LEITNER • ICH ZÄHLE JETZT BIS 3

Egon Christian Leitner

Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden

Sozialstaatsroman letzter Teil

Die Herausgabe dieses Buches erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch das Land Steiermark und die Stadt Graz.

Die hier vorliegende 2. Auflage unterscheidet sich von der 1. Auflage durch die Beigabe einer umfangreichen Bibliografie zu diesem Band (»Bibliothek offen!« ab S. 918). Leserinnen und Lesern der 1. Auflage steht diese Bibliografie online über diesen Link zur Verfügung:

www.wieser-verlag.com/ich-zaehle-jetzt-bis-3-bibliothek

Eine separat gedruckte Version davon kann kostenlos beim Wieser Verlag angefordert werden:

Egon Christian Leitner

Bibliothek offen!

Bibliografie zu

Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden.

Sozialstaatsroman letzter Teil.

124 S., ISBN 978-3-99029-487-1

KLAGENFURT/CELOVEC • WIEN • LJUBLJANA • BERLIN

A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Tel. +43(0)463 37036, Fax +43(0)463 37635

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1. Auflage April 2021

2. erweiterte Auflage Mai 2021

Copyright © 2021 bei Wieser Verlag GmbH,

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Helga Schicho

ISBN 978-3-99029-486-4 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-99047-117-3 (Epub)

Inhalt

I IMMER IM KRIEG

Intervention 19. Juni 2020

Intervention 19. Juni 2020

Interview 14. Juni 2020

Interview 5. Juni 2020

Interview 27. Mai 2020

Intervention 9. April 2020

Intervention 5. Oktober 2019

Intervention 26. Juni 2019

Intervention 13. Februar 2019

Intervention 28. Oktober 2017

Intervention 29. November 2016

Intervention 13. Oktober 2015

Intervention 14. September 2015

Intervention 29. Mai 2015

Intervention 2. März 2014

Intervention 4. April 2013

Intervention 4. Jänner 2012

Intervention November 2020 bis Februar 2021

II JOURNAL FÜR AKTUELLE EWIGKEITSWERTE

Tagebücher 2011–2012

Tagebücher 2013–2014

Tagebücher 2015

Tagebücher 2016

Tagebücher 2017

Tagebücher 2018

Tagebücher 2019

Tagebücher 2020

Gebrauchsanleitung, Rechenschaftsbericht

Pataphysisches Register

Bibliothek offen!

Mein Dank gilt. Mein Wort auch.

IMMER IM KRIEG

Intervention 19. Juni 2020

Tag, Monat, Jahr

Je dümmer ein Mensch ist, umso weniger bringt er. Bei uns da hier wird der wirtschaftliche Lebensertrag, Arbeitslebensertrag, eines Menschen mit einer Million Euro angesetzt von den Ökonomen. Ein IQ-Punkt weniger da hier entspricht 2 % weniger Ertrag durch diesen Menschen. 1 % von 100 ist 1, also ein IQ-Punkt eben, und 1 % von einer Million sind 10.000 €, 2 % sind 20.000. Ich kann das nicht einfach so schnell ausrechnen, wie im Gegenteil jetzt der da hier ist. Der bekommt jedenfalls für eine halbe Stunde seiner Lebenszeit jetzt da hier 30.000 Euro. Ein Seminar für Führungskräfte ist das, sowohl aus der öffentlichen Verwaltung als auch aus der Privatwirtschaft kommen die. Kann vielleicht sein, dass er heute weniger bekommt, weil eben viel mehr aus der öffentlichen Verwaltung da sind als aus der Privatwirtschaft und eben am Anfang noch ein paar interessierte kurze unwichtige nicht zahlende Personen im Publikum, die, ich eben auch, nach ein paar Minuten gleich wieder gehen müssen. Sein üblicher Tarif ist jedenfalls 60.000 die Stunde. Warum sollte der Tarif heute wirklich anders sein? Der IQ ändert sich ja nicht. Der Intelligenztest vor kurzem z. B., von dem ich Kenntnis habe: Das Kind war, kommt welchen vor, falsch kategorisiert worden. Die angebliche Behinderung, der Schwachsinn, war weiterzugeteilt und fortabnotiert worden von Behörde zu Behörde im Aktenlauf. Das Kind ist jetzt erwachsen, war aber eben, meinen jetzt eben welche, immer an den falschen Schulen. Im falschen System eben. Man testete jetzt daher von neuem seine Intelligenz, um Schadensansprüche zu prüfen. Sagte, die Intelligenz ändere sich ja nie. Wenn also der junge Mann jetzt nicht schwachsinnig sei, könne er es auch dazumal nicht gewesen sein. Dass sich die Intelligenz ändere, sei einfach wirklich ausgeschlossen. Das sei Expertenkonsens. Die das sagten, meinen es gut mit dem jungen Mann, 20 ist der, und die Testerin ist eine Frau. Die sagt, ihr Test jetzt sei garantiert fair und objektiv, um ja den sprachlich-kulturellen Handicaps und Verzerrungen entgegenzuwirken, zumal die Eltern ja von unten und draußen kamen. Der junge Mann freilich redet ja so gut und so gern und ist immer freundlich und fröhlich und hellwach. Das nützte ihm jetzt aber nichts bei dem Test. Er ist auch jetzt erwiesenermaßen dumm, schwachsinnig halt, wie dazumal eh und je. Imbezil, debil, so irgendwas dazwischen. Und dass er jetzt aber so stabil ist und sozial, spreche für das System von Schulen, Einrichtungen und Werkstätten, die er falloptimal durchwandert hat. Ihm sei offensichtlich bestmöglich geholfen worden und das Leben stehe ihm daher jetzt offen. Und der merkt das aber nicht. Er ist jetzt auch nicht mehr so ruhig und glücklich wie vor dem Test, sondern plötzlich weiß er nimmer, was aus ihm wird. So ist das jetzt und der. Arbeit sucht er halt und freundliche Menschen. Der da hier jedenfalls bekommt 30.000 für eine halbe Stunde Arbeit. Und ich kann nicht ausrechnen, wie intelligent der also sein muss. Geniere mich daher sehr. Ah ja, doch, doch, eh ganz einfach, 30.000 sind 1,5 IQ-Punkte. Der muss also einen IQ von mindestens über ein paar Millionen haben.

Tag, Monat, Jahr

Einen Jesus hat es gegeben, der war ein Bauer und ist jahrelang bei Tag und Nacht durch die Hauptstadt gelaufen und hat geschrien, dass sie augenblicklich untergehen werde. Die örtliche fromme Obrigkeit hat ihn dafür jedes Mal zusammenschlagen lassen. Am Ende dann wurde er vom Stein einer Wurfmaschine der andrängenden Besatzer erschlagen. Und einen Jesus hat es gegeben, der war der Anführer der Aufständischen am See. Dieser Jesus floh damals mit den Seinen aus der Stadt am See und der Gegend rundherum, deren Bewohner sich alle ergeben und die Aufrührer den Besatzern ausliefern wollten, auf Booten über den See, und sie wurden von den Soldaten eingeholt und entweder auf der Stelle umgebracht oder zum Kanalbau verwendet. Und einen Jesus gab es, der war Hohepriester, und noch einen Jesus gab es, der war auch Hohepriester, und die beiden waren miteinander dermaßen verfeindet, dass ihre Anhänger einander in Tötungsabsicht mit Steinen bewarfen. Als dann einmal die Revolutionäre, Rebellen den Tempel des verhassten Königs besetzten und statt des einen Hohepriesters namens Jesus den anderen Hohepriester namens Jesus tatsächlich ins höchste Amt einsetzten, kam infolge der Eskalationen einer der beiden Hohepriester namens Jesus ums Leben. Zuvor redete er von dem Berg und der Mauer herab.

Tag, Monat, Jahr

Die vergoldeten Platten in den Sonden, die seit 40 Jahren im Weltraum unterwegs sind und nach Lebewesen und Zivilisationen suchen. Auf den vergoldeten Platten befinden sich folgende Botschaften der Menschheit: das hohe F, Musik von Pygmäen, Navajo-Indianern und aus Aserbaidschan und von Bach und Louis Armstrong und die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte, Grußworte in 55 Sprachen, Herzschlaggeräusche, Stimmen von Erdbewohnern, Spatzen und Walen, Brandungsgeräusche, Presslufthammergeräusche, das Knistern von Feuer, ein Donner, ein Kuss. Zu sehen sind: eine Gebärmutter, ein Fötus, DNA, kleine und große Städte, Landschaften, Gebäude, stillende Frauen und jagende Männer und ein paar die Erdkugel betrachtende Kinder, ein nacktes Menschenpaar, die Erde im Sonnensystem und die Sonne in der Milchstraße und ein paar Telefonnummern. Kann man so sagen. Ist so. Mich bitte nicht anrufen, ich hebe nie ab bei so was.

Tag, Monat, Jahr

In der Schulung die Lacheinheiten. Das Lachen da beim Begrüßen. Und zwischendurch auch. Die sogenannte Presslufthammertechnik. Angst und bang wird’s mir, was die Leut’ alles können. Die Frau, die mir heut das Training, in dem sie für ihre Firma war, erklärt hat, findet’s zwar nicht lustig, aber es funktioniere eben so. Das hierarchische Lachen eben funktioniert von oben nach unten und die, die unten sind, dürfen aber ja nicht tief lachen, sondern mit hoher Stimme müssen die lachen. Harmlos eben wie harmlose Frauen und harmlose Kinder sein muss man da beim Lachen. Das Lachen, vor dem man keine Angst haben muss, wenn man’s hört, ist eben hoch. Hoch! Wenn man ein solches hochfrequentes zu hören bekommt, ist man dem Menschen, der so lacht, unter Garantie sympathisch. Die Weiblichkeit z. B. lacht so, wenn sie einen mag. Es gibt also ein Lachen, das andere unterwirft, und eines, mit dem man sich gut fügt und das Beste aus allem macht; ein aufbegehrendes gibt’s auch. Aber darum geht’s im Prinzip nicht, sondern immer sicherheitshalber ums Ungefährlichmachen. Egal was, egal wen. Und man soll prinzipiell beim Lachen dem anderen Menschen, egal, ob männlich oder weiblichen Geschlechts, ja nicht sofort in die Augen schauen oder gar den oder die fixieren, während man lacht, sondern erst, wenn fertiggelacht ist, kann man irgend so was probieren. Im Guten. Immer eben muss alles ungefährlich sein oder werden. Zusammen weinen ist auch wichtig, muss man auch lernen. Ist auch gut für die Firmen. Wird auch trainiert. Das stärke den Zusammenhalt. Weinen ist eine empathische Übung gegen Egozentrik und Narzissmus, sagt die Kollegin. Ja eh, sag ich und frage die Kollegin, wie viel ich denn jetzt allein weinen soll jeden Tag. Eine halbe Stunde.

Tag, Monat, Jahr

Will mit dem Vietnamesen wieder mehr Deutsch lernen. Damit er so bleibt, wie er ist. Sage, er soll mir bitte aus der Zeitung vorlesen. Er erwidert: Nein, geht nicht! Ich ärgere mich, schimpfe: Was soll da nicht gehen? Er nickt, liest, laut vor, die Schlagzeilen eines jeden Artikels. Es geht wirklich nicht. Was da steht, kann man nicht lesen. Ist eine Zumutung. Das Gratisblatt von der Haltestelle heut. Nur böse Nachrichten, nichts sonst. So etwas habe ich noch nie erlebt. Was hat die Zeitung von diesem Blödsinn? Nur Bedrohungen stehen da heute drinnen. Der Vietnamese ist auf der Flucht von seiner Familie getrennt worden und fast im Meer ertrunken. Ist aus Südvietnam. Die Gegend dort gilt als die, auf die am meisten Napalm und Agent Orange abgeworfen wurden. Nirgendwo sollen mehr Menschen gestorben sein als dort. Amerikanischer Militärstützpunkt und zugleich das Zentrum der Vietcong. Grausamstes Kampfgebiet. Ich weiß das nur aus Zufall und erst seit ein paar Monaten, ich war früher oft ungeduldig, obwohl ja eh nie etwas wirklich schwer war mit ihm. Aber hilflos eben ist er so schnell. So schnell hilflos! Und so allein und stumm. Ein immer freundliches uraltes Kind. Überhaupt nichts Böses hat er an sich. Aufgegeben da hier ist er worden. Ja, das war so. Er war wirklich immer gut. Hat nichts davon. Nie gehabt. Nur Probleme. Jetzt ist’s besser. Kann er leben. Wird so bleiben. Bitte! Ja, wird so bleiben. Alt ist er jetzt halt. Wieder eine andere Zeit kommt. In ein Heim er. Nein! Er bleibt in der Wohnung. Kann’s. Hat’s immer gekonnt.

Tag, Monat, Jahr

Der amerikanische Außenminister hat im Frühjahr 1954 dem französischen Außenminister zwei Atombomben angeboten. Die Franzosen nahmen die nicht an und verloren dadurch Vietnam. Sie sollen damals den amerikanischen Vorschlag deshalb abgelehnt haben, aus humanitären Gründen eben, weil er zur Folge gehabt hätte, dass auch die in Vietnam befindlichen Franzosen zu Schaden und umkommen. Was in Frankreich nicht gut angekommen wäre. Als die Amerikaner später dann selber Krieg führten, kostete sie jeder getötete Vietnamese, egal ob Mann, Frau oder Kind, im Durchschnitt 200.000 Dollar. Was viel Geld war. Heutzutage kostet ein jeweils getöteter Feind gewiss ein Vielfaches. Das Leben eines Menschen ist eben viel wert.

Tag, Monat, Jahr

Die Psychotherapeutin, die oft so zu kämpfen hat, dass sie während der Therapiestunden ja nicht einschläft. Das ist nicht aus Langeweile so bei ihr, sondern weil die Geschehnisse ihr so nahe gehen. Bedrücken eben. Sie wird sehr gemocht. Ist deshalb eine so große Hilfe, weil sie die Leute in Arbeit bringen kann. Das ist die größte Hilfe. Ein normales Leben eben. Der fällt auch immer etwas ein, was man doch noch tun könnt’. Der Kindertherapeut dann, andere Praxis dann heut, der nicht will, dass der Bub seinem Vater abgenommen wird. Die Kollegen sagen aber alle, dass es notwendig sei. Die Kolleginnen auch. Aber der Therapeut will das nicht, weil das Kind will, dass dem Vater geholfen wird. Der Vater kann nichts. Nicht mehr und gar nichts kann der. Findet auch keine Arbeit. Einen Salat heute in der Früh hat er zusammengebracht. Den hat er sich gemacht. Zum Frühstück. Dem Buben auch. Aber zusammengebracht hat er’s, das ist wichtig, sagt der Therapeut zu mir, und dass jedes Kind ein Recht auf seine Eltern habe und die Eltern haben ein Recht auf ihre Kinder und die eigene Familie sei ein Menschenrecht. Hat mir heut eh erklärt, woher er weiß, was das Kind will. Aber ich hab’s wirklich wieder vergessen. War alles sehr viel auf einmal heut. Natürlich weiß er, glaub ich, es auch von sich selber her, weil er ja seinem Vater immer helfen wollte und dass sie eine Familie sind mit der Mutter. Vergeblich eben als Kind war das. Von Kind zu Kind weiß er es! Der Bub ist immer so laut, dreht auf, durch, hat der Therapeut zu mir gesagt, alle in der Praxis nerve das inzwischen. Aber den Therapeuten eben nicht. So, jetzt weiß ich es wieder. Dem Papa helfen! Das hat der Bub gesagt. Selber. So einfach ist das. Und ich vergesse das einfach. Wie gibt’s das? Dem Papa helfen! Und jedes Mal eben, wenn das dann eben wirklich geschieht, wird der Bub sich beruhigen. So sieht der Therapeut das. Beide muss er beruhigen. Stillen eben. Habe auch vergessen, ob die Mutter auf und davon ist oder gestorben. Irgendetwas Schlimmes war gewesen. Ein Scheißblutkrebs in der Gosse. Das war’s. Der Therapeut hat dann gesagt, die Kinder, mit denen er zu tun habe, seien immer irgendwie im Krieg. Immer haben die Krieg. Von uns da hier Kinder sind das. So wachsen die auf hier. Raus da, schnell! Zu mir her! Weiter jetzt! – so ist der Therapeut daher beschaffen. Der ist wirklich so. Eben weil Krieg ist. So schnell wie möglich so sicher wie möglich, so hat der’s in der Ausbildung gelernt und so tut er das, weil eben nur das richtig ist, weil eben Krieg ist.

Tag, Monat, Jahr

Kein einziger Witz gelingt mir. Alle so gut gelaunt und ich bring keinen einzigen Witz an. Einer sagt wenigstens, was ich sage, ist lächerlich. Immerhin was!

Tag, Monat, Jahr

Eine Frau sagt, ihr Name habe ihr in ihrer Heimat nie gefallen, aber hier jetzt werde er irrtümlich so oft anders, eben falsch, ausgesprochen, aber dadurch gefalle er ihr viel besser und komme ihr ihr Name viel schöner vor.

Tag, Monat, Jahr

Warum gibt es in der Schule kein Unterrichtsfach, das Helfen heißt, und warum im Fernsehen kein Friedensprogramm? In der Schule ein Lernfach, das Helfen heißt, und im Fernsehen ein paar Stunden pro Woche ein Friedensprogramm! Auf jedem Sender die Analysen, was man wo tun kann, und in jeder Schule Helfen als Pflichtfach für da hier.

Tag, Monat, Jahr

Es heißt, bald werde man das ganze Gesicht transplantieren können. Ganze Gesichter. Das wird seltsam werden.

Tag, Monat, Jahr

Die runden Sandkörner hat der Wind gebracht, die eckigen das Wasser.

Tag, Monat, Jahr

Die erste Erwähnung des Namens Araber, im 9. Jahrhundert vor Christus, da kämpfen diese gemeinsam mit dem Volk von Israel gegen irgendwen und stellen dabei 1.000 Kamelreiter. Die Syrer sind auch mit von der Partie und auf derselben Seite wie das Volk von Israel. Und eine moslemische Frau wollte das Paradies in Schutt und Asche legen und hingegen die Hölle – die wollte sie mit Wasser vollschütten zum Löschen, damit die Menschen nichts hoffen und nichts fürchten. Nur einzig um Schönheit und die Liebe dürfe es fürderhin gehen im Leben und Empfinden der Menschen. Die Frau war dann für die Moslems zwischendurch sehr wichtig. Wirklich! Für den Frieden. Wirklich wahr!

Tag, Monat, Jahr

Eine Frau, die ich nicht kenne, sagt zu mir plötzlich am Ende der Vorstellungspause, sie habe sich jetzt schnell noch etwas zu essen holen wollen und das gehe jetzt aber nicht mehr und dass sie Hunger habe. Ich stehe sofort auf und will ihr etwas holen, aber sie sagt, nein, jetzt gehe es nicht mehr, denn ich würde den Künstler und das Publikum stören und den Techniker, der müsse sich hier sehr konzentrieren. Am Ende der Darbietung dann hole ich der Frau sofort etwas schnell vom Buffet und sie erschrickt aber, als sie das Essen sieht, das ich gebracht habe, und sagt aber, dass das sehr nett sei von mir. Sie müsse jetzt aber schnell ganz kurz an die frische Luft gehen, weil sie jetzt ja so lange gesessen sei. Ich stehe mit dem Essen da und warte, dass die Frau wiederkommt. Ihre Bekannte kommt zu mir und sagt, dass die Frau jetzt gewiss erbrechen geht, damit sie das da essen könne. Ich erschrecke und schäme mich. Es sind ja nur vier kleine Stückchen auf dem Teller und ich wollte niemandem Stress machen, hatte auch gar nicht mitbekommen, wie mager die Frau ist. Nur Haut und Knochen, würden die meisten sagen. Hab es aber einfach nicht gemerkt. Für normal gehalten. Sie ist sehr klein, doch sie macht eben, finde ich, einen sehr kräftigen Eindruck, robusten, ist auch sehr resolut. Und als sie zurückkommt aus dem Freien, bin ich natürlich noch immer da und daher unausweichlich. Sie bedankt sich freundlich, nimmt den Teller und ich gehe dann gleich und dann sehe ich aus einiger Entfernung, dass sie zögert, das Essen hochhebt, anschaut, kurz isst, kostet eben, und wieder zögert und es wieder anschaut. Habe ihr nichts Gutes getan. Jedes Wort habe ich ihr aber geglaubt. Und sie sagte ja eben, sie würde gerne etwas essen. So begannen dann die wahrscheinlich wirklich beträchtlichen Schwierigkeiten für sie. In die habe ich sie gebracht. Glaube aber wirklich, die Frau wollte wirklich essen. Sie wollte auch wirklich dazugehören zu denen. Sich zum Beispiel anstellen wie alle anderen auch. Und tratschen dabei mit denen. Manchmal dreht sie die Dinge um, ist mir dann heute erzählt worden von einer Kollegin von ihr. Sie, sie will dann behilflich und mitfühlend sein. Tut dann so, als ob die Leute etwas von ihr brauchen. Und da behandelt sie die Leute dann aber angeblich sehr von oben herab. Seltsam ist das alles und ich habe plötzlich gewaltige Angst um die Frau. Die ist gewiss schnell in Gefahr. Sie hat sich beim Gehen nochmals bedankt bei mir. Ohne Häme, kommt mir vor, sondern sehr freundlich und herzlich war sie und gelächelt hat sie und mir die Hand geben wollen und sie lang und fest geschüttelt. Die Frau ist wirklich ein Energiebündel. Aber was will sie? Ich glaube nicht, dass die Menschen essen will. Sie will anderen Menschen behilflich sein und indem sie anderen helfen kann, kann sie sich selber helfen. So macht die das, glaube ich.

Tag, Monat, Jahr

Sie packten ihn, spalteten ihm den Körper, nahmen sein Herz heraus, öffneten es, entfernten aus diesem einen schwarzen Klumpen, warfen den weg; dann wuschen sie das Herz und den Körper mit Schnee, bis sie ihn ganz gereinigt hatten. Als er ein Kind gewesen ist und zusammen mit einem anderen Jungen gestillt worden, ist ihm das so geschehen. Da waren plötzlich zwei Männer mit weißen Gewändern und mit einem Gefäß aus Gold, das mit Schnee gefüllt gewesen war, zu den beiden gekommen und taten das alles dann mit dem Kind. Mohamed! Und als er ein Mann war, kam er auf den Knien zu seiner Frau gekrochen, bat sie zitternd, dass sie ihn umhülle. Verzweifelt war er, wollte sich umbringen. Und ob man ihn aus seiner Heimat vertreiben werde, fragte er. Werden sie mich vertreiben? – Ja. Wer kann gegen so jemanden gewinnen, frage ich mich. Gegen solche Seelenzustände! Das Herausnehmen des Kinderherzens, die völlige Ausgeliefertheit und Verzweiflung, das Vertriebenwerden, die Todesangst. Das alles ertragen haben! Und die Gläubigen folgen ihm, der er für sie ja vollkommen und edel ist. Alles ertragen und alle besiegt hat. Wie können die Europäer, Amis, Russen und Chinesen glauben, gegen so beschaffene, in solchen seelischen Zuständen befindliche Menschen je wirklich gewinnen zu können. Es ist unmöglich! Solche Menschen haben den Tod Tausende Male hinter sich. So jemanden kann man nicht umbringen. Menschen absoluter Entschlossenheit. Dagegen gewinnt keine Macht der Welt. Hier bin ich, o Gott, hier bin ich, betet der Pilger in seinem weißen Leinengewand, bevor er den heiligen Bezirk betritt. So steht er vor Gott. Wer kann gegen so jemanden gewinnen? Niemand kann das. Der steht so vor seinem Gott! Alles andere ist dem egal.

Tag, Monat, Jahr

Einer sagt, das Blut eines Mannes sei eigentlich Meerwasser wie auch seine Tränen und sein Same seien Algen. Und seine Knochen Korallen. Wenn der nicht bald aufhört zu reden, komme ich mir vor wie der weiße Hai. Hört nicht auf. Also ruf ich’s raus. Der sagt daraufhin, dass vor 500, 600 Millionen Jahren die Erde ein Paradies gewesen ist. Das Zeitalter ist daher als Eden benannt worden von den dafür Zuständigen. In Südaustralien hat man die Überreste von damals gefunden. Ohne Raubtiere war das Ganze. Die Wesen damals waren scheibenartig und wie aufgeblasene Luftmatratzen. In Eden haben die Lebewesen mittels ihrer Haut gegessen und verdaut. Fühle mich in der Folge wie eine Luftmatratze in Lignano.

Tag, Monat, Jahr

Der Mann, dessen Frau plötzlich und dann über Jahre lebensgefährlich krank war und sich aber gut erholt hat und dann plötzlich an etwas ganz anderem gestorben ist. Er ist am Boden zerstört seit ihrem Tod. Schreibt ihr jeden Tag einen Brief. Fährt in einem fort irgendwohin, wandert umher dort; immer, wo sie miteinander gegangen sind. Ihre Orte. Die Orte und die Briefe helfen ihm und der Sohn und die kleine Enkeltochter. Dass es die alle gibt, seine Familie, die Schwiegertochter. Aber er kommt nicht zur Ruhe. Es geht nicht.

Tag, Monat, Jahr

So, die magersüchtige Frau ist verhungert. Habe ich heute aus der Firma erfahren. Tot. Wie und warum, weiß ich nicht. Niemand. Zu der Veranstaltung vor ein paar Tagen ist sie gewiss gekommen, um noch einmal ein paar Menschen zu sehen, mit denen sie zusammen gearbeitet hat, und überhaupt Menschen. Die hat sich wahrscheinlich einfach verabschieden wollen von wem von früher. Wie die Selbstmörder oft. So wird das gewesen sein. Die hat Menschen gesucht. Es ist dann ja eben auch jemand mit ihr mitgegangen. Haben geredet. Waren guter Dinge, ist mir vorgekommen. Ein paar Kolleginnen von ihr, alle, haben sich gefreut, sie wiederzusehen. Zusammengehören, miteinander essen; alles wirklich. Miteinander teilen alles und zugleich ist genug für alle da. So muss das gewesen sein für die Frau. Der Kabarettist an dem Abend, nach der Vorstellung noch kurze Gespräche mit Leuten aus dem Publikum; er hätte sich gewünscht, dass der Abend noch nicht zu Ende ist, kommt mir vor. Alles war gelungen und die Leute so angetan. Aber sie gingen dann eben. Als schon fast alle weg waren, drehte er sich mit dem Rücken zum Ausgang und mit dem Gesicht zur Bühne und hob plötzlich die Hände, streckte die Arme wie in einen Himmel hinauf über einem Altar und rief laut: Der Künstler bleibt wie immer alleine zurück! Seinem Gott hat er das geklagt. Der Kabarettist hätte gewiss gern mit der esskranken Frau geredet. Der ist immer sehr nett. Das wäre ihre Chance gewesen, am Leben zu bleiben. Der kann das. Der Abend, die Essenstücke in ihrer Hand angeschaut wie etwas Giftiges hat sie. Hab nicht verstanden, was ich wahrgenommen habe. Ratlos war sie, was sie machen soll. Das sah ich. Mit anderen zusammen hätte sie gewiss gegessen an dem Abend. Versuche dann heute noch darüber zu reden mit ein paar Leuten, so schnell ich nur kann. Die glauben zuerst alle, es sei eine sehr junge Frau gewesen. Aber sie war über 50. Da bringen sich oft welche um. Als Jugendliche eben oder in dem Alter. Die Leut’, mit denen ich zu reden versuche, sagen dann, dass heutzutage niemand mehr über Magersucht reden wolle. Sie auch nicht. Irgendwie witzig ist das und ich muss laut lachen. Später dann wieder erfahre ich, dass eine von denen, die heute nicht darüber reden wollten mit mir, eine Tochter hat, die schwer magersüchtig ist. Und das hilft der Tochter aber, dass sie das ist. Hat viel Erfolg damit. Daher hört sie ganz gewiss nicht auf damit. Gilt allen als hochintelligent, verlässlich, sozial wie nur wer, stets hilfsbereit, fleißig und strebsam und graduiert und zertifiziert sich in einem fort in allem ihr auch nur irgendwie Greifbaren. Die Mutter der Tochter, es ist, kommt mir vor, wie wenn man auf einen Menschen zugeht, der einen bitte auffangen soll, weil man zusammenbricht, und der Mensch geht aber jedes Mal weg in dem Moment. So kommt sie mir vor. Die entzieht sich immer. Wie das Essen eben. Da plötzlich nicht da. So wird die verhungernde Frau das Essen in ihrer Hand angeschaut haben. Ob der geliebte Mensch wirklich bleibt. Da ist eben, wenn man ihn braucht. Vom jetzigen Alter eines Abhängigen ist die doppelte Zeit seiner Abhängigkeit zu subtrahieren, dann weiß man, was diesem Menschen fehlt und gebraucht wird. Früher hat man’s so gemacht. So war die Formel. Und dann waren die Leut’ beim Nachrechnen eben 12 oder 3 Jahre alt oder noch gar nicht auf der Welt.

Tag, Monat, Jahr

Frage den Vietnamesen, was es Neues gibt. Sagt, dass er nichts im Lotto gewonnen hat. Das ist weder etwas Neues noch hat er gespielt. Sage das so zu ihm. Er lacht. Ich habe nichts gewonnen, sagt er wieder. Gehen wir essen, sag ich.

Bachmannwettbewerb 2020

Intervention 19. Juni 2020

Vorstellen soll ich mich. Sollten Sie das wirklich wünschen, dann hiermit wie folgt: Ausweisdokument ist mein Sozialstaatsroman, die ersten 3 bereits öffentlichen Teile und dazu im August heuer der vierte. Das ist beileibe keine Werbeeinschaltung von mir, dass ich Ihnen das mitteile, sondern im Sozialstaatsroman stehe ich drinnen, auch meine Eigentums- und Einkommensverhältnisse, Lohnzettel kommen auch vor. Mein Sozialstaatsroman bislang hat 1.200 Seiten und berichtet nämlich von zirka 1.200 Menschen. Der 4. Teil wird zirka 700 Seiten haben und berichtet von wohl 700 Menschen. Von denen bin ich ebenfalls einer. In Summe scheint mir das ausreichend Auskunft. Von Menschen sehr oft, die sehr oft weder aus noch ein können. Aber dann doch herauskommen aus der jeweiligen Ausweglosigkeit. Lebens- und existenzbedrohenden. Oder tatsächlich zugrunde gehen. Ungerecht, aber – mit Verlaub – nicht ungerächt.

Noch etwas aus meinen Personalien: Ich schlafe gern und gut. Der Schlaf ist meines Empfindens der Hüter des Lebens. Bei Klee zum Beispiel ein schlafender Mensch, um ihn herum die Schicksalsgewalten. Aber in dem schlafenden Menschen funktioniert alles gut, nichts ist beeinträchtigt, er kann sich auf alles verlassen. Er ist irgendwie überall und lebensfähig und es geschieht ihm nichts Böses. Überall soll ein wichtiges Wort gewesen sein für Klee. Todesspiralen soll er oft gemalt haben und mitten im Krieg hat Klee aber gesagt, der Krieg gehe ihn innerlich nichts an. In ihm sei keiner.

Der springende Punkt nämlich, wissen Sie, was das ist? Das ist das Herz des Vogels im Ei. Das pulsierende Kükenherz, das ist der springende Punkt. Irgendwie der Inbegriff des Lebens. Der kommt von Aristoteles her. Also von vor 2.400 Jahren. Aristoteles hat Hühnereier systematisch geöffnet und dadurch die Entwicklung von Embryos kapiert. Und dass die Entwicklung des Individuums die verkürzte Entwicklung der Familie ist, der es zwangsläufig zugehört. Der springende Punkt ist das pulsierende Leben. Zerbrechlich zugleich wie nur was. Dass da ein Wesen lebt, das ist der springende Punkt. Von Aristoteles ist bekanntlich auch, dass der Mensch ein politisches Wesen sei. Aristoteles hat ihn zugleich benannt als das einzige Lebewesen dazumal, das lachen kann. Und als Ursinn, Hauptsinn, den Tastsinn.

Warum ich Ihnen das mitteile? Damit Sie mir nicht auf die Nerven gehen.

Gut wäre auch, wenn Sie jetzt endlich das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren aus dem Jahr 2002 wiederholen und zwar europaweit. Das wäre gut.

ORF/3sat-Porträtvideo, Bachmannwettbewerb 2020

Interview 14. Juni 2020

Wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Die Tage gehen im Moment jedes Mal gut aus. Ich hoffe, das hat kein Ablaufdatum.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Die Wiederholung des Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002. Es war präventiv und verbunden z. B. mit der Frauenministerin Dohnal, dem WIFO-Ökonomen Schulmeister und dem Arzt und ersten Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt. Wäre es parlamentarisch realisiert worden statt nicht einmal auf eine Tagesordnung gesetzt (über 700.000 Stimmen hatte es unter schwierigen Umständen erreicht), wären uns da hier die Katastrophen jetzt erspart geblieben, auch die wirtschaftlichen. Das Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen ist des Öfteren versucht worden, z. B. zwischen 2008 und 2010, angesichts der Weltwirtschaftskrise infolge der Bankencrashs. Die Kooperation mit wichtigen Interessenverbänden kam jedoch nicht zustande, die waren nicht interessiert. Z. B. die roten. Europaweit die Roten nicht.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst zu?

Das Sozialstaatsvolksbegehren halte ich tatsächlich für dringlich, unverzichtbar und für den jetzt einzigen tatsächlich realisierbaren Ausweg. Und Gedichte. Mit Verlaub! Die sind eine wirkliche Hilfe. Habe ich von einem Kriegsberichterstatter gelernt.

Was liest Du derzeit?

Ich kann nichts dafür: mein eigenes Buch. Weil ich das gerade fertigstelle. Ein Friedens- und Dolmetscher*innenbuch, den letzten Teil meines Sozialstaatsromans. Da kommen zwar Bücherquellen drinnen vor en masse, aber welche, ist noch Werkgeheimnis. Aber vor ein paar Tagen habe ich wieder einmal in Paul Feyerabends Schriften geblättert. Das war ein österreichisch-amerikanischer Philosoph, schwer kriegsversehrt und ein menschenfreundlicher, sehr liebevoller Anarchist. Der hat vor Jahrzehnten konstatiert, dass fast niemand mehr wisse, was alles möglich gewesen und daher wieder oder immer noch möglich sei. Es sei gerade und werde immer mehr so sein wie in einer verbauten, zerstörten Landschaft: Nach kurzer Zeit wisse niemand mehr, wie es bis vor kurzem ausgesehen habe und wie schön es war. Und was alles möglich, im Schlechten wie im Guten. Und ein Buch, das ich empfehlen würde, ist Werner Vogts Lebensbericht, sein Arztroman aus dem Jahr 2013. Da steht alles drinnen, kommt mir vor, was jetzt getan werden kann. In Überreichtum von Martin Schürz blättere ich auch oft. Der ist einer der mutigsten Reichtumsforscher*innen nicht allein in Österreich. Zitiert lustigerweise viele amerikanische, englische und französische Schriftsteller*innen. Klassiker gewissermaßen. Die sind für ihn genauso Argumente wie die Ziffern. Adolf Holls Kinder- und Jugendbuch Wo Gott wohnt hielt ich gestern auch für ein paar Augenblicke in Händen, fällt mir gerade ein; das war das Lieblingsbuch Bruno Kreiskys, heißt’s. Holl war ein frommer Mensch meines Empfindens und zugleich einer der redlichsten Ideologiekritiker in Österreich. Um den unbefangenen Jesus beim Erwachsenwerden geht’s zirka in dem Buch. Eine Reminiszenz ist’s wohl auch irgendwie an den Gott in den Katakomben, welcher dort, sagt man, ja nicht als gekreuzigt dargestellt wurde, sondern als durch und durch lebendig und als behutsam und fürsorglich. Ein kleiner, lieber Gott und Menschen ohne Größenwahn, darum geht’s, glaube ich, beim lieben Adolf Holl. Ging’s. Heuer gestorben. Das Lieblingsbuch von seiner lieben Lebensgefährtin Inge Santner ist Holls Wo Gott wohnt auch seit jeher. Sozusagen von der ersten Zeile an. Feyerabend, Schürz, Holl, Vogt ... so, womit kann ich Ihnen noch dienen, der Sie mich ja so freundlich in Ihr enzyklopädisches Unterfangen da hier eingeladen haben?

Welches Zitat möchtest Du uns mitgeben?

Semper patet alia via. Das ist von Erasmus aus Rotterdam. Immer stehe ein zweiter Weg offen. Der Ausweg eben. Der Spruch erinnert mich an Werfels Jakobowsky und der Oberst. An den Film mit Danny Kaye. Der sagt auch in den schwersten, gefährlichsten Situationen immer, dass man immer 2 Möglichkeiten habe im Leben. Jede dieser Möglichkeiten berge in sich wieder 2 neue Möglichkeiten. Und Jakobowsky eben imaginiert und wählt sich inmitten von Not und Übel nach Möglichkeit die jeweils bessere. Am Ende geht’s gut aus. Ist offensichtlich eine gute Methode.

Zum Bachmannwettbewerb und wieso die Teilnahme meinerseits, dazu soll ich auch was sagen, sagten Sie mir am Telefon zirka, und was ich bislang so getrieben und geschrieben habe oder was oder wie, oder?

Ich wette 1. mit Ihnen, die heurige Veranstaltung wird lebhaft, einfalls- und hilfreich, vehement, umsichtig, spontan und menschenfreundlich sein. Alle Teilnehmenden werden dafür sorgen, die sind sich mit Gewissheit ihrer Verantwortung bewusst. (I eh ah.) Es kann ja sein, dass der Bachmannbewerb von Anfang an und durch all die Jahrzehnte nahezu nie im Sinne von Frau Bachmann war. Die vielen Schlachtungen nämlich und das Plastik und die Automaten aller Sorten hätten sie immer schon abgestoßen. Die Gewalt, die Grausamkeit, das Zerstörerische, Sinnlose. Weg damit! Heuer, just, wird das, wette ich, wirklich geschehen. Die Bachmann wird’s freuen.

2. Was ich am Bachmannwettbewerb gerade jetzt für die heutige Zukunft, Gesellschaft, Politik für höchst wichtig und für hochinteressant finde, ist seine Art von Transparenz und von Demokratie. Da wird nämlich, anders als sonst oft bis meistens, in Gegenwart und unter Mitwirkung großer Öffentlichkeit demokratisch gewählt, wer was kriegt, wer nicht. Mich erinnert das Ganze auch an das antike Theater, die antike Tragödie und Komödie in Athen. Die waren Erfindungen und Ausdruck der Athenischen Demokratie, und zwar nahezu von Anfang an. Zwar hat es in Athen bekanntlich auch bloße Zufallsentscheidungen durchs Los gegeben, was bestimmte Ämter und Funktionen betrifft. Was ja irgendwie erschreckend und lustig zugleich ist, aber zwischendurch durchaus auch Sinn und Zweck hatte, zumindest auf den ersten Blick, nämlich dass potentiell jeder drankommen kann hinein in ein Amt und dies sicherheitshalber schadensbegrenzt auf kurze Zeit. Die Wettkämpfe unter den Dramatikern waren freilich anderer Art. Eben irgendwie in Richtung heute und Bachmannwettbewerb, kommt mir halt vor. Nicht bloß per Zufall und per Los oder per Hierarchie. Wie diskutiert wird seitens der Kritiker*innen über die Lesungen und über die Preiszuteilungen, scheint mir demokratisch lehrreich. Gerade heute könnte man vom Bachmannwettbewerb viel lernen, die ganze Gesellschaft. Sozusagen irgendwie athenisch eben. Voraussetzt das alles, wie soll ich’s sagen, beim Wettbewerb seitens der Obrigkeiten wirklich moralisches und intellektuelles Niveau, auf gut Deutsch: menschliches Niveau. Erasmus aus Rotterdam, 15. Jahrhundert, der Humanist, nach dem ja so viel benannt ist heutzutage, hat übrigens viel Wichtiges zu dem gesagt, wie {kulturelle und} geistige Auseinandersetzungen sinnvoll sind und wann hingegen ein Graus und Grauen. Der Sozial-, Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftler Pierre Bourdieu, 20. Jahrhundert, hat das Ganze freilich ganz genau analysiert und es gibt ja auch, soweit ich weiß, eine genaue Studie des Bachmannwettbewerbs, in der dieser ausdrücklich mit Bourdieuschen Mitteln analysiert wird. Wenn ich mich richtig erinnere, heißt die Autorin Moser, eine Kärntner Germanistin. Ich weiß nicht, wie diese kritische Studie aufgenommen wurde, und auch nicht mehr das Erscheinungsjahr. Wann auch immer, mir erscheint der Bachmannwettbewerb, jedes Mal, wenn etwas dabei gelingt, als vorbildliche Übung in Transparenz, Demokratie und Mitmenschlichkeit. Weil das, meines Erachtens, so ist, darf man ihn nicht abschaffen, sondern ist er gewissenhaft so zu gestalten, dass Demokratie und Redlichkeit gelingen. Schaufensterpuppen wie heuer als Publikumsersatz, wenn ich das Vorhaben richtig wahrgenommen habe, halte ich für eine fürchterliche Verdinglichung und für abstoßend und entfremdet. Für schrecklich. Habjan, wenn man ihn gebeten hätte, dass er seine wundervollen Puppen herleiht, das z. B. wäre, kommt mir vor, eine schöne Idee gewesen. Oder dass Habjan mit seinen Puppen das Publikum spielt. Gebrauchte Kinderstofftiere en masse wären auch eine gute Idee zusätzlich, kommt mir vor. Aber die Publikumspuppen heuer, kopflos und irgendwie mit und ohne Geschlecht oder doch bekleidet, furchtbar sind die meines Empfindens. Potentiell ist der Bachmannwettbewerb jedoch nach wie vor Ausdruck und Vorbild unserer Demokratie im besten Sinne und dass normalerweise Schulen, Klassen, nämlich engagierte Lehrer*innen mit ihren Schüler*innen dorthin gehen zuhören, das beeindruckt mich wirklich und ist meines Empfindens eben alles andere als 08/15. Mir kommt vor, Lebensfreude schaut so aus. Und Verantwortungsgefühl.

3. Für mich erhoffe ich durch die Teilnahme die Möglichkeit, Gedichte zu realisieren. Nichts eben ist heutzutage hilfreicher als Gedichte. Hab ich, wie gesagt, vom Kriegsberichterstatter Fritz Orter gelernt.

4. Unter anderem, neben einer Auswegereihe, habe ich einen Sozialstaatsschuber fabriziert, Sozialstaatsroman, Des Menschen Herz. Genutzt wurde der, die ersten 3 Bände, bislang nicht, wie ich es mir wünschte: nämlich z. B. dass jede*r – und sei es im mich demontierenden Streit – ihre und seine Geschichte dazuerzählt, ihre und seine Not. Dadurch Abhilfe schafft anderen und sich. Rauskommt, raushilft aus den etlichen Zwangssituationen, Ausweglosigkeiten, Schädigungen. Selbige habe ich in Familien, Hilfseinrichtungen und sozialen Bewegungen benannt. Menschenleben dort. Dass der Sozialstaatsroman aus Liebesgeschichten besteht, hat auch kaum wer bemerkt. Wie das ist, wenn die Liebe stärker ist als der Tod. Und wie, wenn nicht. Entscheidungen und deren Folgen.

5. Erich Fromm bedeutet mir viel; der hat Objektivität als die Bereitschaft, Fähigkeit, Fertigkeit kenntlich gemacht, Menschen nicht zu entstellen, Menschen nicht und Sachverhalte nicht. Darum geht’s mir. Bei Max Weber war’s detto mit der Objektivität, kommt mir vor. Der bedeutet mir auch viel. Der Linksweberianer Pierre Bourdieu auch. Der hat Menschen aus Zwangssituationen heraushelfen wollen und vor Gewalt und Betrug bewahren. Der Unterschied zwischen (guter) Literatur und (redlicher) Soziologie war für Bourdieu minimal. Um die Auswege geht’s immer. Die zu finden. Mit anderen zusammen. Und dass Menschen nicht Menschen entstellen. Der 1. Teil meines Sozialstaatsromans Lebend kriegt ihr mich nie handelt von Menschen in ihren Familien, der 2. Furchtlose Inventur von den Hilfseinrichtungen, die jeder Mensch oder jedes Menschen Liebste irgendwann brauchen in Leben und Not, der 3. Teil Tagebücher 2004–2011 von den Sozialbewegungen, den NGOs, der Zivilgesellschaft, der APO. Vom Kaputtmachen und vom Unkaputtbaren.

6. Im Oktober 1979 habe ich mit dem Schreiben begonnen. Mit 18 Jahren. Gertrude Steins Zarte Knöpfe und Bastos’ Menschensohn waren damals verstandes- und lebenswichtig für mich. Ebenso Gorkis Mutterbuch und das Handkes. Sallust sehr. Tacitus ein bisserl. Altlateinische Literatur auch. Dann später Erasmus. Wirklich geholfen hat mir jedoch immer einzig die Wirklichkeit. Gutgetan, wirklich wahr, Schmäh ohne, haben mir zwischendurch aber doch des Öfteren, sozusagen durchs Leben mich begleitet ... zwei Fügungen von Frau Bachmann, nach ihr haben Sie mich ja auch gefragt telefonisch, nämlich Ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen. Wie ein jähes Gebet ist das, kommt mir vor. Das habe ich in schwierigen Situationen manchmal gebetet. Genau gesagt, wenn die immer mehr bevorstanden oder plötzlich da waren. Gemurmelt hab ich da ab und zu das Salamandrische. Hat irgendwie geholfen. Und die zweite Fügung, wichtig mir immer wie nur was ... die ... Tapferkeit vor dem Freund. Hat auch geholfen, ja.

7. Von der Literatur und den Literaturbetrieben wünsche ich mir, dass sie so beschaffen sind, dass die Bachmann nicht verbrennt und Franz Innerhofer sich nicht aufhängt. Sie sehen: So einfach ist alles für mich; mache ich mir alles. In gewissem Sinn folge ich, auf meine Art halt, egal ob’s schief geht oder nicht, immer meinem Gewissen. Immer, mit Verlaub. Deshalb habe ich vor ein paar Wochen, na: Monaten inzwischen, öffentlich ein paar Fragen an den Herrn Bundeskanzler gestellt. Bekam keine Antwort. Aber das habe ich nicht falsch verstanden. Denn der Herr Bundeskanzler Kurz hatte keine Zeit, er musste ja Millionen »Österreichern und Österreicherinnen« das Leben retten. Mir auch. Und jetzt rettet er uns allen die wirtschaftliche Existenz. Auch die meiner Familie. Vorige Woche hat neben mir jemand lautstark satiriert: Händchen falten, Köpfchen senken, innig an den Kurz jetzt denken, der uns Arbeit bringt und Brot, der uns hilft aus jeder Not. Habe zu dem sofort Pfui gesagt und dass dieser Spott völlig inakzeptabel sei. Gewissen, das Wort kommt übrigens, soweit ich weiß und was mich sehr interessiert, von Demokrit her, also von einem Materialisten und Atheisten, dem das Lindern von Leid und dem die Freundschaft unter den Menschen das Wichtigste war und der immer so viel gelacht hat. Gegen die Angst wohl und aus Lebensfreude. Inspiration, Enthusiasmus, diese Begriffe hat auch Demokrit früher ausgesprochen als all die berühmten abendländischen Dichter und Denker mit den großen Namen und aber nicht gar so großem Herzen.

8. Ich halte wie gesagt die Wiederholung des österreichischen Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002 für den dringlichsten, unverzichtbaren, wirklichen Ausweg aus der jetzigen, sich verschlimmernden Situation. Das Sozialstaatsvolksbegehren war wie gesagt verbunden z. B. mit Frauenministerin Johanna Dohnal, dem WIFO-Ökonomen Schulmeister und primär dem Arzt, Menschenrechtskämpfer, Antifaschisten und ersten Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt. Vogts Arztroman, Lebensbericht, ist, ich sag’s sicherheitshalber noch einmal, eine Geschichtsschreibung und präventive Problemanalyse des österreichischen Sozialstaates, der Zivilgesellschaft, Institutionen und Bewegungen, des Gesundheitswesens und der Pflegeeinrichtungen. Da steht gewissermaßen schon ewig alles drinnen, was jetzt katastrophal geschehen ist. Und was man dagegen hätte tun können, kann. Mir ist unvorstellbar, dass vor dem Lockdown Berater von Fach die schwarzgrüne Regierung auf Vogts Analysen nicht hingewiesen haben, und ich bin mir auch sicher, dass unabhängig von Vogt Supervisoren, Therapeuten, Pflegewissenschaftler, Ärzte und Verbände die Regierung auf die Qualen, Unfallgefahren und Todesfolgen hingewiesen haben, die entstehen, wenn man z. B. Pflegeheime und Gesundheitseinrichtungen zu geschlossenen Anstalten macht, so der Kontrolle und Hilfe von außen entzieht und mit ihren Notständen an Personal, Material und Know-how im Stich lässt. Wie auch immer, das Sozialstaatsvolksbegehren 2002 war präventiv in jeglicher Hinsicht. Hätte man an ihm festgehalten, wären uns allen die Katastrophen da hier erspart geblieben. Gerade auch die ökonomischen. Wie auch immer, jetzt, jetzt ist das österreichische Klimaschutzvolksbegehren vorbildlich und beherzt. Die Eintragungswoche beginnt gleich nach dem Bachmannwettbewerb. Die Bachmann hätte sicher unterschrieben.

Interview für Literatur outdoors – Worte sind Wege, https://literaturoutdoors.com

Interview 5. Juni 2020

Die Welt braucht ...

das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren aus dem Jahr 2002.

Corona hat ...

die Katastrophen nicht verursacht. Die Katastrophen sind Menschenwerk. Die Folge von jahrzehntelangen Unterlassungen seitens der Regierung. In der Dritten Welt wie in der Ersten.

Literatur muss ...

Müsli. Und Kakao!

Himmel oder Hölle ...

Freiheit ist jene kleine Bewegung, die einen Menschen macht.

Wenn ich ein Diktator wäre, würde ich ...

Sie vielleicht! Ich nicht.

Ohne Sprache ….

Ja bitte! Gern!

Was schmerzt Sie?

Jede Minute stirbt eine Frau bei der Geburt ihres Kindes. Und jedes Mal, wenn wir mit den Augen blinzeln, verhungert ein Kind. Und 400.000 Kinder scheißen sich unter Krämpfen zu Tode, das ist die Zahl allein in Indien jedes Jahr. Alles Menschenwerk, nix Naturkatastrophe.

Für wen sind Sie gefährlich?

Den Gemeinen.

Was an Ihnen ist kindisch?

Die Nüchternheit.

Worauf warten Sie?

Sie haben völlig recht! Gemma! Sozialstaatsvolksbegehren wiederholen! Höchste Eisenbahn!

Interview für kulturMontag, ORF

Interview 27. Mai 2020

Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass Sie bei den diesjährigen tddl (Tage der deutschsprachigen Literatur) dabei sein werden? (Freue mich natürlich zusätzlich bzw. stattdessen auch sehr über ein Selfie mit dem dazugehörigen Gesichtsausdruck ;-))

Passt.

Was verbinden Sie mit den tddl?

Wort=Halten

Die tddl in Zeiten von Corona – wie haben Sie die letzten Wochen erlebt in Bezug auf Ihre Arbeit? Und: Sind Sie mehr zum Schreiben und Lesen gekommen?

Kein Unterschied. & Ein Gedicht ist, heißt’s, die Fassung, die man wiedererlangt. & Die Dörner-Experimente seit 50 Jahren: Computersimulationen: 1. Exp. fiktive kleine Stadt Lohhausen, 2. Exp. fiktives Entwicklungsland Tanaland, 3. Exp. reale Tschernobylkatastrophe. Die Versuchspersonen scheitern mit ihren Strategien und werden dadurch immer grausamer, die gewohnten Regelbrüche im Alltag führen zu Leid und Tod. Siehe gegenwärtig (ärger jetzt als bei Milgram-Exp. und Zimbardo-Exp.). Verdrittweltlichung der ersten Welt (z. B. ewiger, stets verleugneter Pflegenotstand), nicht durch die Flüchtlinge, sondern durch den Narzissmus der Eliten. Gegenmittel nach wie vor und mehr denn je: Paulo Freire, Erich Fromm, Günther Anders usf. An die Regierenden: Durch Testen ausselektieren und isolieren ist weder schützen noch behandeln, da fehlt noch was ... Nämlich was? Wissen Sie’s wirklich? Schonen, Helfen, Beistehen ...

Würden Sie ein Foto von ihrem Bücherregal machen?

Ist im Anhang.

Was war Ihre beste/Ihre ungewöhnlichste Lesung?

Liebe*r Fragesteller*in, Sie irren sich m. E. grammatikalisch: Gut ist nämlich der Superlativ. Auch Herr Kanzler Kurz irrt sich, wenn er so oft sagt, dass wir besser werden müssen. a) Er vielleicht. b) Andererseits: Durch die Kurzschen Methoden wird ja tatsächlich alles besser, aber nichts gut. (Man wird nicht meiner Ansicht sein.) Im Übrigen nehme ich an Veranstaltungen so gut teil, so gut ich eben kann.

Welches »Emoji« beschreibt Ihre derzeitige Stimmung?

Elefant im Regen und aber Unterschlupf bietend aufrichtigem Igel.

ORF/3sat-Interview für den Social-Media-Auftritt des Bachmannwettbewerbes 2020

Intervention 9. April 2020

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Mir ist bewusst, dass ich mich mit meinen Meinungen und Fragen sehr unbeliebt machen werde, zumal unsere Regierung zweifellos aus sehr guten Gründen sehr beliebt ist. Es ist aber meinerseits eine Sache des Gewissens. Die Regierungsverantwortlichen sagen ja ständig, es gehe jetzt einzig ums Leben retten, ums Existenzen retten, um nichts sonst. Und die jetzige Situation sei in der Geschichte ganz einfach noch nie da gewesen und daher seien Fehler ganz einfach unvermeidbar und man tue jetzt – immerfort dazu lernend – ja außerdem ganz gewiss das Menschenmögliche und Bestmögliche. Und offen und ehrlich sei man sowieso.

Es ist jedoch meines Erachtens völlig falsch, wenn dadurch politiker-seits so getan wird, als müsse man in den jetzigen Extremsituationen das Rad in einem fort neu erfinden und dabei mache man eben notgedrungen immer wieder etwas falsch. Das gehe gar nicht anders. Mit Verlaub: In Wahrheit ist das Rad längst erfunden. Jede Menge von im Moment noch tadellos intakten Rädern. Denn sehr viele Ausübende der helfenden Berufe arbeiten und leben tagtäglich – sozusagen seit jeher – gemeinsam mit den ihnen anvertrauten Menschen in extremen Extremsituationen und wissen sehr wohl, was in solchen Problem- und Extremsituationen zu tun ist. Und vor allem was man hingegen ganz gewiss n i c h t tun darf. Es gibt also für uns alle lebenswichtige Teilbereiche unserer Gesellschaft, die sozusagen immer schon im Guten wie in der Wahrnehmung des Schrecklichen unserer Zeit und Situation jetzt weit voraus waren. Im Richtig-Handeln. Im Nicht-Davonlaufen. Im Nicht-im Stich-Lassen. In der Fürsorglichkeit. In der Vorsorglichkeit. Es gibt daher z. B. bewährte, präventive, prophylaktische Helferstandards. Aber gerade diese bewährten Sorgfaltspflichten werden absurderweise von der angeblich Leben und Existenzen rettenden Politik gerade jetzt gebrochen und außer Kraft gesetzt. Nicht von Coronaviren, sondern von Politikerideen.

Sie werden mir gewiss widersprechen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler. Dennoch: Das Rad ist längst erfunden. Die Politiker sollten es jetzt bloß nicht kaputtmachen. Tun die aber. Weil die selber nicht wirklich kapieren, wie das Rad funktioniert. Z. B. 1. Die richtige, wirklich schützende Handhabung der Masken kapieren die nicht. Z. B. 2. Das Grausamkeitsverbot bei der Pflege von Menschen kapieren die nicht. Z. B. 3. Was Fehlerkultur bedeutet, kapieren die nicht. Und z. B. 4. Schon gar nicht kapieren die, was an Lebenswichtigem die Wissenschaft bedeutet, die Redlichkeit der Wissenschaft nämlich, und was an Lebenswichtigem die offene Gesellschaft bedeutet oder an Lebenswichtigem gar die österreichische Verfassung. 5. Die kapieren nicht, dass die das Gegenteil von dem tun, was die sagen. Oder die wollen nicht kapieren, dass die das Gegenteil von dem tun, was sie sagen.

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