ODO MARQUARD (1928–2015) war Professor für Philosophie an der Universität Gießen. Der Deutschlandfunk bezeichnete ihn als »Philosoph der klaren Worte«, und der FAZ galt er als »der kluge Psychoanalytiker und Therapeut der philosophischen Übertreibungsgesten« (Jürgen Kaube).
Der Band versammelt die wichtigsten Texte des Philosophen und Transzendental-Belletristen Odo Marquard zum Thema Altern. Er enthält u. a. Einwilligung in das Zufällige, Vernunft und Humor und Zum Lebensabschnitt der Zukunftverweigerung, vor allem aber sein letztes Interview Das Alter – mehr Ende als Ziel, das Franz Josef Wetz, sein Schüler und der Herausgeber des Bandes, mit dem Philosophen geführt hat:
»Man kann sich traurig und freudig fühlen, müde und wach, aber 70- oder 80-jährig, das geht meines Erachtens nicht … Und wenn man das Greisenalter erreicht hat, kommt noch als weiterer Vorzug hinzu, sich nichts mehr beweisen zu müssen, ja sich unterbieten zu dürfen. Dies sorgt für mehr Gelassenheit. Man lernt über Fehler und Schwächen leichter hinwegzusehen, und wenn die Mängel nicht schwerer sind als das, was da ist, sogar großzügig darüber hinwegzusehen.« (Odo Marquard)
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Am 18. Juli 1995 gehaltener Beitrag zur Ringvorlesung »1945 – Germanistik an der Wende?« des Fachbereichs Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Anmerkungen sind (sc. 2002) ergänzt.
2
Erst im Sommer 1996 war ich – bisher zum einzigen Mal – kurz im jetzigen Kołobrzeg.
3
Das war überspitzt formuliert. Es gab »Erzieher«, die uns Solides beibringen wollten und bei denen ich etliches gelernt habe; ich denke u. a. an Walter Thom und Ekkehart Pfannenstiel. Und ich habe gute Erinnerungen an meine damaligen Klassenkameraden.
4
Joachim Ritter hatte 1943 eine Professur für Philosophie in Kiel wehrdiensthalber nicht antreten können.
5
Vgl. inzwischen Hermann Lübbes Beitrag »1968. Zur deutschen Wirkungsgeschichte eines politromantischen Rückfalls«, in: H. L., Politik nach der Aufklärung, München 2001, S. 129–149, dem ich in allen wesentlichen Punkten zustimme. Auch daraus wird ersichtlich, dass ich zur Festschrift für Heinrich Brinkmann nicht wegen Übereinstimmung in philosophischer und politischer Position beitrage, sondern weil ich ihn mag. Ich verweise im Übrigen hier auch deswegen auf Hermann Lübbe, weil Heinrich Brinkmann in seiner Studienzeit in Münster (bevor er – nach dem auch von mir begrüßten Studienweg über Frankfurt: ich hielt es für gut, dass er Habermas hörte – als Hilfskraft mit mir nach Gießen kam) sowohl bei mir wie auch bei Lübbe gearbeitet hat: Meiner Erinnerung nach hat Lübbe ihm damals stilistisch »das Marquardisieren« auszutreiben versucht, durchaus erfolgreich, wenn auch mit unbeabsichtigtem Effekt; denn dadurch wurde Brinkmann frei für die Sprache und das Denken der »Frankfurter«.
6
Sigmund Freud, »Totem und Tabu« (1912), hrsg. von Hans-Martin Lohmann, Stuttgart 2016, S. 194, vgl. S. 190 ff. [Reclams Universal-Bibliothek. 18956.]
7
Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986.
8
Johann Baptist Metz, »Theologie versus Polymythie oder Kleine Apologie des biblischen Monotheismus«, in: Odo Marquard (Hrsg.), Einheit und Vielheit. XIV. Deutscher Kongreß für Philosophie, Gießen, 21.–26. September 1987, Hamburg 1990, S. 170–186.
9
Vortrag am 19. Oktober 2006 im Rahmen der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung »Radikalität des Alters«.
10
Vgl. Odo Marquard, »Theoriefähigkeit des Alters«, in: O. M., Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 135–139. [Reclams Universal-Bibliothek. 18049.]
11
Die erste Ausgabe dieses Bandes erschien im Jahre 2013 – anlässlich des 85. Geburtstages Odo Marquards.
12
Odo Marquard erlebte vor seinem Tod im Jahre 2015 beide Ereignisse: das Erscheinen der Erstausgabe dieses Bandes im Februar 2013 sowie den 80. Geburtstag seiner Frau, der Romanistin Edeltraut Luise Marquard geb. Wlosok (1934–2020), im September 2014. Ebenfalls 2014 verstarb deren gemeinsamer Sohn, der Onkologe Dr. med Felix Marquard, bei einem Unfall.
von Franz Josef Wetz
Odo Marquard ist wohl einer der originellsten Philosophen der Nachkriegszeit, der mit seiner »Philosophie der Endlichkeit« jede überzogene Kritik an der Moderne in ihre Schranken verweist, ohne deshalb aber auf vernünftigen Widerstand gegen Unvernunft zu verzichten. Seine ebenso genaue wie eigenwillige Sprache hat ihn über philosophische Fachkreise hinaus einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Einige seiner Bonmots, Pointen, Kalauer und Wortspiele haben sogar in der politischen Öffentlichkeit sowie in den Medien fast schon den Rang geflügelter Worte erlangt, ohne dass dabei jedem immer der Urheber geläufig wäre. Doch sosehr Marquard seiner besonderen stilistischen Qualitäten wegen als Stichwortgeber in der gebildeten Welt geschätzt wird, in erster Linie ist er ein Philosoph, der komplexe Zusammenhänge analysiert und verborgene Hintergründe aufdeckt – ein ernster Philosoph mit heiterem Esprit, ein wertkonservativer Denker mit liberaler Toleranz, eine streitbare Autorität mit ausgleichendem Wesen, schlicht: ein gelehrter Kopf.
In seiner Doktorarbeit Skeptische Methode mit Blick auf Kant (1958) betont Marquard bereits, dass nicht das Wunder der Welt, sondern die Wunden des Lebens den Ursprung der Metaphysik bilden. Deren Aufgabe sei weniger die Auffindung wahrer Erkenntnisse als vielmehr die Hervorbringung lindernder Kompensationen. Allerdings war diese Funktionsbeschreibung dem jungen Marquard noch zu wenig: Metaphysik sei ein schlechter Ersatz, nur ein Surrogat; bei ihrem Bemühen, höchste und letzte Fragen zu beantworten, verfehle sie die Wirklichkeit.
Später folgen moderatere Töne. Schon bald hält er es für menschlich, ja für normal, dass Metaphysik es mit Problemen zu tun hat, mit denen sie nicht fertig wird. Fortan heißt es nicht mehr, dass sie die Wirklichkeit ersetzt, sondern vielmehr, dass sie die Wirklichkeit versetzt: Sie bringt diese auf Distanz, indem sie Abstand zu Leben und Welt schafft, ohne den der Mensch hoffnungslos mit dem Leben überfordert wäre. Dabei löst Metaphysik zwar keine Probleme, aber sie behandelt sie, was angesichts der Schwere ihrer Aufgabe schon viel ist. Das Lebens- und Welträtsel hat keine Lösung, sondern bloß eine Geschichte!
In seiner erst in den 1980er Jahren publizierten Habilitationsschrift von 1962 deckt Marquard nicht bloß die Ursprünge der Psychoanalyse in der Philosophie des Deutschen Idealismus und der Romantik auf. Er sieht in der Konjunktur der Psychologie und Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch schon eine Antwort auf die Vorherrschaft der modernen Geschichtsphilosophie und Naturwissenschaften. Psychologie und Anthropologie kompensierten Erfahrungsdefizite der genannten Wissensdisziplinen: Dieses Thema wird Marquard in den nächsten Jahren weiter beschäftigen. Damit einhergehend stellt er schon damals die Idee eines transzendentalen und absoluten Ichs in Frage, indem er auf Unverfügbarkeiten des endlichen Daseins aufmerksam macht.
Dieser Verabschiedung des Transzendentalen und Absoluten folgt sein Abschied vom Prinzipiellen. Hiernach gibt es nur den von unverfügbaren Vorgaben geprägten, in Geschichten verstrickten, sterblichen Menschen. Dieser muss zwar sein Leben selbst führen, bleibt aber auf bewährte Traditionen angewiesen, die ihm Halt und Orientierung bieten. Hierbei nehmen die Geisteswissenschaften eine wichtige Aufgabe wahr: Sie dienen der Orientierung und Stabilisierung des gefährdeten Menschen, denn die Geisteswissenschaften haben nicht nur eine deskriptiv-theoretische, sondern auch eine ethisch-praktische Funktion. Davon abgesehen sei die Lebenszeit einfach zu kurz, als dass der Einzelne mit allem immer wieder von vorne anfangen könne. Überhaupt gewähren unsere Traditionen mehr Schutz, als dass sie den Bürgern schwere Lasten auferlegten. Jedenfalls steht die Bewahrung des Bewährten nicht unter der Anforderung, als richtig bewiesen werden zu müssen. Die Beweislast hat der Veränderer.
Allerdings sind wir nicht bloß in einer Tradition und Geschichte zu Hause, die für alle verbindlich werden sollte. Wir Menschen leben in vielen Geschichten, Sinn- und Lebenswelten – und das ist durchaus begrüßenswert. Mit diesem Plädoyer für lebensweltliche Buntheit erteilt Marquard jeder Art von Totalitarismus eine klare Absage. In diesem Zusammenhang weist er alle sich aus der Theodizee des 18. Jahrhunderts ergebenden Ansprüche der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie an den Menschen zurück, sich vor deren erstrebten Zielen für den eingeschlagenen Lebensweg dauernd rechtfertigen zu müssen. Solche Ansprüche sind überzogen und inhuman. Statt den Alltag zu tribunalisieren, sollten die Menschen lieber selbst entscheiden dürfen, wer sie sein möchten und wie sie leben wollen. Marquard ist ein wertkonservativer Philosoph, der sich offen zur liberalen Demokratie und damit zur bürgerlichen Gesellschaft bekennt.
Für diese ist nicht nur ein zustimmungswürdiger Pluralismus charakteristisch, ohne den sie ihr menschliches Antlitz verlieren wird. Hinzu gesellen sich merkwürdige Entzweiungen, die sich nicht in einer höheren Synthese miteinander versöhnen und zu einer einheitlichen Ganzheit vermitteln lassen. So finden auf der einen Seite zahlreiche Versachlichungen und Entzauberungen etwa durch die mathematischen Naturwissenschaften statt. Diesen stehen auf der anderen Seite die Verklärungen der unberührten Landschaft oder die Wiederverzauberungen der Natur durch den ästhetischen Sinn gegenüber. Ähnlich gibt es einerseits die traditionsneutrale Technik, Medizin und Wirtschaft, denen andererseits die Geisteswissenschaften, Künste, Traditionen, der aufs Bewahren und Erinnern fixierte historische Sinn entgegenstehen. Damit zusammenhängend ist zum einen ein zunehmendes Entwicklungstempo in der modernen Welt festzustellen, zum anderen aber auch eine wachsende Kultur der Langsamkeit.
Marquard gehört zu den Philosophen, die die zivilisatorischen Errungenschaften auf dem Gebiet der Medizin, Technik und Wirtschaft eher als Segnungen begrüßen, anstatt sie als Fluch zu verurteilen. Ohne zu bestreiten, dass die wissenschaftlich-technische Zivilisation zu mancherlei Sorge Anlass gibt, wendet er sich gegen alle, die ihre Lebensvorzüge so sehr in den Hintergrund drängen, dass diese kaum noch in den Blick geraten: Immerhin ermöglichen doch erst sie ein Dasein in abgemilderter Not.
Obwohl sich die gegensätzlichen Kulturbereiche nicht in Synthesen miteinander vermitteln lassen, stehen sie Marquard zufolge nicht unverbunden nebeneinander. Die Traditionen, Künste und Geisteswissenschaften kompensieren die Verluste, die mit den Versachlichungen der modernen Technik und Naturwissenschaft einhergehen. Darum sind jene unverzichtbar. Die Künste und Geisteswissenschaften halten Wirklichkeiten präsent, die andernfalls unbemerkt und unverstanden blieben. Deshalb werden wir auch im Zeitalter der modernen Naturwissenschaften nicht aufhören, von künstlerischem Verstehen, tonangebendem Geschmack und von Stilwandel als der inneren Entwicklung kultureller Formen zu reden. Töne mögen als Schalldruckwellen und Farben als elektromagnetische Strahlungen bestimmter Wellenlängen erklärbar sein. Trotzdem bleiben eine uns ansprechende Melodie und ein uns berührendes Bild, was sie für uns schon immer waren: ein hermeneutisch zugängliches Sinnerleben eigener Art.
Wie schon sein Lehrer Joachim Ritter befürwortet Marquard also die neuzeitlichen Entzweiungen, statt das Misslingen ihrer synthetischen Vermittlung zu beklagen. Solche Vermittlungsversuche gingen immer zu Lasten einer der beiden Seiten. Im Grunde genommen seien solche Vermittlungen auch unmöglich und darüber hinaus noch gefährlich, führen sie doch zur Entwertung und Unterdrückung der einen oder anderen Seite. Die Menschen benötigen aber beide Kulturen zum Überleben und zum guten Leben.
Bei alldem hält Marquard an der alten These fest, dass der Mensch als schwaches, sorgenvolles Mängelwesen einer starken, rücksichtslosen Wirklichkeit gegenübersteht. Zu überleben und gut zu leben bedeutet daher, das Unmögliche zu vollbringen. Glücklicherweise ist Phantasielosigkeit keine menschliche Stärke. Der Mensch weiß sich selbst dort noch zu helfen, wo ihm nicht mehr geholfen werden kann. Marquard legt den Akzent weniger auf die Übermacht der Welt und die Ohnmacht des Menschen als vielmehr auf dessen Fähigkeit, mit alledem zurechtzukommen: Die übermächtige Wirklichkeit auf Distanz zu bringen und die eigenen lebensbedrohlichen Mängel auszugleichen, gelingt dem Menschen mit Hilfe der Kultur, die von lebenserhaltenden Werkzeugen bis zu lebenserfüllenden Kunstwerken reicht.