Kapitel 1
Yleas Schritte hallten laut durch den Raum, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben den Gildensaal von Ayeris betrat. Ihr war etwas flau im Magen, als sie in die Gesichter der sieben Räte blickte, die sie teils neugierig, teils streng oder einfach unbeteiligt ansahen.
Einen Moment lang blieb sie unentschlossen im Eingang stehen, dann sammelte sie all ihren Mut und ging auf den runden Tisch in der Mitte der gigantischen Halle zu.
Der Raum wirkte insgesamt zu pompös und die sieben gewählten Gildenvertreter zu weltlich, um in dem Raum zu sitzen, in dem vor dem Elementarkrieg die Gottkönige gesessen hatten. Wuchtige Gemälde zwischen den deckenhohen Fenstern waren Zeugen dieser Zeit, in der die Kämpfe zwischen Menschen, Orks und Elfen die Länder verheert hatten. Bilder der Gottkönige, in deren Adern das violette Blut der Himmlischen floss, und die mit ihren drei goldenen Augen und dem seltenen, schwarzen Haar über die Menschen gerichtet hatten, starrten auf sie herab.
Ylea lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie an die Geschichten dachte, die sie schon als Kind gehört hatte. Wie die Gottkaiser mit ihrer Magie alle versklavt hatten, nur Magiebegabte wurden als würdige Untertanen akzeptiert. Als dann die Nichtmagischen rebellierten, waren die Kämpfe ausgebrochen und nur weil unter den Aufbegehrenden auch Magier waren, hatten die Sterblichen am Ende gesiegt.
Aber zu welchem Preis? Die Elementarmagie hatte soviel zerstört, dass der Wiederaufbau immer noch andauerte. Davon handelte das letzte Bild, gemalt in viel schmuckloseren Linien. Es zeigte, wie aus den Trümmern schließlich das Gildenforum entstand, dessen sieben Gilden jetzt die Geschicke des gesamten Volkes von Ayeris lenkten. Und nur eine der sieben Säulen war die Magie.
Es hieß zwar, die letzten Nachfahren der Gottkönige wären immer noch da draußen und würden auf Rache sinnen, aber das alles war so lange vor Yleas Geburt geschehen, dass es ihr wie ein Märchen erschien.
“Nun?” Eine tiefe, weibliche Stimme riss Ylea aus ihren Überlegungen und sie ließ polternd einen Arm voller Unterlagen auf den Tisch fallen, die sie hastig sortierte, bis sie die Karte gefunden hatte, mit der sie beginnen wollte.
Sie schluckte, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. Es war viel zu lange her, dass sie etwas getrunken hatte, aber das streng rationierte Wasser würde erst morgen wieder ihre Familie erreichen.
“Verehrtes Gildenforum, seit Jahren seid ihr auf der Suche nach neuen Quellen für Wasser, das seit den Elementarkriegen immer weiter versiegt. Die Quellen in den verwüsteten Ländern versiegen, die Magie hat den Boden ausgedörrt. Und wir können selbst die Quellen nicht mit Magie zu neuem Leben erwecken. Denn nach dem Verbot von Elementarmagie sind auch die Wassermagie-Wirkenden ausgestorben, die unsere Länder jetzt retten könnten.”
Ungeduldig fuhr ihr eine andere Frau ins Wort. ”Das wissen wir, Archivmagierin Ylea. Verschwendet nicht unsere Zeit.” Ylea blickte zu der hochgewachsenen Frau, deren dickes, schwarzes Haar in unzählige Zöpfe gebunden und dann hoch gesteckt worden war. Eine goldene Haarspange zeigte das Siegel der Händlergilde. Das musste Tiara Overreen sein, die begnadetste Händlerin der Republik.
Ylea hielt die Seekarte hoch, die sie herausgesucht hatte. “Ich habe Hinweise darauf gefunden, dass sich eine Enklave der Elementarmagie vor dem Anstieg des Meeresspiegels nach Halcyon zurückgezogen haben soll und dass sie einen Plan hatten, die Sintflut zu überleben.”
Neben die Seekarte legte sie ein paar alte Briefe, deren Papier so dünn geworden war, dass sie kaum noch lesbar waren.
“Hier ist die Korrespondenz, die ein Cousin dritten Grades mit einer Wassermagierin, die an dem Plan der Enklave beteiligt war, geführt hat. Der letzte Brief datiert auf das Jahr 45-7 im Jahr der Qualle, das dritte Jahrzehnt des Elementarkrieges.”
Interessiert griff sich ein Mann mit graumeliertem Bart die Briefe. Ylea kannte ihn als Zalanos, Oberhaupt der Magiergilde und Mann ihres Großonkels Varel. Mit keinem Blick ließ er erkennen, dass er Ylea als kleines Mädchen Huckepack getragen und erst beim letzten Sonnenfest Torte mit ihr um die Wette gegessen hatte. Das Gildenforum herrschte unabhängig von der Familie, zum Wohl der Republik.
“Wenn das stimmt, warum haben wir nie davon gehört? Wir sind davon ausgegangen dass Halcyon verloren ist, wie so viele Städte.”
Ein Elf in Lederrüstung griff sich die Seekarte und studierte sie aufmerksam. Ylea vermutete, dass es sich um Viané, das Oberhaupt der Wächtergilde, handelte.
“Das ist ein ganzes Stück im südlichen Meer, da ist seit den Elementarkriegen keines unserer Schiff mehr gewesen“, stellte er fest. Tiara pflückte ihm die Karte aus der Hand und musterte sie nun ebenfalls. “Hm, fern der üblichen Handelsrouten. Ich habe einige Gerüchte gehört. Obwohl es im südlichen Meer einige Städte gibt, die dem steigenden Meeresspiegel zum Opfer gefallen sind, und damit mögliche Schätze, meiden die Seeleute die Region. Unberechenbare See, Stürme, tückische Strömungen.” Sie blickte von der Karte auf und sah in die Runde. “Und Gerüchte über Seeungeheuer.” Tiara rollte mit den Augen, um zu zeigen, was sie von Seemannsgarn dieser Art hielt, und reichte die Karte dann an eine Orkin weiter, die einzige im Forum. Obwohl Orks mittlerweile gleichberechtigt waren, hatte nur die Farmergilde einen Ork als gewähltes Oberhaupt. Navra’ta legte die Karte wieder auf den Tisch ohne sie richtig anzusehen. “Mir ist es egal, selbst wenn es dort noch Seedrachen gibt. Das ist der erste Hinweis, den wir auf verbliebene Wassermagie haben, seit die Brunnen von Wayor versiegt sind.” Sie warf sich wieder auf den gigantischen Stuhl, der einmal ein Thron gewesen sein musste und blies sich die grünen Haare aus dem Gesicht. “Die Aquädukte liefern kaum noch genug Wasser, um die Felder zu bewässern, nicht mehr lange und das gesamte Gebiet um Ayeris wird von der verfluchten Wüste verschluckt. Dann können wir die Hauptstadt nicht mehr halten. Verdammt, wir wissen jetzt schon nicht mehr, wie wir genügend Trinkwasser in die Stadt bekommen.”
Ylea leckte sich über ihre trockenen Lippen. Das Problem war jedem Bewohner der Wüstenländer bekannt. Gewaschen wurde sich nur mit Meerwasser, dass sich trotz aller Bemühungen der Magier nicht in Trinkwasser umwandeln ließ. Durst war ihr ständiger Begleiter.
Viané runzelte die Stirn. “Ihr meint also, es wäre das Risiko wert, nach Halcyon zu suchen? Immerhin wissen wir nicht, wer oder was dort vielleicht versunken ist.”
Zalanos blickte von den Dokumenten auf, die er gesichtet hatte. “Selbst wenn es ein dünner Hinweis ist, es ist aktuell das Beste, was wir haben. Und das mögliche Wissen rechtfertigt jedes Risiko.” Seine Augen fanden die violett schimmernden Augen von Ylea. “Bist du bereit, die gefährliche Reise anzutreten?”
Erschrocken zuckte Ylea zusammen. “Ich?” Sie sah sich um und fand alle Blicke auf sie gerichtet. “Aber, ich bin nur Archivarin dritten Grades mit rudimentärer Magieausbildung!”
Harika Himmelsweis, Oberhaupt von Yleas Gilde, nickte Zalanos zu ohne die junge Frau zu beachten. “Eine sehr gute Idee, Ylea bringt das Wissen der Archivare mit und besitzt alle Kenntnisse, um Wassermagie und Hinweise auf sie zu identifizieren.” Die Elfe lächelte Ylea an. Zalanos seufzte. “Willst du mir wieder unter die Nase reiben, dass jemand mit ihrem magischen Talent lieber zu den Archivaren gegangen ist?”
Harika lachte nur, anstatt zu antworten, was Ylea keineswegs beruhigte.
“Aber ich wollte nur meinen Fund mit dem Forum teilen! Ich bin Archivarin! Ich habe die große Bibliothek kaum verlassen! Was soll ich denn gegen Seemonster tun?” Ylea warf Tiara einen hilfesuchenden Blick zu.
Die grinste breit. “Oh, kein Problem, ich kenne genau die Frau, die dich auf deiner Reise begleiten und beschützen kann.” Viané kicherte. “Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Eine hervorragende Idee! Aus vielen Gründen.”
Fassungslos setzte Ylea zu einem letzten Versuch an, sich aus der Situation herauszureden. In diesem Moment wünschte sie sich, sie hätte die Briefe und Seekarten in dem vergessenen Kellerraum gelassen, wo sie sie gefunden hatte. “Es gibt keinen Weg, die versunkene Stadt zu finden! So tief kann keiner tauchen. Und wir haben weder Wasser- noch Luftmagie, um diese Tiefe erreichen zu können.”
Einen Moment blieb es still und Ylea wähnte sich bereits siegreich.
Da erhob sich Ulfgor, Oberhaupt der Handwerker zu seiner vollen Größe, die für einen Duende, den Zwergen der Wüste, erstaunlich groß war. Immerhin reichte er Harika fast bis zur Schulter. Nachdenklich fuhr er sich durch seinen wallenden Bart. “Also, tatsächlich forschen wir da gerade an etwas …”
Kapitel 2
Mit offenem Mund stand Ylea wenige Tag später im Hafen und starrte das Schiff an, das auf sie wartete. Wenn man den riesigen Haufen Metall überhaupt Schiff nennen konnte. Neben ihr standen die Koffer und Taschen mit ihrer Ausrüstung, die sie mit der Kutsche hergebracht hatte.
“Ist sie nicht wunderschön?” Neben ihr war ein Duende aufgetaucht, nicht viel kleiner als sie, mit weit abstehenden spitzen Ohren, einer dunkelblauen Schiebermütze und einer pinkfarbenen Latzhose, die um seine Gestalt herumschlackerte. Ylea sah erst auf ihn, dann auf das Gebilde, das er mit verliebten Augen ansah.
Vor ihnen lag ein riesiger Fisch aus verschweißten Metallplatten im Wasser, in den Fenster aus Kristall eingelassen waren, so dass die Insassen herausschauen konnten. Er hatte sogar eine riesige Heckflosse, die sich, wenn Ylea es richtige erkannte, horizontal und vertikal steuern ließ. An der Seite befand sich eine Leiter, mit der sie aufs Dach steigen und in den Fisch klettern konnten sowie weitere Steuerungsflossen.
Ylea hatte noch nie in ihrem Leben etwas Derartiges gesehen, war sich aber nicht sicher, ob sie der Konstruktion trauen sollte.
Der Duende schien keinerlei Bedenken zu haben, denn er klopfte zuversichtlich gegen das schimmernde Metall.
“Die Perla wird uns sicher nach Halcyon bringen.”
Interessiert sah Ylea ihn an. “Bist du ein Mitglied der Crew? Ich bin Ylea.” Sie hielt ihm die Hand hin, aber der Duende brach bei ihren Worten in so wieherndes Gelächter aus, dass Ylea es sich anders überlegte und ihre Hand schnell zurückzog. Mehrfach versuchte der Duende etwas zu sagen, seine Worte wurden aber immer wieder von seinem Lachen verschluckt. Ungeduldig hüpfte Ylea von einem Fuß auf den anderen, bis er wieder fähig war, einen Satz herauszubringen.
“Crew?”, kicherte der Duende. “Ich bin der Kapitän, der Steuermann, der Mechaniker, der Koch, die Kraft für alles.”
Ylea blickte ihn ungläubig an. “Aber… kann denn eine Person das alles? Ich dachte, es gäbe ein großes Expeditionsteam.”
“Du arbeitest das erste mal für das Gildenforum, Schätzchen?”, fragte eine Stimme hinter ihnen.
Der Duende und Ylea drehten sich um.
Eine athletische Elfe mit einem geschulterten Seesack stand vor ihnen. Sie hatte eine wilde Kurzhaarfrisur, die ihre Haare wie eine knallgrüne Flamme abstehen ließen, und die größten grünen Augen, die Ylea je gesehen hatte. Ihre dünnen Lippen kräuselten sich amüsiert.
“Ich bin Emeryl, Tiaras Nichte.” Ihr Blick blieb einen Augenblick auf Ylea ruhen, die unsicher an einem ihrer beiden geflochtenen Zöpfe spielte. Dann sah sie den Duende an. “Hey Bricco. Lassen sie dich dein Spielzeug wirklich testen?” Die schwarzen Augen des Duendes glänzten. “Ja! Endlich! Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt. Zu unsicher hieß es!” Er räusperte sich und imitierte Ulfgors Stimme. “Das Tauchen überlassen wir den Fischen, Bricco, mein Junge. Bau doch mal etwas Sinnvolles, als dein Talent immer mit solchem Unsinn zu vergeuden.”
Ylea wich alle Farbe aus dem Gesicht. “Moment mal, das heißt, das Ding ist noch nie getaucht?!”
Beleidigt sah Bricco sie an. “Was heißt denn hier Ding?”
Wieder streichelte er über das Metall. “Ich habe immerhin mehrere Jahre Forschung in Perla gesteckt und ich verspreche dir, sie findet deine versunkene Stadt.”