BRIKCIUS • POSTILLE
Zur Aussprache tschechischer Buchstaben mit diakritischen Zeichen:
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Č, č |
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langes i |
ň |
nj |
ř |
gerolltes r gleichzeitig mit sch |
Š, š |
stimmloses Sch, sch wie in Schule |
ť |
tj |
ú, ů |
langes u |
ý |
langes i |
Z, z |
stimmhaftes S, s wie in Rose |
Ž, ž |
stimmhaftes sch wie in Journal |
EUGEN BRIKCIUS
Postille
Roman
Die Herausgabe dieses Buches wurde vom Kulturministerium der Tschechischen Republik unterstützt.
Originaltitel: Postila
© Pulchra, Praha 2016
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99029-451-2 (Print Ausgabe)
ISBN 978-3-99047-113-5 (Epub)
Vorwort
Postille I–XXXVI
Nachwort
Namen und Anmerkungen
Siehe, ein einzigartiger Mann in seiner einzigartigen Welt! (Viktor Šlajchrt in »Mysteria a mystifikace Eugena Brikciuse«)
Leben und Werk von Eugen Brikcius in seiner ersten Heimat vorzustellen, also der Tschechischen Republik, deren Synekdoche Prag ist, käme dem sprichwörtlichen »Eulen nach Athen tragen« oder »Wasser in den Rhein tragen« oder gar »Bier nach Budweis bringen« (natürlich nicht nach München) gleich. In Prag ist Eugen Brikcius nämlich am 30.8.1942 geboren, über Prag und seine kulturell-gesellschaftlichen Veränderungen über das 20. Jahrhundert hinweg schreibt er, in Prag lebt er; bei Prager Verlegern kommen (fast alle) seine Bücher heraus, in Prag organisiert er seit den 60er Jahren seine Happenings (aktuell unter dem Titel »literarische Ausflüge« oder »literarische Ökumenen«) und nicht zuletzt ist er hier freundschaftlich eingebunden in dionysisches Vergnügen und apollinische Diskussionen.
Was aber für Brikcius’ erste Heimat gilt, gilt nicht in der zweiten, in Wien, beziehungsweise Österreich, wohin der Autor zu Beginn des Jahres 1980 aus politischen Gründen ging. Prag wurde damals für ihn, wie er es nannte, von einer »mütterlichen Stadt« zu einer »stiefmütterlichen«. Österreich bot ihm nicht nur freundlich Asyl an, sondern brachte vor allem auch die Freiheit zurück: Die Freiheit, erfolgreich die philosophischen Studien im prestigeträchtigen University College in London abzuschließen (begonnen schon Ende der 60er, Anfang der 70er, und gekrönt durch eine Arbeit über den Gottesbeweis, deren Meilensteine Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin und Norman Malcolm sind), die Freiheit, sich in vollem Umfang als Dichter, Prosaiker, Essayist und Aphoristiker auszuleben (obwohl es bei Brikcius nie am Genre hing, er formatierte seine Texte immer nach eigenem Gusto, wie eine private Synthese aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Genreversuche) – aber auch die Freiheit, die gedachte Grenze zwischen Wort und Körper zu überschreiten, zwischen poetischem Handeln im Leben und seinem Abdruck im nicht weniger poetischen Text (erst in Wien entwickelte sich die eigentümliche Leidenschaft für sportliche Leistungen ausgewählter Meister im Fußball, Basketball oder Hockey, Meister der Bälle und Pucks, von Antonín Panenka über Magic Johnson bis Phil Esposito, zum Beispiel).
Dem deutschsprachigen Publikum stellte sich Eugen Brikcius erst im Jahr 2018 in Buchform vor. In der Reihe Tschechische Auslese (in Zusammenarbeit der Verlage Větrné mlýny und Wieser realisiert), die zehn ausgewählte tschechische Autoren nach 1989 vorstellt, erschien eine schmale Auswahl seiner Prosa, die in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die Nullerjahre des jetzigen zu beliebten Motiven aus Franz Kafka, Karel Poláček oder Pavel Šrut entstanden. In diesen Texten, und zwar vor allem in »Ein Tag im Leben des Eugen Brikcius« und »Gott Mittwoch – und fort mit dem Bösen«, ist trotz ihres bescheidenen Umfangs alles Wesentliche enthalten: Der Leser kann sich sowohl ein Bild von der Art und Weise machen, in der der Autor seine fiktive Welt aufbaut, als auch von den wesentlichen Stützpfeilern und Meilensteinen dieser Welt. Brikcius serviert, aphoristisch gesagt, witzige Kommentare zu ernsthaften Dingen, mischt Komödie und Tragödie, körperliche Genusssucht mit scharfem Intellekt, sprachliche Lust und situatives Leiden, kollektives Gedächtnis und persönliche Erinnerung. Für seinen idealen Ausdruck nimmt er immer von überallher und alles: Verse in Latein, Deutsch, Englisch oder Tschechisch, Handlungsprosa und Nicht-Handlungsprosa, »reinen Humor ohne Witz«, der durch philosophische Mediation ausgeglichen wird. Nach außen hin ein Lehrbuch, innen der einzigartige Autor selbst.
Und dann der Titel dieses Büchleins: Und das Fleisch ward Wort. Offensichtlich handelt es sich um einen Verweis auf Brikcius’ tausendseitiges gesammeltes Werk unter demselben Titel, das 2013 erschien und den renommierten Jaroslav-Seifert-Preis (2015) erhielt. Was das deutschsprachige Bändchen im Kleinen enthält, gibt es hier im Großen – detaillierter, übersichtlicher, klarer. Wieder ein überbordender Reigen unterschiedlichster Formen, die Avantgarde der ersten Republik zitierend, das poetische Experiment der 60er Jahre und den Konzeptualismus der 70er und 80er – und im konzentrierten Kern dann 101 kleines und großes Abenteuer, Vorkommnisse, Geschichtchen, dramatische Situationen, groteske Bilder, die sich immer um das eine, respektive dreifaltige drehen: Autor-Erzähler-Held. Brikcius’ Opus magnum erzählt die Geschichte von Brikcius’ Leben und Werk. Genauer gesagt erzählt es die Geschichte eines Lebens, das als Kunstwerk realisiert ist. Stilisiert, hyperbolisiert, geschichtet ironisch. Aber immer maximalistisch, nach dem Muster »der Autor nimmt alles«; ähnlich wie der kanonische Grimmelshausen in seinem Abenteuerlichen Simplicissimus oder um ein paar Jahrhunderte später Jáchym Topol in seinen Romanen Nachtarbeit (Noční práce) und Zirkuszone (Kloktat dehet). Das Konzept des Autors gestaltet in diesen Fällen nicht nur das Subjekt um, es versucht auch, sich das Objekt zu unterwerfen: Die Welt und ihre Mythen sind die süßeste Nahrung für die Bildung von Eigenlegenden und Eigenmythen.
Eugen Brikcius weiß jedenfalls, wo er nehmen kann. Er wurde im schlimmsten Jahr des Zweiten Weltkriegs geboren, ein paar Monate nach dem Attentat auf Heydrich. Als er sechs Jahre alt war, packte etwas neues Totalitäres die Tschechoslowakei am Kragen: der Kommunismus. Brikcius hatte zum Glück in seinen Eltern eine Stütze, sie standen auf der anderen Seite der Barrikade, der Vater musste sogar für eine gewisse Zeit ins Gefängnis – und der Sohn beteiligte sich an den illegalen Aktivitäten der Wasser-Pfadfinder. Am Ende der 50er Jahre entstand das Interesse an der Philosophie, und weil es keine offizielle Möglichkeit gab, bildete sich Brikcius im Selbststudium. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre weiteten sich seine Interessen auch auf moderne Strömungen der bildenden Kunst aus, wie zum Beispiel Aktionskunst, Happenings, Land Art. Es folgten die ersten Studienjahre (1968–1970) in London. Dann ein Jahr Gefängnishaft für »Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung« und »Verleumdung des Volkes, der Rasse und der Überzeugung« (1973–1974). Bevor Brikcius im Jahr 1980 das »normalisierte« tschechische Feld räumte und mit dem Zug in Richtung Wien verschwand, machte er sich einerseits seine bisherigen Studien, andererseits seine reiche Erfahrung mit der Realität zunutze. Unter dem Dach der Tafelrunde »Kreuzritterschule des reinen Humors ohne Witz« verband er Körper und Geist in idealer Weise: Einerseits beförderte er die Mystifikation, die in seinem Verständnis eine tiefere Wahrheit aufdeckte, ein grundlegendes Erkennen, andererseits weitete er die Realität permanent um inszenierte poetische Ereignisse aus.
Alles oben Gesagte räsoniert in der vorliegenden Postille, dem zweiten Buch Eugen Brikcius’, das in deutscher Übersetzung erscheint, in 36 Texten, die ursprünglich für das tschechische Kulturmagazin Uni geschrieben wurden, wo sie zwischen September 2014 und August 2017 erschienen. Die Struktur der Texte ist identisch, ihr Aufbau und Inhalt unterliegen gewissen Regeln, die durch den Seitenumbruch der Zeitschriftenseite gegeben sind. Solch eine Einschränkung wirkt auf den Autor außerordentlich produktiv: Sie zwingt ihn, die Geschichte zu konzentrieren, die Wörter und Sätze mit maximaler Bedeutung aufzuladen, den einmal gegebenen Rhythmus einzuhalten. Das ist eine Herausforderung. Und Brikcius nahm sie auf die bestmögliche Art an: Er meisterte sie. Und deshalb lässt sich die Postille auch als »best of« aus seiner lange Jahre vervollkommneten Legende lesen, als Meistertagebuch, das ausgewählte Partien aus seinem Leben neu aufnimmt, erklärt und zusammenschneidet – das schon in der autoporträtiven Collage Das beste meiner möglichen Leben (Můj nejlepší z možných životů, 2012) ausführlich beschrieben ist. Die Postille hat aber einen Vorteil: Sie ist »beweglich«, sie erfordert nicht unbedingt lineares Lesen. Jeder Text kann für sich selbst bestehen, wie auch in einem beliebigen Kontext. Im tschechischen Original sind die Texte retrospektiv angeordnet, in der deutschen Übersetzung chronologisch; es ist schwer, einen noch überzeugenderen Beweis für die Bedeutungslosigkeit der Zeit zu finden.
Das bemerkt im Übrigen auch Ivan Dubský im Vorwort zu Brikcius’ philosophischem Werk Ontologischer Beweis (Ontologický důkaz, 2018), wenn er notiert, dass der Autor über andere schreibt »als wirkten sie alle in derselben Epoche«. Das kann ein Vorwurf sein, aber auch eine Verneigung. Im Schreiben Eugen Brikcius’ treffen sich die, die sich real nicht begegnen können, geographisch abgelegene Orte kommen zum Greifen nah, Ereignisse aus verschiedenen Etappen der menschlichen Geschichte mindestens der letzten zwei Jahrtausende geschehen auf einmal. Die Kreise, die die einzelnen Texte beschreiben, sind nämlich konzentrisch – und konzentriert. Konzentriert auf ihren Demiurgen, der sehr gut weiß, welche Macht das dichterische Wort hat, das zuerst Fleisch war.
Radim Kopáč
Ján Kollár beweist in seinem letzten und umfangreichsten Werk Staroitalija slavjanská, dass Latein ursprünglich eine der altslawischen Mundarten war.
Post illa verba füge ich hinzu, dass es sich mit den Ursprüngen und der Entwicklung von Sprachen ganz unterschiedlich verhält, zuweilen sogar verblüffend. Wie es mit Latein steht, wissen wir mehr oder weniger. Und deshalb müssen wir nicht unbedingt Verehrer des späten Kollár sein. Latein als altslawische Mundart? Ich würde wetten, dass es umgekehrt war.
Wie sehr es mich auch fasziniert, dass dem genannten Gelehrten und Dichter zufolge die slowakischen Pflüger, wenn sie sich auf dem Feld trafen, miteinander Latein sprachen, finde ich doch das Phänomen der höflichen Anrede in der dritten Person anziehender, und das nicht nur in der Staroitalija slavjanská, dem slawischen Altitalien, nicht nur hinter dem slawischen Pflug, sondern vor allem in »Neuitalien«, respektive in den neuzeitlichen böhmischen Ländern. Im noblen Italienisch sprach man mit »sie« nicht nur die edle Dame an, sondern auch den edlen Herrn. Die wirklich kultivierten Italiener reden noch heute so. Für die Höflichkeitsform benutzt man die Form »lei« (sie), egal ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Ein ausgesprochenes Sprachmatriarchat.
Im Übrigen benutzen auch die tschechischen Signori hartnäckig die Form »takříkajíc« – sozusagen –, ein Partizip in seiner weiblichen Form wie aus dem Buche, eo ipso nennen die Herren sich selbst »sie«, was auf Tschechisch onakat heißt. Gebildete wie Ungebildete benutzen die Phrase takříkajíc, »sozusagen«, wie ein Mann. Ich persönlich glaube, dass edle Höflichkeit in wirklich kulturvollen Sprachen eine Tautologie ist. Überraschend für nicht Eingeweihte wurde auch im noblen Tschechisch ge»sie«zt (siehe: »Anna, geh sie öffnen« in Olbrachts Anna, die Proletarierin), aber nur an die Adresse von Frauen. Der Leser versteht sicher. Olbracht, dem das »sie«zen, auf Tschechisch onakání, in Annakání überging, würde fragen: »Hat sie das auch verstanden, Anna?«
Es gehört sich anzufügen, dass aufdringlich treue pazifische Schönheiten auch zu »er«zen wissen. Am liebsten einen Dichter. Das beweist das Ende meines Gedichts mit dem fast gauguinschen Titel »Er ist mein Dichter«:
Frau und Muse
mich berührt.
Ganz und gar
die Amazone.
Mit du verführ
ich sie, sie dafür,
die Primadonna,
sagt nur er zu mir.
Die Teenage Mutant Ninja Turtles sind ein fiktives Team aus vier anthropomorphen Schildkrötenmutanten, die nach italienischen Renaissancemalern benannt sind (Donatello, Leonardo, Michelangelo und Raffael). Zuerst erschien es als Comic, später auf der Filmleinwand und in Computerspielen.
Post illa verba füge ich hinzu, dass ich, kaum hatte ich das lateinische Werk hinter mir, das zum größten Teil aus Poesie besteht, mich entschloss, das Latein aus mental-hygienischen Gründen zu vergessen. Das ging leicht. Man musste mir nicht einmal einen Eimer Wasser über den Kopf gießen. Ein Residuum lateinischen Ursprungs geht mir allerdings nicht aus dem Kopf: Dass man nicht nur Damen in der dritten Person mit »sie« anspricht, sondern auch Herren. In den nächsten Zeilen werde ich mir den reinigenden Eimer selbst über den Kopf gießen.