SAMA MAANI • ŽIŽEK IN TEHERAN

SAMA MAANI

Žižek in Teheran

Roman

DRAVA

Die Herausgabe dieses Buches erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Stadt Wien

image

image

DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH

9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Telefon +43(0)463 501099

office@drava.at

www.drava.at

Lektorat: Bettina Mirus

Copyright © dieser Ausgabe 2021 bei Drava Verlag

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

ISBN 978-3-85435-954-8 (Print Ausgabe)
ISBN 978-3-85435-981-4 (Epub)

- in alter Rechtschreibung -

1

Nachdem er sich hingelegt hat

Nimmt sich der Gefängnisarzt Zeit

Um sich auf der Couch einzurichten

Klopft das Kissen zurecht, fährt sich mit den Händen

An der Hose entlang, dann durch’s Haar

Dann fällt ihm ein, daß er die Schuhe ausziehen will

Wie oft habe ich gesagt, daß er die Schuhe nicht ausziehen braucht

Es nervt, daß er glaubt für

Diese Art „Analyse“

Sich auf der Couch auch noch einrichten zu müssen

Und ich betone Diese Art „Analyse“

Und setze Analyse in Anführungszeichen

Sofern man Worte, die man denkt, betonen

Respektive in Anführungszeichen setzen kann.

Es nervt, und schon beginnt er zu reden

Die gewunderten Vögel belästigen ihn. Sie sind aus den Resten ehemaliger Vorhöfe des Himmels gebildet, also selig gewesener Menschen. Sie können nichts als sinnlos auswendig gelernte Phrasen herzusagen. Jedesmal, wenn sie die eingebläuten Phrasen abgeleiert haben, gehen sie mit den Worten

Verfluchter Kerl!

in seiner Seele auf, den einzigen Worten, deren sie, um eine echte Empfindung auszudrücken, fähig sind. Den Sinn der Worte verstehen sie nicht, haben aber eine

Empfänglichkeit für den Gleichklang der Laute.

Es macht für sie wenig Unterschied, ob man sagt:

Santiago oder Carthago

Chinesentum oder Christentum

Abendrot oder Atemnot

Ackermann oder Ariman

Ariman?

2

Ich litt, als ich nach Teheran kam

An einer Bronchitis, die ich mir bei einer Nutte geholt hatte

In Graz

Bei keiner gewöhnlichen allerdings

Ingeborg.

Wie alle Grazerinnen mit germanischen Namen

Gudrun

Gerlinde

Friedrun

Anstatt eines anständigen christlichen

Stammt Ingeborg aus einer Faschistenfamilie

Hör auf mit deinem Faschismus!

Mit meinem, LeserIn?

Die du glaubst über Graz

Oder dich

Etwas zu wissen

Was nicht heißt, daß nicht auch die anderen, mit den christlichen Namen

Franziska

Gabriela

Johanna

Von Faschisten abstammen könnten

Ausschließen

Sollte man schon gar nichts in Graz.

Und in Teheran auch nicht.

Aber ich meine, wenn ich

Keine gewöhnliche Nutte sage, was anderes.

Vor Jahren, als sie studierte

Chemie oder Biologie, es interessierte mich nicht

Jobbte sie

Im Sommer als Eisverkäuferin, in der Fußgängerzone

Ich flanierte, was man damals noch tat

Oder es schien so

Ich schleckte am Pistazieneis

Sie sagte

Ich schreibe

Später veröffentlichte sie Romane

Die Menschenverwalterin (u.a.)

Ich führte neben meiner Existenz als Analytiker

Der ich damals nicht war

Ein Leben als Schriftsteller, von dem niemand wußte

Die einzige Ingeborg.

Als ich sie kennenlernte, hatte Ingeborg einen Freund

Ich durfte nur küssen

Und steckte ein paar Mal

Den Finger in den Po, nicht ohne pistaziengrün

zu sagen Zu ihren Augen

In Teheran gibt es keine Fußgängerzone

Aber eine Viertelmillion Nutten

90% der Frauen in Teheran sind Nutten

Behauptet die Schwester, sagt aber Prostituierte statt Nutten.

Später

Als wir ein Liebespaar wurden

Mit Unterbrechungen dreieinhalb Jahre

Mehr Unterbrechungen als Jahre

Wenn man ein Doppelleben führt, lebt man länger

Doppelleben führten wir beide

So schienen die Jahre

Mit Unterbrechungen

Doppelt mal doppelt so lang.

So ein Schwachsinn, sagt Mutter

Während die Schwester ihr iPhone zückt

Um den Standard-Artikel zu finden

In dem das mit den 90% stehen soll

Laß sehen, sagt Mutter

Die Schwester liest vor

90% aller Prostituierten in Teheran haben Matura.

Nach Ablauf der dreieinhalb Jahre hatte sie einen andern

Ich gehöre ihm, sagte sie, nur ihm

Mit Betonung auf nur

Er war verheiratet

Dann verfiel sie auf die Idee, daß sie ihm so sehr gehörte

Daß er das Recht hätte, sie zu verdingen

Sie sagte verdingen, nicht verkaufen

Ich kaufte (in unregelmäßigen Abständen)

Daher die Bronchitis

Die ich mir am Abend vor meiner Rückkehr nach Teheran holte.

In den dreieinhalb Jahren

In denen wir ein Liebespaar waren

(Mit Unterbrechungen, mehr Unterbrechungen als Jahre)

Redeten wir über Romane

Die wollten wir schreiben

Gemeinsam oder jeder für sich

Die Romane sollten aufeinander verweisen

In den Romanen ging es um Graz

Und um Teheran

Graz hieß Miesen, Teheran Braunland.

Wann immer Ingeborg

In meinen Armen lag

In den dreieinhalb Jahren (mehr Unterbrechungen usw.)

Nannten wir sie braunländisches Mädchen

Und stellten uns vor, sie empfängt mich

An der Grenze zwischen Teheran und Nicht-Teheran

Sollte ich je zurück.

3

Ich bin impotent, sagte er

Ohne daß er angerufen hätte oder ein E-Mail geschickt

War er einfach gekommen

Ich bin impotent

Stand

Hinter dem niedrigen Zaun

Aus Holz, der für einen Garten in Teheran ganz untypisch ist

Wie auch der im Garten stehende Container

In dem sich meine Ordination für Psychoanalyse befindet

Für Teheran ganz untypisch ist

Wie es für Teheran

Überhaupt ganz typisch zu sein scheint

Daß dort ständig Dinge passieren

Die für Teheran (eigentlich) ganz untypisch sind.

Als es läutete, dachte ich

Es ist der Postmann

Weil ich einen Brief erwarte, ich gestehe

Von Ingeborg.

Ich bin impotent

Der Gefängnisarzt trägt ein gelbes Hemd und ein grünes Sakko

Oder umgekehrt

Jedes für sich schon unendlich geschmacklos

Ich bin impotent, quasi als Begrüßung

Wäre untypisch auch in Graz

Sonst

Machen mich professionelle Kontakte nie verlegen.

Über den Kiesweg

Folgt er mir zum Container

Und durch das Wartezimmer und eine Tür in einer Trennwand

Bestehend (die Tür, nicht die Trennwand)

Aus einer Gipskartonplatte, einer Spanplatte und einer Akustikplatte

In den Behandlungsraum.

Setzen Sie sich

Er scheint verwirrt, das heißt sein Äußeres

Wie Columbo

Aber nicht so intelligent

Obwohl Columbo auf den ersten Blick auch nicht intelligent wirkt.

Möglich, daß ich seine Hose anstarre

Weil sie mich, obwohl grün, an die Hose

Meines Analytikers, meines Lehranalytikers, erinnert

Kinz, in Graz

Den sie Rote Hose nannten

Was den Gefängnisarzt, hätte er es gewußt

In der Vorstellung

In der Psychoanalyse geht es immer um Sex

Bestärkt hätte.

Dieselben Nerven sind im Frühjahr in den Leibern von Finken, im Sommer in denjenigen von Schwalben, im Winter in denjenigen von Sperlingen oder Krähen. Nach der mir wohl bekannten Klangfarbe ihrer Stimmen sowie nach den ihnen eingepfropften Redensarten, steht die Identität der betreffenden Seelen für mich außer Zweifel.

Was reden Sie da?

Will ich sagen, sage aber nix

Das wäre unanalytisch

Aber einmal muß ich es sagen

Und werde.

Wann immer er nicht über seine Impotenz spricht

Spricht er

Als zitierte er aus einem Buch

Geschrieben von einem Verrückten

Aber höchst Intelligenten.

Was immer aber der Gefängnisarzt sein mag

Verrückt ist er nicht.

Das Buch, das der Gefängnisarzt zitiert

(Aber warum, in Gottes Namen, macht er das?)

Scheint eine Übersetzung zu sein

Aus einer europäischen Sprache (vermutlich)

Daß es sich um eine Übersetzung handeln muß

Merkt man Übersetzungen in die Sprache Teherans sofort an

Schneller zum Beispiel

Als man es einer Übersetzung ins Deutsche anmerken würde

Wenn überhaupt.

Die Möglichkeit, die Vögel durch das Zusammenwerfen ähnlich klingender Worte zu verwirren, hat mir oft als eine Art Kurzweil dienen und mir eine sonderbare Unterhaltung bereiten können. So scherzhaft das klingen mag, so hatte die Sache für mich auch eine ernste Bedeutung. Der obere und der niedere Gott, die ebenso gut wie ich von der Eigenart der gewunderten Vögel, auf gleichklingende Laute hineinzufallen, unterrichtet sind, spielen diese Eigenart wechselseitig gegeneinander aus. Beide haben das Bestreben, sich zurückzuhalten und immer den anderen Teil vorzuschieben; da nun durch das Hereinfallen der Vögel auf den Gleichklang jedesmal die Anziehung desjenigen Teils beschleunigt wird, zu dessen Lager die betreffenden Stimmen gehören, so läßt der obere Gott von den Personen meiner Umgebung mit Vorliebe solche Worte sprechen, die dem Stimmenmaterial des niederen Gottes angehören und umgekehrt, während ich, da mir an einer Vereinigung aller Strahlen gelegen ist, stets entsprechend entgegenzuwirken suche.

Übersetzung

Aber noch etwas anderes

4

Gedicht

Alle Teheraner sind Dichter

Auch ich

Und immer ichter

Von Kindesbeinen

Mit Kinderreimen

Graz reimt sich

Auf Teheran nich

t

Auch icht

Nicht

Wenn ich Ingeborg

Fickte

Ich den Namen

Einer Faschistin

Aber Ingeborg ist nicht

Faschistin

Ja! Natürlich

Sondern Ökologin, Esoterikerin, Feministin

Wie alle Grazerinnen

Bioresonanz

Ich fickte, wenn ich Ingeborg fickte

Im Dienste der Geschichte

Als wäre ich Jude

Aus Rache

Ein schon merklich schwächelnder Alter sagt

Geh

Im Stadtpark, in Graz

(Wunderschön übrigens)

Zu einem Halb-Afrikaner

Geh zurück!

Ich springe und reiße den Pensionistenhut vom Schädel

Und spucke

Wer weiß, hätte ich in weiterer Folge gewürgt

Als der Parkwächter kam.

Wäre ich nicht Analytiker, ich hätte gewürgt

(War ich damals aber eh noch nicht)

Ich hasse Menschen

Sagt Ingeborg

Bei Gelegenheit

Und zahlreiche Analysanden

Dennoch liebte ich

Lakritzentötung

War der Roman eines Grazers

Der Sechziger

Dessen Übersetzung in die Sprache Teherans

Drückten sie mir im Teheran

Der Siebziger (ich m.o.w. Kind)

In die Hand

Gedicht

Ich bin

Will aber nicht

Ein anderes aber war

Ein anderes aber Mutter

Seelenallein

Aber wahr

Sätze wie diese

In der Lakritzentötung

Zerstörten meine Kindheit

Ich wollte Dichter sein

Ich sagte

Als wäre ich Jude

Mit Betonung auf wäre

Daß ich kein Opfer bin, ist nicht wahr

Von Graz, aber das macht doch nicht froh

Und fickte Ingeborg

Aus Rache

Für Verbrechen, die sie gar nicht begangen

Eh net

Noch ihre Eltern

In Graz

Und in Teheran

Sucht Geschichte nach Ausdruck.

Wie der Geschichtelehrer in Graz

Der Volksdeutsche, aus dem Mund riechende, aus Siebenbürgen Stammelnde

Gesagt haben wird

In Siebenbürgen schießt auf einmal die Erde aus dem Boden heraus

Ganz genauso

Schießen in der Lakritzentötung

Auf einmal Gedichte aus der Prosa

Gottseitig bloß

Wenn sie sich treffen

Zum Abendrausch

Die Lakritzentötung handelt von einem Schloß

Im Süden (von Graz?)

Auch wenn eine Handlung als solche

Wie in allen Grazer Romanen nicht existiert.

Zwei Sorten Menschen bewohnen das Schloß

Die Innen- und die Außenbewohner

Was sie voneinander unterscheidet, weiß man nicht recht

Dürfen sich doch die Außenbewohner

Auch im Inneren bewegen, ja dies Innere sogar bewohnen

Gesetzt sie beherrschen

Den Lakritzencode.

5

Neulich, sagt der Gefängnisarzt, hab’ ich eine kennengelernt

Die mit mir intim werden wollte

Ständig, sage ich, lernen Sie eine kennen

Die mit Ihnen intim werden will

Ständig, sagt der Gefängnisarzt.

Warum, denke ich, warum lerne ich keine kennen

Die mit mir intim werden will?

Eine Musikerin, Oboistin vom

Teheraner Symphonieorchester

Das Symphonieorchester gibt es nicht mehr, denke ich

Sag’ aber nix

Beim Joggen hab’ ich sie von hinten erkannt.

Von hinten? Erkannt?

Ich kenn’ sie vom Fernsehen

Weil, wissen Sie, dieses Blond

Ich meine, Blond ist ja in Teheran gar nicht so selten

Dieses besondere Blond aber schon

Golden Brown

Der Gefängnisarzt singt jetzt

Texture like sun

Lays me down

With my mind she runs

Throughout the night

No need to fight

Golden Brown

http://www.youtube.com/watch?v=d7R7q1lSZfs

Golden brown, will ich sagen, ist nicht blond, sondern braun.

Sag aber wieder nix

In den letzten Stunden

Hat der Gefängnisarzt begonnen, gelegentlich zu singen

Ich soll alles sagen, sagt er, was mir einfällt

Und wenn mir eine Musik einfällt?

Schon fällt ihm eine Musik ein

Raftam be Sahra

Didam Ghoorbaghe

Goftam Ghoorbaghe!

Damaghet chaghe!

Dála Lalálay

Láy Lálam

Ich ging aufs Feld

Und sah die Kröte

Und sagte Kröte!

Schaust aus wie Goethe!

Dála Lalálay

Láy Lálam

Seitdem singt er

Bevor, während und nachdem er über seine Impotenz gesprochen hat

Mindestens einmal pro Stunde

Beim Joggen ist sie mir zu schnell

Ich kann sie nicht einholen

Einmal sitze ich

Auf der Parkbank und warte

Sie wird langsamer, ich sprinte

Und hole sie ein.

Was machen Sie außer Joggen?

Daß ich weiß, daß sie Oboistin ist, sag’ ich nicht

Paintball, sagt sie

Wir treffen uns

In der Sport-Bar ihres Paintball-Clubs

Female Justice

Die haben Sie dort reingelassen?

Als Mann?

Es gibt dort Männer zuhauf.

Wenn Sie wer fragt, sagen Sie

Ich bin Trainer

Es fragt aber niemand

Einen besseren Ort

Um Frauen anzumachen als Sport-Bars

Gibt es im ganzen Teheran nicht

Schick sind sie obendrein

Hallo, sage ich und setze mich

Und

Ich bin impotent

Sie schüttet mir

Das Bier ins Gesicht.

Das Bier

Dann packt sie mich, Sie entschuldigen, am Schwanz

Das weißt du erst, wenn du mich gehabt hast.

6

In ihrer Wohnung

Fängt sie an, sich zu wehren

Eine Tussi aus Nord-Teheran

Ich muß sie aber haben

Sie legt Musik auf, keine klassische

Wir trinken Whiskey mit Wasser

Ihre Stimme nervt

Ich werde zudringlich.

Was erwartest du von einem Mann?

Sie kichert, ihr Haar ist fantastisch

Frauenhaare sind meine einzige Chance

Gegen

Sie wissen schon …

Gegen die …

Genau, aber das war früher

Ich küsse und öffne

Den Reißverschluß

Dann ist es aus.

Es ist aus

Sie weiß ja, daß ich impotent bin

Ich sage es allen im voraus

Und jede glaubt, nur sie

Kann Sie heilen

Ich öffne den Reißverschluß

Und schäle den Oboistinnen-Po wie einen Apfel

Aus der Schale

Dann ist es aus

Sie gehen?

Ich bleibe und rieche

An der Strumpfhose und diskutiere

Über Gott.

Über Gott?

Muß sie irgendwie ablenken

Musikerinnen, wissen Sie, haben’s in Teheran zumal

Irgendwie mit Gott

Gott ist nur Nerv, nicht Körper, demnach etwas der menschlichen Seele …

Nicht schon wieder!, denke ich

Die Gottesnerven besitzen die Eigenschaften der menschlichen Nerven, in einer alle Begriffe übersteigenden Potenz. Sie haben die Fähigkeit, sich umzusetzen in alle möglichen Dinge. In dieser Funktion heißen sie

Strahlen.

Zwischen Gott und den Sternen besteht eine innige Beziehung. Ich wage nicht zu entscheiden, ob man sagen darf, daß Gott und die Sternenwelt dasselbe sind, oder ob man sich die Gottesnerven als etwas über und hinter den Sternen – und demnach die Sterne und unsere Sonne nur als Stationen – vorzustellen hat, auf denen Gott den Weg zu unserer Erde zurücklegt.

Das Buch, das der Gefängnisarzt zitiert

Muß eine Übersetzung sein, ich sagte es schon

Aus einer europäischen Sprache vermutlich

Und einer Sprache (ich werde es später kapieren)

Einer anderen Zeit.

7

Warum er

Die Frauen überhaupt jagt, will ich wissen

Und davonläuft, bevor er mit ihnen –

Das sollten Sie mir sagen

Sagt’s

Und kippt schon wieder

Ins Verrückte

Die licht- und wärmespendende Kraft der Sonne, die Ursache alles Lebens, ist eine Lebensäußerung Gottes. Weshalb denn auch die der Sonne gezollte göttliche Verehrung zwar nicht die volle Wahrheit in sich schließt, aber doch einen, von der Wahrheit nicht allzu weit sich entfernenden, Kern derselben – Es reicht!

Sie reden entweder über

Impotenz

Oder kippen in dieses Gerede

Über Gott und die Strahlen und …

Das ist doch verrückt!

Ich soll doch sagen, was mir einfällt

Das sind keine Einfälle

Das müssen Sie auswendig gelernt haben

Das sind die Worte eines Verrückten

Aber eines höchst intelligenten

Aber Sie … sind nicht verrückt.

Weder verrückt

Noch höchst intelligent

Wollte ich sagen, sag’ aber nix.

Der Gefängnisarzt

Will aufstehen

Tut leid, aber ich kann nicht mehr kommen.

Kann nicht kommen, kann auch noch etwas anderes heißen

Ich weiß, aber ich geh’ jetzt.

Macht er in der Analyse das gleiche wie bei den Frauen?

Daß er von Gott spricht oder geht

Um von der Impotenz abzulenken?

Warum kommt er mir

Aber überhaupt mit der Impotenz

(So wie er’s den Frauen ja eh auch erzählt)?

Warum kommt er in Analyse?

Nach den Stunden

Kann ich mich an keinen einzigen Satz

Dieses verrückten Textes erinnern.

Eine Wolke umhüllt mich, wenn er von den Wolken

Und Vögeln und Nerven und Gott spricht

Ist er weg, ist die Wolke und mit der Wolke

Sind Gott und die Vögel und Nerven

Dahin

8

Der Gefängnisarzt kommt nicht

Sein Platz auf der Couch

Ist leer

Ich habe ihn (noch) nicht vergeben

Ich liege montags, mittwochs, freitags, Punkt zwei

Auf der Couch

Und schließe die Augen

Die durch den Läuterungsprozeß gereinigten Seelen steigen zum Himmel und gelangen zur Seligkeit. Die Seligkeit besteht in einem Zustand

ununterbrochenen Genießens

verbunden mit der Anschauung Gottes. Für den Menschen würde die Vorstellung eines ewigen Nichtstuns etwas Unerträgliches bedeuten, da für ihn erst die Arbeit das Leben süß macht. Allein man darf nicht vergessen, daß die Seelen etwas anderes sind als der Mensch. Für die Seelen bedeutet das fortwährende Schwelgen im Genuß und zugleich in den Erinnerungen an ihre menschliche Vergangenheit das höchste Glück. Dabei sind sie in der Lage, im Verkehr untereinander ihre Erinnerungen auszutauschen, und vermittelst göttlicher Strahlen von dem Zustand auf der Erde lebender Menschen, für die sie sich interessieren, Kenntnis zu nehmen.

Zurückzuweisen ist die Vorstellung, daß das Glück der Seelen durch die Wahrnehmung, daß ihre noch auf der Erde lebenden Angehörigen in unglücklicher Lage sich befinden, getrübt werden könnte. Denn die Seelen besitzen zwar die Fähigkeit, die Erinnerung an ihre eigene menschliche Vergangenheit zu bewahren, nicht aber neue Eindrücke, die sie als Seelen empfangen, auf eine irgend in Betracht kommende Zeitdauer zu behalten. Dies ist

Die natürliche Vergeßlichkeit der Seelen

welche neue, ungünstige Eindrücke alsbald bei ihnen verwischt.

Auf einmal erinnere ich mich, LeserIn

An den Text des Gefängnisarztes

D.h. nicht des Gefängnisarztes, sondern dieses intelligenten Verrückten

Hat es bloß des leeren Platzes bedurft?

Auf der Couch?

Ich liege auf meiner psychoanalytischen Couch

Und die Wolken, die mich umhüllten

Wenn er von Nerven und Vögeln und Gott sprach

Umhüllen mich wieder

9

Es stimmt aber nicht, daß ich in den

Noch immer!

Für den Gefängnisarzt reservierten Stunden

Immer nur auf der Couch, auf seinem leeren Platz, liege

Und an den Text denke

Im Garten

In dem der Container steht

In dem sich meine Ordination für Psychoanalyse befindet

Läßt es sich bestens flanieren

Am Container vorbei führt ein Weg

Zur hinteren Mauer, ein Kiesweg, ich treffe dort

Die Narzisse

Und grüße.

Beim Sprechen mit Narzissen

Verlasse ich mich auf das Wissen der Mutter

Und Freuds

Narzisse, Osterglocke, Familie der Amaryllisgewächse

1560 bis 1620, orientalische Phase der Gartenkultur

Narzisse, von griechisch ναρκειν

Betäuben, Narkose, Dichternarzisse

(Freud hatte

Natürlich

Recht, daß die Texte der Dichter Narkotika sind)

Deren Zwiebel enthalten die giftigen Alkaloide Narcissin und Narcipoetin

Narcissin

Narcisse

Narkose

Narcipoetin

Narko-Poet

A Narkopoet

Anarcho-Poet

Der Anblick der Narzisse

Löst eine Assoziationskette aus, eine Kaskade von Erinnerungen

Und am tiefsten Punkt

Steht der Name

Der Narges

10

Nostalgie, sagte mein Lehranalytiker Kinz

Nicht in der Analyse, sondern im Café Rainer, in Graz

Wo wir uns zu treffen pflegten

Um zu kiffen und das

Steirische Institut für Psychoanalyse

Zu administrieren

(Das Institut bestand aus meinem Lehranalytiker Kinz, meiner Wenigkeit

Und einem jungen Theologen

Der in der Lehranalyse dekompensierte

D.h. daß er den Glauben verlor und glaubte

Daß er wahnsinnig sei

Den pflegten wir wöchentlich in der

Centralanstalt für Geisteskrankheiten der Jugend

Der

C.G. Jung-Klinik Graz

Zu besuchen)

Nostalgie, sagte mein Lehranalytiker Kinz

Ist ein von Anfang mißverstandenes Wort.

Schon

Dr. Johannes Hofer

Der das Wort 1688 aus νόστος, nóstos, Heimkehr

Und άλγος, álgos, Schmerz zusammengesetzt hätte

Ein Schweizer, um eine Krankheit von Schweizern zu beschreiben

Die sich von ihren Heimatkantonen entfernt hatten

Schon Dr. Hofer hätte, so mein Lehranalytiker Kinz

Das von ihm selbst erfundene Wort

Mißverstanden

Und sei im übrigen der Überzeugung gewesen

Nostalgie betreffe ausschließlich Schweizer.

In Wahrheit sei Nostalgie, so mein Lehranalytiker Kinz

Der Schmerz des Heimkehrenden

Und nicht, wie alle seit und mit Dr. Hofer glauben

Die Sehnsucht nach der Vergangenheit oder der Heimat.

Was schmerzt den Heimkehrenden?

Narges heißt in der Sprache Teherans Narzisse

Meine Aufmerksamkeit

Erregt eine Stelle an der Außenwand des Containers

Der kein Container ist, sondern ein

Portacamp

Das Wort hatten wir

Seit Jahren nicht mehr

Oder ist es die Narzisse, die erregt?

Oder erregt ist?

Ich errege sie jedenfalls nicht.

Weshalb ich mich von ihr abwende

Formlos

Und gehe zu jener Stelle

An der Außenwand des Containers, der kein Container ist

Sondern ein Portacamp

In dem sich meine Ordination für Psychoanalyse befindet.

Es ist noch da

Und in Konturen erkennbar

Das Gekritzel an der Außenwand des Portacamps

Das Narges anlocken sollte

Oder abekeln.

Daß der Heimkehrende heimkommt

Und alles ist, wie gehabt

An seinem Platz

Das, LeserIn, ist Nostalgie

Der Schmerz des Heimkehrenden

11

Als ich das Portacamp sah

In dem sich jetzt meine Ordination für Psychoanalyse befindet

Wußte ich.

Ich stehe am niedrigen Zaun

Aus Holz, der für einen Garten in Teheran

Ganz untypisch ist

Und warte auf den Vermieter

Einen Teheraner Alt-68er

Geringeltes schlohweißes Haar, Designerbrille

Immerhin.

Das Portacamp

Habe er in der Deponie eines Altwarenhändlers erworben

Portacamp sagt er natürlich nicht

Sondern Container

Zu bewohnen, Industriecontainer, sei in Teheran

Eine Zeit lang groß in Mode gewesen

Das ist kein Container, sage ich

Und suche einen Beleg dafür

Daß der Container kein Container gewesen sein kann

Sondern ein Klassenzimmer

Den Container habe er gekauft

Nicht wegen jener Mode der Nullerjahre bei den Teheraner Bobos

Im Container zu wohnen

Sondern wegen des Recycling-Gedankens

Und um gegen die Immobilien-Mafia

Ein Zeichen zu setzen

Die gefährlicher sei als das ganze Regime

Er sei Umweltaktivist

Und Architekt

Und habe aus dem Container

Eine Wohnung gemacht, eine Behausung

Sei das freilich nicht, sondern Kunst.

Es ist noch

In Konturen erkennbar

Das Gekritzel an der Außenwand des Portacamps

Das Narges anlocken sollte

meine mene tekel u parsin

Es spricht

Die Narzisse

Lispeln und Wispeln, niemand darf es wissen

Geh hin!, sagt sie

Und weiß, daß ich weiß

Das Wohin?

Das ich (verzweifelt) rufe

Hilft nichts

Ich weiß

Und ich weiß, daß sie weiß

Daß ich muß

An den Ort.

Ich will aber nicht.

Ohnehin liegt sie

Das hatte ich schon der Annonce des Vermieters entnommen

Um die Ecke

Die Deutsche Schule

Jetzt natürlich

Das Internat für Islamische Mädchen

Geil, gell?

Ich will aber nicht.

12

Den Haupteingang meide ich

Um am Seiteneingang zu stehen

Und zu warten

Daß

Sesam öffne Dich!

Ein Wunder passiert

Und heraus

Treten zwei islamische Mädchen

Voller Kraft durch Freude

Der Jugend

Sympathisch

Aber unendlich hübsch sind sie nicht

Leuchtende Haut und rotbraune Haare

Kopftücher nach oben und hinten versetzt

Woher kommen Sie?

Was für Teheran typisch zu sein scheint, LeserIn

Als Auslandsteheraner

Wirst du von InlandsteheranerInnen

Sogleich als solcher erkannt

Typisch, erklärlich aber nicht.

Aus Graz

Die Mädchen

Sind natürlich beeindruckt

Und verstummen sogleich

Graz enthält

Zwei mal zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Konsonanten

Gr und ts

Hingegen die Sprache Teherans

Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Konsonanten nicht kennt

(Es sei denn, es geht ihnen ein Vokal voraus

Enqelab

Erteja’

Enteha

Revolution

Reaktion

Ende)

Die Mädchen

Halten Bücher in ihren leuchtenden Händen

Ein Buch pro islamisches Mädchen

Und lachen

Den einen Titel

Die Nonne von Diderot

Bin ich imstande (mit ein paar Verrenkungen) zu erkennen

Und wundere mich

Das braucht Sie gar nicht zu wundern, sagt Schirin

(So heißt das eine islamische Mädchen)

In der Bibliothek haben wir lauter solche Bücher

Kommen Sie!

Ich erröte

Und wir betreten das Areal

Der Deutschen Schule von Teheran

13

Gleich

Nachdem wir das Tor passiert haben, das blechblaue

Biegen die Mädchen nach links.

Ich hingegen

Blicke verstohlen nach rechts

Wo noch immer

Ein Portacamp steht

In dem sich damals unsere Klasse befand

Das aber eigentlich

Im Garten bei mir stehen und in dem ich

Psychoanalytisch ordinieren sollte.

Und auch der Zwischenraum

Ist immer noch dort

D.h. die Zwischenräume zwischen Portacamp

und Hecke Und Hecke und Mauer.

Ich folge aber den Mädchen nach links

Auch dort steht etwas noch immer

Das kleine, längliche Häuschen

Der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher

Alles ist, wie es war

(Oder nicht wie es war, sondern ich, wie ich war?)

Wobei mit in der Sprache Teherans verfaßten

Nicht nur in der Sprache Teherans verfaßte

Sondern auch

In die Sprache Teherans übersetzte

Bücher gemeint sind, wie Die Nonne zum Beispiel

Ich folge natürlich den islamischen Mädchen

Aber meine Blicke wollen natürlich

Nach rechts

Unser Lager

War zwischen Hecke und Mauer

Narges war das Opfer

Die Narzisse.

Wie auch immer

Ich folge den Mädchen

(Wie immer)

Zu dem Häuschen

Auch dieses hat sich

Natürlich

Überhaupt nicht verändert

Nur der Rahmen des Fensters

An der Längsseite

Der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats

Islamischer Mädchen

Eines Ziegelsteinbaus

Ist jetzt rot.

Im Fenster hängt ein transparentes Papier

Das es fast zur Gänze bedeckt

Und auf dem etwas steht

Der Text wird, wenn es denn einer ist

Von farbigen Rechtecken unterbrochen

Vermutlich von Fotografien.

Schirin nimmt meine Hand

Und/oder ihre Kommilitonin

Und führt mich

In das Häuschen

Der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen

Aber weder betreten wir eine Bibliothek, LeserIn

Noch ist es ein Häuschen

Auch wenn es, von außen betrachtet, ein solches zu sein scheint

Wir passieren also die Türe

Des Häuschens

Der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen

Um uns

Auf dem Haupt- oder Marktplatz einer Kleinstadt zu befinden

Könnte Graz sein

Ist es aber nicht.

Draußen ist

Oder war gerade

Hellichter Tag

Hier: später Abend

Wir sind, genauer gesagt, auf dem Bühnenbild einer

Soll ich sagen

Märchenbühne?

Oder in einer (allerdings sehr großen) Nische einer

Märchengrottenbahn

Nicht nur befinden wir uns

An einem fremden Ort, LeserIn

Sondern in einer anderen Zeit

Ja, genau wie bei den Texten des Gefängnisarztes

Respektive jenes intelligenten Verrückten

In einer anderen Zeit

Aber in welcher?

Ist es ein Haupt- oder Marktplatz des Mittelalters?

Des neunzehnten Jahrhunderts?

Oder ein Haupt- oder Marktplatz des Mittelalters

Mit den Augen des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet?

Der Platz ist (von wegen Graz) gepflastert

Aus den Vitrinen (also doch kein Mittelalter?)

Und Fenstern dringt grünes Licht, respektive oranges und rotes

Die Sterne am Himmel

Sind gelb.

14

In dieser Bibliothek, die keine Bibliothek ist

Sondern eine Bühne, ist es still, LeserIn

Und herrscht eine Nacht

Die glaubst du zu riechen

Nicht die Nacht der Natur

Sondern Molton und künstliches Licht.

Wir, die Mädchen und ich, verteilen uns

Auf dem Haupt- oder Marktplatz

Ich weiß die Mädchen in meiner Nähe

Sind jedoch keine Nebenmenschen

Die stören

Sondern angenehme Gestalten

Der Phantasie

Behescht anjast k’asari nabaschad

kassi ra ba kassi kari nabaschad

Freiheit

Gleichheit

Gleichgültigkeit

So schaut’s aus

Das Paradies

Ich stehe

Oder wir

Vor der Türe eines Hauses, dreistöckig

Oder einer Bühnenfassade

Zu beiden Seiten des Eingangs

Das gelbe Licht der Vitrinen (kein Mittelalter, nein)

Eines Hutladens oder so

Aber das interessiert uns jetzt nicht.

Und die Bücher?

Will ich fragen

Kommen Sie, sagt Schirin, das ist

Das Haus des Vergessens

15

Weder haben wir ein Vorzimmer passiert

Noch ein Stiegenhaus

Und betreten

Ein gemütliches, gigantisch großes Wohn- respektive Gästezimmer

Dessen Ende verliert sich im Dunkeln

Fauteuils

Aus denen man sich nicht mehr erheben wird können

Dicker Teppich, viktorianisches London

Und endlich!

Bücher

Unendlich viele, altehrwürdige

Die du nicht anfassen willst, LeserIn

Als seien auch sie

Bloß Fassade

Glück gehabt, sagt Schirin und deutet

Auf ein islamisches Mädchen

Das erhebt sich gerade aus einem Fauteuil

(Man kann sich aus den Fauteuils also doch erheben)

Nimmt sich eine Art Trockenhaube vom Kopf

Stellt sie auf einen Beistelltisch

Aus den Siebzigern

Und verläßt

Ohne Kopftuch und mit rotem

Hochzufriedenem Gesicht

Das Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache

Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen

Wir sind allein.

Schirin nimmt die Trockenhaube vom Tisch

Und beginnt, wie soll ich sagen, zu berichten

Das Internat Islamischer Mädchen ist eines der besten für islamische Mädchen in Teheran. Es gibt die Direktorin. Und die Vize-Direktorin. Die Mädchen stammen aus wohlhabenden islamischen Häusern. Hoch sind das Budget und das Schulgeld. Dazu kommen die Spenden. Nur reiche Schulen erhalten reichliche Spenden. Arme nicht. Wäre es anders, würden die Armen immer reicher. Auch die Bibliotheken unseres Internats haben hohe, eigentlich astronomisch hohe, Budgets. Das höchste hat Die Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher.

Ich schaue mich um.

Die Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen hat das höchste Budget aller Bibliotheken der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher der Welt. Es gibt die Direktorin und ihre Vize. Die Vize macht die Statistik. Die Statistik besagt: Die allermeisten islamischen Mädchen entlehnen immer dieselben zwei, maximal drei Bücher. Viele bloß eins.

Die Direktorin ist besorgt. Um die Lesegewohnheiten der Mädchen zu ändern, produziert die Vize ein Maßnahmenpaket nach dem anderen. Alles vergebens.

Eines Tages sagt die Vize

Warum lesen wir?

Wegen der Bildung?

Fragt die Direktorin

Nein, sagt die Vize

Ihre Augen strahlen und ändern die Farbe

Von blau oder grau

Auf ein leuchtendes Grün

Nein, sagt die Vize, wir lesen, um zu genießen.

Angenommen, sagt jetzt Schirin und nicht die Vize

Angenommen, die erste Lektüre eines Buches bringt den größten Genuß

Dann wäre die zweite Lektüre desselben

Nicht die Wiederholung der ersten

Wir können bei der zweiten Lektüre den Genuß der ersten

Nicht wiederholen

Denn die zweite Lektüre enthält die Erinnerung an die erste

Was der ersten Lektüre natürlich fehlt

Erste und zweite Lektüre sind also niemals ident

Wollen Sie den Genuß der ersten Lektüre bei der zweiten Lektüre wiederholen

Müssen Sie die erste vergessen

Ohne Vergessen keine Wiederholung.

Um die Mädchen

Die immer wieder dieselben Bücher entlehnten

In die Lage zu versetzen

Den Genuß der ersten Lektüre bei der folgenden (oder den folgenden)

Zu wiederholen, gründeten die Direktorin und die Vize

Das Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache

Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen.

16

Setzen Sie sich, ich erkläre es Ihnen

Erkläre nichts, sagte Klaric, Alfred Klaric

Autor, LeserIn, du kennst ihn womöglich, und Deutschprofessor

Im Gymnasium in Graz

Erkläre nichts. In der Literatur sollte ein Anstoß genügen.

Tu comprends? Nein?

Aber daß das Vergessen im

Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache

Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen

Nicht auf das Vergessen von Büchern beschränkt bleiben würde

Leuchtet ein.

Oder?

Schirin

Nimmt die Trockenhaube

Die das Mädchen, das hochzufriedene, islamische

Auf dem Beistelltisch abgestellt hat

Aus den 70ern

Und setzt sie sich auf

Und gleich wieder ab

Pardon!

Auch Schirin

Hat jetzt das hochrote

Wenn auch nicht hochzufriedene Gesicht

Des Mädchens, des islamischen, von vorhin

Pardon, daß ich so unhöflich war

Sie zeigt auf die Trockenhaube

Ihnen nicht den Vortritt zu lassen.

Du kannst mich duzen, sage ich

Das Hochrot im Gesicht der Schirin wird tiefrot

Gesichtern von Mädchen, islamischen und oder nicht-islamischen

Steht wohl eine Reihe von

Je nach Anlaß

Rottönen zur Verfügung

Und fährt fort

Mich zu siezen.

Das ist keine Trockenhaube, sondern ein BCI

Wie Sie wissen, ist ein BCI

Ich weiß gar nichts, LeserIn.

Ein

Brain-Computer-Interface.

Schirin, als sie

Brain-Computer-Interface sagt

Hat einen ausgesprochenen Chicagoer Akzent

Wenn sie etwas auf Chicagoisch sagen, haben alle Mädchen

Des Internats Islamischer Mädchen

Einen ausgesprochenen Chicagoer Akzent

Werde ich später erfahren oder habe es

Jetzt beschlossen, LeserIn.

Wollen Sie den Inhalt eines Buches vergessen,

Muß ihn ein anderer Inhalt verdrängen

Diesen anderen Inhalt nennen wir

Starke Materie

Gedanken sind Dinge, sagt unsere Vize

Der eine Gedanke funktioniert wie ein Besen

Der andere wie Kehricht

Das sagt eure Direktorin, eure islamische?

Vizedirektorin

Sie ist Materialistin und Atheistin

Wie die Direktorin und die meisten Mädchen im Internat Islamischer Mädchen.

17

Und du?

Schirin schweigt

Woraus ich schließe

Daß auch sie

In Teheran gilt

Sokut

Alamate resast

Reden ist Silber

Schweigen ist Zustimmung

Um den Inhalt des Buches verdrängen zu können

Muß die Starke Materie sehr stark sein

Deshalb heißt sie auch Starke Materie

Immerhin hat der Inhalt des zu vergessenden Buches

Dem Mädchen, unter allen Büchern, die es je gelesen

Den stärksten Eindruck gemacht

Und den größten Genuß bereitet

Folglich muß es sich bei der Starken Materie

Um die Erinnerung an ein besonders intensives Erlebnis handeln.

Das Brain-Computer-Interface verbindet nun

Die Erinnerung an dieses besonders intensive Erlebnis

Mit dem Inhalt des zu vergessenden Buches

Um den Inhalt des zu vergessenden Buches

Zu verdrängen

Wie Besen und Kehricht.

Nachdem das Mädchen

Sich die Elektrodenhaube des Brain-Computer-Interface aufgesetzt hat

Liest ihm der Computer das zu vergessende Buch vor

Alle Bücher der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher

Sind als Hörbücher im Computer abgespeichert

Bestimmte Passagen des zu vergessenden Buches

Werden ihm Wort für Wort vorgelesen

Andere werden zusammengefaßt

Nach jedem Abschnitt wird das Mädchen aufgefordert, an das

Intensivste Erlebnis

Zu denken, das es je hatte.

Elektrische Impulse

Die über die Elektrodenhaube

In das Gehirn des Mädchens geleitet werden

Verstärken die ohnehin schon starke Erinnerung

An das intensivste Erlebnis

Während die Erinnerung an das zu vergessende Buch

Von Kapitel zu Kapitel schwächer wird

Bis die Erinnerung an das intensivste Erlebnis

Die Erinnerung

An die Lektüre des zu vergessenden Buches

Ganz verdrängt.

Ist das nicht

Gefährlich?

Fragt Schirin

Ja, natürlich. Das Stärkste ist immer das Schlimmste

Aber wir Mädchen tricksen uns selbst aus

Wir versuchen

Uns nicht an das Schlimmste zu erinnern

Sondern an das Zweit- oder Drittschlimmste

Wenn nicht gleich an ein angenehmes Liebeserlebnis.

Ist Liebe nicht immer das Schlimmste?

Ja, sagt Schirin, natürlich

Irgendwie scheint sie auf einmal, wie soll ich sagen, genervt.

Aber ich rede von der romantischen Liebe

Wie sagt ihr in Graz?

Wie sagen wir in Graz?

Blümchensex, sagt Schirin.

18

Das größte Problem

Das bei der Verknüpfung der Starken Materie

Mit dem Inhalt des zu vergessenden Buches auftreten kann

Ist, daß die Starke Materie nicht stark genug ist

Den Inhalt des zu vergessenden Buches zu verdrängen.

In diesen Fällen

Verknüpft sich der Inhalt des zu vergessenden Buches

Mit der Starken Materie

Und setzt sich im Gehirn des Mädchens

Erst recht fest.

Das ist, protestiere ich, das geringste Problem.

Das Problem, ich bin Analytiker, ist die Starke Materie

Und sei es das dritt- oder viertschlimmste Erlebnis, an das sich das Mädchen erinnert.

Wenn ihr die Starke Materie auch noch verstärkt

Macht ihr das Mädchen kaputt

I know, sagt Schirin

Steht auf und begibt sich

In die Tiefe des viktorianischen Raumes

Und verschwindet im Dunkeln

Jetzt kommt sie

Aus der Tiefe des viktorianischen Raumes

Mit einer Trockenhaube, die sie mir auf den Kopf setzt

Ich sitze inzwischen

Auf einem der großen Fauteuils, links vom Beistelltisch

Aus den Siebzigern.

Ich zeige es Ihnen

Geht zu einem dieser hohen

Altehrwürdigen Regale, mit den unendlich vielen altehrwürdigen Büchern

Scheint dort irgendeine Tastatur zu bedienen

Setzt sich dann links von mir

In den anderen Fauteuil

(Zwischen uns der Beistelltisch aus den Siebzigern)

Kopftuch trägt sie nicht mehr

Und setzt sich ebenfalls die Trockenhaube auf

Wie weiland die Kaiserin

Von Teheran

Sich selbst gekrönt haben soll

In den Sechzigern

(Hat sie eh nicht, LeserIn, der Kaiser hat sie)

Ich zeige es Ihnen, sagt Schirin, anhand eines Gedichtes von Hafes

Oder sagt sie Hafisens, wie Rückert gesagt haben würde oder Goethe?

Hafes, LeserIn, ist der berühmteste und beste Teheraner Dichter

(Siehe West-Östlicher Divan

Goethe

Rückert

August von Platen

Hammer-Purgstall usw. usw.)

Interessiert dich nicht?

Macht nichts

Mich eh auch nicht wirklich.

Holla Saki, reiche mir den Krug

Anfangs schien die Liebe leicht

Die mich mit Beschwernis schlug

Angenehme Stimme, sonor, des Computers des BCI

Wie die Radiostimmen, männlich, unter dem Kaiser, rasiert

Und Krawatte natürlich.

Offenbar sind Schirins Trockenhaube und meine

Parallelgeschaltet

So daß auch ich die Radiostimme höre, sonor

Die sonst nur sie hören würde

Und die sie auffordert

An ihr intensivstes Erlebnis zu denken

19

Alles ändert sich

Ich versinke

Mit dem Fauteuil

Bis grad noch mein Kopf aus der Vertiefung herausschaut

Oder ich sitze im Zuschauerraum

Und schaue

Auf eine höher gelegene Bühne.

Im Halbdunkel des viktorianischen Zimmers

Eine Insel des Lichts

Auf der Insel steht Schirin, neben einer Couch

Obwohl sie noch immer im Fauteuil rechts von mir sitzt

(Zwischen uns der Beistelltisch aus den Siebzigern)

Im Meer des viktorianischen Wohnzimmers

Steht Schirin auf einer Teheraner Insel

Bestehend aus Stilmöbeln

Das, LeserIn, sagt über die BewohnerInnen (der Insel) schon alles

Schirin scheint nicht zu ihnen zu gehören.

Das ist Starke Materie, LeserIn

Schirins Erinnerung an das intensivste Erlebnis

Auf der Couch eine Frau und ein Mann

Teheraner Mittelschicht, obere

Sie gehören zusammen

Die Frau, nicht alt, aber ältlich

Die Haare aufdringlich schwarz

Die Schminke respektive das Kleid

Paßt perfekt zu den Stilmöbeln

Mir ist, als könnt’ ich sie riechen

An ihrem Mann

Scheint alles rund zu sein

Die Nase, der Bauch, die hellbraunen Schuhe, die Wange

Und zu glänzen

Am rundesten glänzt

Aus der ohnehin schon glänzenden Wohnzimmerinsel heraus

Die Spitze der Nase

An wen, LeserIn, erinnert uns dieser Runde?

An Kaklaki natürlich, Sadeg, Henker der Revolution, der Islamischen

Kaklaki war aber runder

Und lustiger als dieser

Zwischen der Ältlichen und einem Couchtisch steht Schirin

In einer Schuluniform

Weißes Hemd, blauer Faltenrock, blauer Schal usw.

Weißt eh, wie im japanischen Schulmädchenporno.

Nein, LeserIn?

Du schaust keine japanischen Pornos?

20

Was muß ich?

Fragt Schirin

Erst glaub’ ich, sie lächelt

Was die Ältliche antwortet, kann ich nicht hören

Oder greift, statt zu antworten, nach der Schirin ihrem Gesicht

Holt es (das Gesicht) mit zwei Fingern zu sich

Und läßt es gleich wieder los

Bleib!, sagt sie, als die Schirin sich aufrichten will

Der Ältlichen ihre Stimme

Paßt weder zu den Stilmöbeln noch zu der Kleidung

Ein ältliches Mädchen

Wie die Haare einer Puppe

Arrangiert sie der Schirin die Haare

Und drückt

Diverse Stellen in der Schirin ihrem Gesicht

Akupressur

Aber sanft

Aber unsanft

Drückt sie der Schirin den Mund

Zusammen

Dann auseinander

Holla Saki!

Auf dem Couchtisch ist eine Puppe

Die ich näher ins Auge zu fassen versuche, was anstrengend ist

Eine Barbie

Ich bin Analytiker und kurzsichtig

Schon erscheint die Barbie in Großaufnahme

Das Gedächtnis funktioniert wie ein Film.

Holla Saki!

Reiche mir den Krug!

Die Barbie

Hat man zu einem

U

Zusammengebunden

An ihrem Hals ist ein Halsband befestigt, aus massivem Metall.

Fessel nennt man die Region zwischen Fußgelenk und Wade

(Bei Tieren jene zwischen Mittelfuß und Huf)

Die Fesseln der Barbie tragen Fußfesseln

Keine elektronischen, aber ebenfalls aus massivem Metall

An der linken Seite der linken

Respektive an der rechten der rechten Fußfessel

Ist seitlich je eine Stange befestigt

Je eine Drahtreihe

Verbindet die beiden Fußfessel-Stangen

Mit einer Stange am Halsband (ebenfalls aus massivem Metall)

So daß sich die Drahtreihen

Unterhalb der Stange am Halsband

Überkreuzen

Das ganze

Halsband-Fußfessel-Drahtreihen-Arrangement

Schaut aus

Als hätte man zwei umgekippte Harfen aneinander gelötet

Mit der Barbie als Resonanzboden

Anfangs schien die Liebe leicht

Die gepflegte Radiostimme, sonor

Kann nicht aufhören, den Hafes zu zitieren

Die mich mit Beschwernis schlug

Der Runde schaut

Auch wenn es eine Kamera natürlich nicht gibt

In die Kamera, LeserIn

Die Kamera zeigt die Schuhe des Runden, die spitzen

Habe ich gesagt, dem Runden seine Schuhe sind rund?

Sie sind spitz, LeserIn

Und die Spitze ist aus massivem Metall

Glänzend

Und kalt ist dir, LeserIn?

Oder geil?

21

Die Schuhspitze des Runden

Bewegt sich, aus massivem Metall, auf den Faltenrock zu

Den japanischen, blauen

Die Farbe der Schuhe, in Teheran, der meisten

Ist braun

Daß sich die Schuhspitze auf den Faltenrock zubewegt

Habe ich, genaugenommen, nicht gesehen

Sondern der Schuh war auf einmal unter dem Rock.

Schirin stürzt

Oder fällt der Ältlichen

Um den Hals

Zu sagen, Ich höre den Schrei, wäre übertrieben

Die Ältliche umarmt sie

Fest

Und steht auf

Sie ist dünn, aber stark

Will Schirin aufrichten

(Und tragen?)

Die sitzt aber

Mit dem Rücken an die Couch gelehnt

Auf dem Teppich.

Der Runde und die Ältliche

Machen sich an die Arbeit

Schnell und präzise

Mit einem Plastikseil

Werden der Schirin ihre Hände

An ihren Körper gefesselt

Mit der einen Hand hält sie der Runde

Am Nacken

Mit der andren drückt er ihr

Die Füße zusammen

Derweil ihr die Ältliche

An den Hüft- und Kniegelenken die Beine streckt

Du glaubst, es wird so weitergehen, LeserIn?

Im Ernst?

Hast dich im Pornographischen doch nicht eingerichtet?

Wirst doch nicht wollen

Daß sie Schirin

Zu einem U zusammenbinden wie die Barbie?

Daß die Ältliche ein Geschirr holt, bestehend aus einem

Halsband, zwei Fußfesseln und Stangen aus massivem Metall?

Sonst noch was?

Holla Saki! Reiche mir den Krug!

Anfangs schien die Liebe leicht

Die mich mit Beschwernis schlug

Wie könnt‘ ich in des Geliebten Rastort

Sicher leben, denn sogleich hebt die Glocke an

Zu rufen: Aufgepackt zum Weiterzug!

Färbe bunt mit Wein den Teppich

Wenn der Alte Wirt es sagt, Denn der Wand’rer

Ist nicht unkund der Stationen Recht und Fug

Finstre Nacht und Wogengrauen und entsetzlich Wirbeldrehn

Wie soll unsern Zustand kennen,

Wer am Strand geht, leicht und klug

All mein Thun hat eigensinnig

Üblen Namen mir verschafft

Wie verbirgt sich ein Geheimnis, das man unter Leute trug!

22

Schirin sitzt jetzt links von mir

Auf einem Ohrensessel

Süß ist das Lächeln der Teheraner Mädchen

Wir sitzen noch immer

In einer Art Zuschauerraum

Und schauen auf eine höher gelegene Bühne

Süß ist das Lächeln der Teheraner Mädchen

(Islamische oder nicht-islamische ist ganz wurscht)

Lächeln, als sei nichts gewesen

War ja auch nichts. Sie glauben doch nicht, daß ein islamisches Mädchen Erlebnisse hat

Ich bin Analytiker

Augen so groß

Wie der Schirin ihre

Wollen nicht sehen, sondern sagen

Je größer

Desto mehr

Als tausend Worte

Jetzt sagen sie

Schau!

Es riecht süßlich

Moschusartig

Aber irgendwie ungut

Und ich glaube

Eine Hafes-Zeile hab’ ich unterschlagen

Eh’ der Frühwind endlich löste

Jenes Stirnhaars Moschusquell

Wie viel Blut troff nicht in Herzen

Aus dem duftumringten Bug

Schau!

Sagen der Schirin ihre Augen

Aber es ist nicht Schirin, die spricht

Sondern links von mir

Weißt du’s, LeserIn? Nein?

Sitzt die Narges.

Es reicht

Ich erhebe mich

Und renne

Weder das Wohnzimmer, das viktorianische

Noch die Märchen-, noch die Mädchengrottenbahn

Existieren respektive haben je existiert

23

Es gibt noch

Ein

Draußen

Atme ich

Luft

Das Leben

Ist schön

Trotz allem

(Trotze!

Allem!)

Geht weiter

Und weiters

Zu kurz, um lange Gedichte zu machen

Ein kurzes also

Ta Saqayegh hast

Zenedegi bayad kard

Solange es Mohn gibt

Klatschmohn

Muß das Leben

Gelebt werden

Sagt einer, der genauso ausschaut

Auch das ist Lyrik aus Teheran, LeserIn

Steht

Draußen vor der Tür

Des Hauses des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher

Des Internats Islamischer Mädchen

Aus der ich im Laufschritt heraustrete

Streckt den Kopf

Nach links und nach rechts

Sucht er wen? Hinter mir?

Sagt einer, der genauso ausschaut

Hast nicht verstanden, ich weiß, LeserIn

Will heißen

Genauso ausschaut wie einer, der draußen vor der Tür steht

Unvermutet

Und sagt

Solange es Mohn gibt

Klatschmohn gibt usw.

So nämlich

Jung, aber nicht mehr ganz

Panamahut, hager, Hosenträger, Krawatte

Hinten längeres Haar

Vorne schütteres

Früh gealtert

Dennoch aber fesch irgendwie

Panamahut, mit aufgebogener Krempe

Schlaksig, melancholisch, sympathisch

Singt laut und posiert

Sperrt beim Singen den Mund auf

Sperrangelweit.

Zusammenfassung

Altvaterisch, weil aus den Siebzigern

(Altvaterisch hat er aber schon in den Siebzigern ausgeschaut).

So may I introduce to you

Parvis Kardan aka

Morad der Elektrische

In Teheran kennt mich jeder

Sie nicht? Sie leben im Ausland?

Den Elektrischen kenn’ ich natürlich

Von vor der Revolution

Held der Fernsehserie Morad der Elektrische

Ist er unablässig in Bewegung

Suchen Sie etwas?

In Wahrheit hieß die Serie

Der sein Haus auf den Schultern trägt

Und das Haus, das er auf den Schultern trug, war in Wahrheit

Ein alter Mercedes, ein roter, mit Schrägdach

Den er Rubin nannte.

24

Der Elektrische scheint wen zu suchen

Streckt den Kopf nach rechts und nach links

Hektisch

Als sei ich eine unüberwindbare Schranke

Ist das hier, fragt er, das Institut für Gehirnwäsche?

Ohne zurückzuschauen

Zeigt mein Daumen nach hinten

Das ist

Das Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache

Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen

Sind Sie ein islamisches Mädchen?

Der Elektrische lacht, herzhaft

Wie wir alle ihn kennen.

Darf ich rein?

Glaubt vermutlich, ich sei hier der Wächter.

Lieber nicht, sage ich

Und

Ich kenn’ Sie eh auch

Das Strahlen

Im Gesicht des Elektrischen, das ich

Und sämtliche Kinder im ganzen Teheran

So lieben

Ist natürlich, wie soll ich sagen, LeserIn, elektrisch.

Du kennst mich? Echt jetzt?

Wo kommst du her?

Von vor der Revolution

Will ich sagen

Der Elektrische streckt mir eine Packung Ernte 23 entgegen

Sind aus Deutschland.

Und du? Woher kommst du?

Zu sagen

Ich komme aus Teheran

Wäre zwecklos

Ich wurde als Auslandsteheraner identifiziert

Also bin ich Auslandsteheraner.

Ich komme aus Graz.

Und warum soll ich da nicht rein?

Ja, warum denn nicht, LeserIn?

Das ist für islamische Mädchen.

Der Elektrische lacht

Islamisch schaust du aber nicht aus

Ich bin hier zur Schule gegangen

Vor der Revolution

Ach so … ich war auch einmal dort.

Er meint natürlich in Deutschland

Weil Deutsche Schule von Teheran

Und streckt mir wieder die Packung Ernte 23 entgegen

Obwohl ich noch nicht fertig geraucht hab’

Aber Graz ist nicht in Deutschland.

Der Elektrische schaut

An mir vorbei

In das Haus des Vergessens

Meinen Rubin kennst du auch?

Na klar.

Hab’ ich in Deutschland gekauft

Lebte er noch

Wäre Kardan aka Morad der Elektrische

Jetzt siebzig

Der da kann der Echte also nicht sein

Obwohl er es ist.

25

Was wollen Sie

Im Haus des Vergessens?

Der Elektrische nimmt eine Ernte 23

Hat feine Finger

Eine Gehirnwäsche.

Auf meiner linken Schulter

Ruht auf einmal

(Hätte ich mich nicht geschämt

Ich hätte geschrien wie ein Mädchen

Oder wie der komische Kopf im Bild von Munch

Obwohl im Bild von Munch

Eigentlich nicht der Kopf schreit

Oder der Kopf wohl auch

Aber der ursprüngliche Titel des Bildes

War Der Schrei der Natur)

Auf meiner linken Schulter

Ruht auf einmal

Die Hand eines Mädchens.

Es ist Schirin

(Wieder Schirin

Nicht mehr Narges)

Herr Kardan!

Dieselbe Teheranische Liebenswürdigkeit

Die sie vorhin mir gegenüber an den Tag gelegt hat

Vorhin ist eine Ewigkeit her

Das tut weh, LeserIn

Und daß sie eh nicht unendlich hübsch ist (trotz unendlich sympathisch)

Ist kein Trost.

Der Elektrische

Freut sich sichtlich

Und beide beginnen

Mich zu ignorieren

Ob sie seinen Antrag an die Kommission weitergeleitet hätte

Schirin lächelt

(Unendlich unhübsch aber auch wieder nicht)

Und setzt den Elektrischen

Indem sie seine Hand nimmt

Auf einen der bastbezogenen, blaulackierten Stühle

Links neben dem Eingang

Der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen

Stehen auf einmal zwei Tavernenstühle

Wie in Athen

Und zwischen den Stühlen ein blaulackierter Tavernentisch.

Der Elektrische will sich setzen, da

Zuckt Schirin auf einmal zusammen

Als sei etwas Entsetzliches passiert

Ergreift sie die Hand des Elektrischen

Und zieht ihn

Hauruck

In die Höh’

Warum?

Der Elektrische schaut mich an, ratlos, als sei ich hier zuständig.

Schirin

Beginnt jetzt

Den Elektrischen zu ignorieren

Indem sie sich bei mir

(Wie vorhin im Haus des Vergessens)

Entschuldigt, für ihre Unaufmerksamkeit

Nimmt sie meine Hand

Die unendliche Sanftheit

Der Hand von Teheraner Mädchen

Kann das (allfällige) Fehlen ihres unendlichen Hübschseins

Mehr als kompensieren, sage ich, LeserIn

Oder ein Vers der traditionellen Teheraner Lyrik.

Nimmt mich bei der Hand

Und weist mir jenen bastbezogenen, blaulackierten Tavernenstuhl zu

Den sie erst dem Elektrischen zuweisen wollte

Der Elektrische hat sich, ratlos

Zu dem andern Tavernenstuhl hinbegeben

Wir setzen uns

Während aber ich sitzenbleibe