© 2020 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;
prverlag@hirnkost.de; http://www.hirnkost.de/
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Februar 2021
Die Erstausgabe erschien 1988 im Luchterhand Literaturverlag (Lektorat: Klaus Roehler).
Vertrieb für den Buchhandel:
Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de
Privatkunden und Mailorder:
https://shop.hirnkost.de/
Layout: www.benSwerk.com
Foto: Anja Tuckermann
ISBN:
PRINT: |
978-3-947380-90-9 |
PDF: |
978-3-947380-88-6 |
EPUB: |
978-3-947380-89-3 |
Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.
Unsere Bücher kann man auch abonnieren:
https://shop.hirnkost.de/
Mooskopf
Foto: Jörg Pfeifenbring
Anja Tuckermann, geboren 1961, Autorin von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Libretti, Bilderbüchern. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet und in 15 Sprachen übersetzt. Mooskopf war ihr Debütroman.
Im Hirnkost Verlag erschien von ihr zuletzt: Kristina Milz + Anja Tuckermann (Hrsg.): Todesursache: Flucht, 2019 und: Palmström, Korf und Kunkel, 2021.
Es regnet nicht, es ist nicht kalt, auch der Mond scheint nicht, kein Stern ist zu sehen. Nur die Laternen glimmen; von weither rauscht die Stadt. Rinka steht auf der Fahrbahn in der Mitte der Kreuzung. Ihr Magen zittert so, dass sie nicht weitergehen kann. Rechts und links von ihr, vor und hinter ihr führen vier kleine Straßen ins Dunkel. Im Garten an der Ecke schräg gegenüber lebt ein Boxer: Läuft jemand in Gedanken vertieft am Zaun vorbei, schleicht sich der Hund lautlos heran und beginnt plötzlich mörderisch zu bellen. Die Nichtsahnende springt zur Seite oder schreit auf vor Schreck. Da soll Rinka nun vorbei. Das ist der Weg, den sie gehen muss. Überall, hinter Häuserecken und Straßenbäumen, hört sie Schritte, sieht sie Schatten, die sich zu bewegen scheinen. Am liebsten würde sie, aufgelöst in Luft, aus dem Leben davonschweben.
Alles muss, wenn ich bleibe, anders werden. So gehts nicht weiter, murmelt sie vor sich hin und sieht sich dauernd um, als sei einer hinter ihr her.
So nicht, ich werde es schrittchenweise versuchen: kleine Schritte, nicht zu viele auf einmal.
Rinka könnte auch auf der anderen Straßenseite gehen, aber sie läuft zur Ecke, in die Straße hinein und am Gartenzaun entlang, mit hochgezogenen Schultern; kein Boxer bellt. Aber das ist klar, er bellt nur, wenn jemand ahnungslos ist. Sie kehrt um und geht noch einmal am Zaun entlang, gelassener diesmal, locker, wippend setzt sie einen Fuß vor den anderen, lässig fühlt sie sich und versucht, zwischen den Zähnen hindurch zu pfeifen.
Seht sie alle an, die hat keine Nebel im Kopf, der steht nichts und niemand mehr im Weg.
Der Boxer rührt sich nicht. Vielleicht liegt er im Haus und schläft.
Das Pfeifen vergeht Rinka sofort. Der Hund ist nicht im Garten, sie läuft immer wieder am Zaun entlang. Hin und zurück. Sie weiß es: Der Hund ist nicht im Garten. Wenn er jetzt doch kläffend an den Zaun geschossen käme, würde sie nicht viel mehr erschrecken als zuvor? Da war sie ja vorbereitet gewesen.
Lass deine Angst im Garten hinter dem Zaun.
Rinka geht auf das Haus zu, in dem sie wohnt. Das innere Frieren ist immer noch trübe und schmal in ihren Augen. Sie sieht sich nach allen Seiten um: kein Mensch, kein Hund. Nur dösiger Asphalt, ein schlafender U-Bahnhof und hellwache, einsame Ampeln. Schon ehe sie die Straße überquert, hält sie den Schlüsselbund mit Daumen, Ring- und kleinem Finger fest in der Hand. Er soll keinen Laut von sich geben, während sie den Hausschlüssel mit dem Zeigefinger ertastet. Niemand soll den Schlüssel klimpern hören und daraus schließen, dass sie hier in der Nähe wohnt. Tarnen muss sie sich, vortäuschen, sie habe noch mindestens zwanzig Minuten Fußweg. Da wird sich keiner die Mühe machen, sie so lange zu verfolgen. Sie wollen keinen Widerstand.
Rinka nimmt den Schlüssel erst aus der Tasche, als sie vor der Tür steht. Aber in dieser Nacht verschwindet Rinka nicht wie ein flüchtendes Tier im Hausflur. Sie dreht sich um. Kein Mensch zu sehen, auch wenn sie etwas hört, sobald sie wieder mit dem Rücken zur Welt vor der Tür steht. Sie übt. Umdrehen: niemand da. Vor der Tür stehen und sagen, es ist niemand da.
Aber dreh dich doch um, wenn du es trotzdem nicht glaubst.
Umdrehen, langsam. Niemand da. Sie will kein aufgescheuchtes Reh mehr sein, das stolpernd flieht. Rehe stolpern nicht. Rinka dreht sich so lange um und wieder um, bis sie mit dem Gesicht zur Tür stehen kann, ohne dass sich die Haut im Nacken spannt, Härchen sich aufstellen, Gänsehaut den Rücken durchfröstelt. Sie sieht die Tür an, auch wenn sie hinter sich Schritte zu hören glaubt.
Mit angehaltenem Atem geht sie spazieren, will bei jedem Windstoß im Gebüsch zur Seite springen, vermutet hinter jedem Baum Gefahr – bis sie sich so nicht mehr will. Von da an bleibt sie stehen, wenn es im Laub raschelt, bleibt stehen und hört mit angespannten Muskeln, zusammengebissenen Zähnen zu.
»Das ist ein Vogel«, sagt sie, und die Spannung kriecht ihr den Hals hinauf in den Kopf. Dann dreht sie sich zur Seite, sieht ins Gebüsch, und es ist ein Vogel.
Der Hauseingang ist der tote Punkt, die Falle, in die sie immer wieder, jeden Abend tappen muss, um in Sicherheit zu gelangen, eine Falle wie an dem Tag, als nachts ein Mann hinter ihr aus der U-Bahn stieg. Fünf Stationen lang hat er sie angestiert. Den ganzen Weg bis zur Straßenecke spürt sie ihn hinter sich, als sei nicht der Wind, sondern der Atem des Mannes in ihrem Nacken. Sie läuft schneller, schnurstracks auf das Haus zu, den Schlüssel gezückt. Kurz vor dem Haus überholt er sie und huscht vor ihr zur Tür. Ruhig bleibt er stehen, bewegungslos lächelt er ihr entgegen. Rinka steckt den Schlüssel wieder ein: Nein, ich wohne gar nicht hier, hau ab, du hast dich geirrt. Dann dreht sie sich um und geht in Richtung U-Bahn.
Nur nicht rennen; wenn er sieht, dass ich Angst habe, stürzt er sich gleich auf mich.
Sie geht die Straße zurück, dabei wäre sie lieber zusammengebrochen, liegen geblieben, tot oder fortgeschwebt und in ihrem Bett gelandet. Männer stehen in dunklen Hauseingängen, reißen Frauen die Kleider mit einem einzigen Handgriff vom Leib, schlagen ihnen den Kopf gegen die Hauswand. Er wird die ganze Nacht dort bleiben und auf mich warten. Rinka läuft auf die hell erleuchtete Telefonzelle an der Straßenecke zu, zieht die Tür auf und stellt sich ins Licht. Alle werden ihn sehen, wenn er sie niederreißt. Jemand wird ihr zu Hilfe kommen.
Während sie irgendeine Nummer wählt, nicht einmal zwanzig Pfennig kann sie einwerfen, erwartet sie das glatt rasierte Gesicht an der Scheibe, eine haarige Hand auf ihrer Schulter. Sie spricht in die schwarze Muschel:
»Ich muss die ganze Nacht hierbleiben. Im Stehen, an die Glasscheibe gelehnt, auf die Telefonbücher gekauert muss ich hierbleiben. Er sieht mich. Ich darf nicht einschlafen. Er steht im Dunkeln und sieht mich. Ich stehe im Licht und sehe gar nichts.«
Es tutet an ihr Ohr. Sie wartet mit dem Gesicht zum Apparat und wagt nicht, durch die Scheiben zu sehen.
Vielleicht denkt er, ich habe die Polizei gerufen. Vielleicht ist er deshalb schon weg.
Rinka hängt den Hörer ein und geht langsam hinaus. Es ist nur Dunkelheit zu sehen. Erst als sie den Schlüssel in der Eingangstür innen herumgedreht hat, kann sie wieder atmen.
Viel zu lange hat sie abends hastig die Tür aufgeschlossen, ist wie ein Luftzug ins Haus gehuscht. Wie Eiter aus einer Wunde will sie diese Hast aus sich herausdrücken. Alles muss anders werden, wenn sie sich das Weiterleben gestatten soll.
Einmal fängt ein Mann an, auf der Straße hinter ihr herzupfeifen. Allein dafür würde Rinka ihn gern schlagen. Sie streckt ihren Rücken, nimmt die Hände aus den Jackentaschen, hält die Arme vom Körper ab, als habe sie Rasierklingen unter den Achseln, ballt die Fäuste. Wie ein unüberwindlicher Berg soll sie von hinten aussehen.
Ich bin bereit, komm doch, sprich mich an, wirst schon sehen, was dich erwartet, fass mich nur an, und ich werde dich töten, dir den Hals umdrehen.
Und sie hofft, dass er nicht merkt, wie sie zittert am ganzen Leib.
Sie hat nicht die Straßenseite gewechselt, obwohl er hinter ihr bleibt. Rinka will sich nie wieder fürchten. Manchmal ist ihr, als wachse aus dem Druck auf der Brust immer neue, immer mehr Angst, ein Geschwür. Es soll sich nicht ausbreiten. Sie will diesen Teil von sich abstoßen.
Ein Mann grabscht sie an. Ehe er weitergehen kann, tritt Rinka zu. Schnell wie eine Sprungfeder trifft ihn ihr Fuß zwischen die Beine. Er läuft davon, sie weint. Weint, weil sie nicht so zugetreten hat, als sei ihr Fuß ein gewaltiger Hammer, weint, weil er nicht zusammengebrochen ist, weint, weil er sie so mühelos verletzen kann.
Nein, ihr Blut wird nicht mehr fließen. Nur wenn sie Blut riechen, greifen sie an.
Rinka will sich nicht ganz zu Tode ängstigen.
Rinka rennt. Ein Mann auf einem Motorrad verfolgt sie. Rennen. Rennen im Dunkeln. Wer hält dauernd den Scheinwerfer auf Rinka? Sie denkt, sie habe einen Strick um den Hals. Rennen. Vampire sind hinter ihr her. Sie schrecken vor Kreuzen und Knoblauch nicht zurück, sie sind immun, sie wollen Blut. Rinka ekelt sich. Der Gedanke an einen Penis verursacht Brechreiz. Sie möchte nicht mehr U-Bahn fahren, weil bei allen Männern diese Beule zwischen den Beinen zu sehen ist. Alle Männer haben eine Waffe in der Hose, und ihre Augen sind Messer, jeder Blick ein Schneiden in Rinkas Wunde. Die Hände sind Schlangen, unberechenbar. Wenn Rinka sie nicht im Auge behält, packen sie zu.
Nach der Arbeit fährt sie gleich nach Hause, sie hält sich nirgendwo auf. Manchmal liegt ein Zettel auf dem Küchentisch: »Irgendeine Frau hat angerufen, hab den Namen nicht verstanden, ruft wieder an. B.« Oder: »Ich koche heute Abend. B.« Oder: »Deine Mutter braucht ne Bescheinigung, dass du in der Ausbildung bist, für die Steuern. B.«
Rinka wohnt mit Barbara in einer Zweizimmerwohnung in einem Altbau. Barbara arbeitet halbtags als Zahntechnikerin, meistens liegt sie noch im Bett, wenn Rinka morgens aus dem Haus geht. Sie ist froh, dass Barbara sich ums Einkaufen kümmern kann. Rinka fürchtet, ihr Kopf werde platzen, wenn sie unter Menschen ist. Sie lebt wie auf einem Seil, wagt sich weder vor noch zurück, weiß nicht, wie sie auf das Seil gekommen ist, weiß nicht, wie sie wieder runterkommen kann. In ihrem Kopf bleibt alles dunkel.
Ein dünner Blonder sitzt in der Berufsschule hinter ihr. In seiner Gegenwart hat sie ein Kribbeln im Rücken. Einmal lädt er Rinka zu sich ein, sie sitzt auf der Bettkante wie ein Stein.
»Ich liebe dich«, sagt er.
Da sagt Rinka doch nicht Nein. Er liebt mich. Sie will ihm nicht wehtun. Er tut ihr weh, weil er hineinstößt in die Leere zwischen Rinka und ihrem Körper. Und seine Fingernägel sind schmutzig, die Bettwäsche ist zu weich, durchgelegen. Und auch er möchte nicht Hand in Hand mit ihr spazieren gehen und ihr ab und zu übers Gesicht streicheln oder seine Kindheit erzählen. Er will stoßen.
Rinka ist angeschlagen und geht nie wieder zu ihm, lässt sich nicht mehr einladen. Trotzdem läuft ihr Motor weiter, sie kann nicht abschalten. Ohne Bremse, ohne Schutzblech rast sie durch die Tage, jede Ampel ein Mann. Sie ekelt sich, sie sieht rot, sie verliebt sich. Solange er sie nicht berührt, steht sie in einem Vollrausch von Zuneigung. Dann steigt er über sie hinweg, und ihr Motor läuft weiter.
»Hast du Sorgen?«, fragt Barbara und steht in Rinkas Zimmertür, steht schräg da wegen ihrer langen Beine. Rinka will nicht Nein, kann nicht Ja sagen.
»Gibt es einen Mann, mit dem man nur so befreundet sein kann, ohne gleich ins Bett zu gehen oder ohne sich gleich zu verlieben?«
»Ach, Rinka«, sagt Barbara und legt ihre Hand in Rinkas Nacken.
Nach einem kurzen, nervösen Zucken am Auge kugelt sich Rinka in Barbaras Arm.
»Alle mögen dich, du musst nicht immer denken, du nervst«, sagt Barbara.
»Es muss doch Männer geben, die Menschen sind«, sagt Rinka.
»Was?«
»Ach nichts. Schon gut.«
Barbara verzieht ihr Gesicht, Augenbrauen und Mundwinkel hoch, Stirn in Falten, Lippen geschlossen, und geht in ihr Zimmer. Rinka steht sofort auf, um Tee für Barbara zu kochen, sie auszusöhnen, für alle Fälle.
»Der dünne Blonde hat gesagt: Wenn du schwanger wirst, kannst du ja abtreiben.«
»Wenn das einer zu mir sagen würde«, sagt Barbara, »würd ich ihn rausschmeißen.«
Damit bringt sie Rinka zum Schweigen. Rinka hat den Blonden nicht weggejagt. Sie hat stillgehalten.
Nächstes Mal werde ich gleich schießen.
Rinka möchte sich schlagen dafür, dass sie ihn nicht die Treppe hinuntergestoßen hat.
Jede Woche geht sie fünfmal ins Büro. Dort sitzt sie stundenlang auf ihrem Stuhl, mit einem Gehirn voll Staub und schläfrigen Augen, die aber ablesen, was vor ihnen liegt. Die staubige Masse leitet immerhin weiter, welche Buchstaben die Finger tippen sollen.
»Was haben Sie denn da verzapft? Dieser Satz gibt ja keinen Sinn«, sagt der Rechtsanwalt und stöhnt.
Rinka hat nur geschrieben, was er diktiert hat.
»Es ist ja gut, wenn Sie genau arbeiten. Aber denken müssen Sie auch noch.«
Und das Friedenauer Lederpolster zum getäfelten Büro schließt sich wieder.
Rinka hackt motorisch weiter und fragt sich, was ihr Rechtsanwalt wohl sagen würde, wenn sie ihm alles erzählen könnte. Er würde die Kopfhaut bewegen, seine blonden Haare würden ruckeln, als seien sie aus einem Stück, obwohl es nicht so aussieht, als trage er ein Toupet. Er würde die linke Hand auf dem Bauch ablegen; da würde sie wegsehen. Und er würde immer wieder fragen, warum sie das und das getan und jenes nicht gelassen habe.
Die Hebelchen schlagen die Buchstaben auf das Papier, jeder Schlag sagt Nein. Nein, dem wirst du nichts erzählen, du bist ja nicht mal zur Polizei gegangen. Der würde dich ausquetschen, der würde alle Einzelheiten wissen wollen. Und seine rechte Hand würde den Brustkorb reiben, dass der Schlips hin und her wandert. Nein.
An manchen Tagen ist Rinka lebendig, ein nicht zur Ruhe kommender Kreisel. Schwimmen, Tanzen, Sprachen lernen. Mit drei Leuten an einem Abend verabreden. Mit der U-Bahn quer durch die Stadt.
»Ich hab nicht viel Zeit, ich muss gleich wieder weg.«
Ausstellungen, Cafés, Kino. Sie hält die Zeit in Bewegung. Wie es ihr gehe?
»Ja ja«, antwortet sie, »ja ja, es geht eben so weiter.«