinen trägen Strom in Schweigen. Er bewegt sich voran und windet sich um sich selbst. Er kommt und geht, eine eingerollte Papierschlange auf dem grünen Land. Er macht kein Geräusch. Wir könnten neben ihm schlafen, und dann wäre unser Atem zu hören, nicht aber der des Flusses. Der Efeu klettert die hohen Sadebäume hinunter und taucht ins Wasser, faltet seine Hände zu einem Gewebe, das der Fluss zu keiner Zeit zerstört.

Der Mann erkannte den Lauf des Flusses an der gelben Farbe der Sadebäume. Er hörte ihn nicht. Er sah nur, wie er sich im Schatten wand. Er sah die Tschatschalakas kommen. Am Abend zuvor waren sie der Sonne gefolgt, in Schwärmen dem Licht hinterhergeflogen und verschwunden. Jetzt würde gleich die Sonne aufgehen, und sie kamen wieder.

Er bekreuzigte sich dreimal hintereinander. »Verzeiht mir«, sagte er zu ihnen. Und machte sich ans Werk. Als er zum dritten kam, rannen ihm die Tränen herunter. Oder vielleicht war es Schweiß. Töten ist mühsam. Die Haut ist zäh. Sie wehrt sich, auch wenn sie sich aufgegeben hat. Und die Machete war schartig: »Ihr müsst mir vergeben«, sagte er wieder zu ihnen.

»Er hat sich am Ufer in den Sand gesetzt«, das sagte der, der ihn verfolgte. »Er hat sich hier hingesetzt und sich eine ganze Weile nicht gerührt. Er wartete darauf, dass sich die Wolken verzogen. Doch die Sonne kam an diesem Tag nicht heraus, auch am nächsten nicht. Ich erinnere mich. Es war an dem Sonntag, als mir das Neugeborene starb und wir es begruben. Wir fühlten keine Trauer, mir ist nur im Gedächtnis, dass der Himmel grau war und die Blumen, die wir dabeihatten, verblichen und welk aussahen, als spürten sie das Fehlen der Sonne.