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Theodor Lessing

Haarmann

Der berüchtigste deutsche Serienmörder der Neuzeit

Theodor Lessing

Haarmann

Der berüchtigste deutsche Serienmörder der Neuzeit

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021
EV: Die Schmiede, Berlin, 1925
1. Auflage, ISBN 978-3-962818-78-4

null-papier.de/721

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Inhaltsverzeichnis

Vor­wort

Ers­ter Teil

Ort und Zeit des Dra­mas

Die ers­ten Lei­chen­fun­de

Das Si­gna­le­ment

El­tern­haus und Ju­gend

Auf der Ver­bre­cher­lauf­bahn

Die Zeit der Re­vo­lu­ti­on 1918/19

Stel­lung zur Po­li­zei

Die Ge­schlechts­ver­bre­chen

Zur See­len­kun­de

Der Freund

Psy­cho­lo­gi­sche Be­mer­kun­gen

Hugo

Mor­di­dyll: Neue Stra­ße 8

In der »Ro­ten Rei­he«

Die Ent­de­ckung

Das Ge­ständ­nis

Zwei­ter Teil – Der Pro­zess

Das Ge­richt

Die An­kla­ge

Die bei­den An­ge­klag­ten

Die Zeu­gen

Die Art der Tö­tung

27 Mord­fäl­le

1. Frie­del Ro­the,

2. Fritz Fran­ke, der Ber­li­ner,

3. Wil­helm Schul­ze aus Cools­horn,

4. Ro­land Huch,

5. Hans Son­nen­feld,

6. Ernst Ehren­berg,

7. Hein­rich Struß aus Ege­storf,

8. Paul Bro­ni­schew­ski aus Bo­chum,

9. Richard Gräf,

10. Wil­helm Erd­ner aus Gehr­den,

11. Her­mann Wolf,

12. Heinz Brink­mann aus Claus­thal,

13. Adolf Han­nap­pel aus Düs­sel­dorf,

14. Adolf Hen­nies,

Zwi­schen­spiel – Der Fall Kei­mes

15. Ernst Spie­cker,

16. Hein­rich Koch,

17. Wil­li Sen­ger,

18. Her­mann Spei­chert,

19. Al­fred Ho­gre­fe aus Lehr­te,

20. Her­mann Bock,

21. Wil­helm Apel aus Lein­hau­sen,

22. Ro­bert Wit­zel,

23. Heinz Mar­tin aus Chem­nitz,

24. Fritz Wit­tig aus Kas­sel,

25. Fried­rich Abe­ling,

26. Fried­rich Koch aus Her­ren­hau­sen,

27. Erich de Vries,

Rechts­tech­ni­sches

Der Aus­schluss der Kri­tik

Das To­des­ur­teil

Er­geb­nis

Un­ser al­ler Schuld

Nach­wort

An­mer­kun­gen

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

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Ihr
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Die­ses Buch er­schi­en zum ers­ten Mal 1925 un­ter dem Ti­tel »Haar­mann – Die Ge­schich­te ei­nes Wer­wolfs« im Ver­lag Die Schmie­de in Ber­lin als Band 6 der Rei­he »Au­ßen­sei­ter der Ge­sell­schaft – Ver­bre­chen der Ge­gen­wart«.

Der Au­tor ver­folg­te den Pro­zess 1925 als Au­gen­zeu­ge. Er sprach die zwie­lich­ti­ge Rol­le der er­mit­teln­den Po­li­zei an (u.a. war Haar­mann als Po­li­zei­spit­zel ge­führt). Da­rauf­hin wur­de er vom Pro­zess aus­ge­schlos­sen.

Vorwort

Kein Baum und kein Wald rauscht durch die­se Ge­schich­te. Kei­ne Blu­me und kein Stern bli­cken trös­tend dar­ein. Es han­delt sich um das hoff­nungs­los dunkle Ge­mäl­de ei­ner von al­len Na­tur­göt­tern aus­ge­sto­ße­nen Höh­len­mensch­heit, wel­cher auch das Be­glückends­te und Hei­ligs­te, das im Kos­mos wal­tet: die schöp­fe­ri­sche Lie­bes­macht der Na­tur zu Ver­bre­chen und Krank­heit, Las­ter und Un­na­tur miss­ra­ten ist. Nur mit Wi­der­wil­len, ja oft mit Ekel bin ich, ganz an­ders­ar­ti­ge Le­bens­ar­beit un­ter­bre­chend, der Chro­nist die­ses Stückes »Kul­tur­ge­schich­te« ge­wor­den. Aber ers­tens wur­de ich da hin­ein­ge­drängt durch ein Ge­richt, das die Wahr­heit zu ver­schlei­ern droh­te und mit­hin das ewig gül­ti­ge Recht zu Guns­ten des bloß zeit­lich gel­ten­den Rechts zu beu­gen un­ter­nahm. Weil aber die Wahr­heit be­droht war, so wur­de es fast zur Pf­licht, fol­ge­rich­tig durch­zu­grei­fen und den ge­sam­ten Rechts­fall klar und sach­lich vor die Nach­welt zu brin­gen. Dazu aber kam ein zwei­tes: In Stadt und Schau­platz ge­wur­zelt, war ich der ein­zi­ge, der Ort, Zeit, Per­so­nen und Zu­sam­men­hän­ge völ­lig über­se­hen konn­te. Und so wur­de es auch von die­ser Sei­te her zur Pf­licht ge­gen die künf­ti­gen Ge­schlech­ter, den merk­wür­digs­ten Rechts­fall un­se­rer Tage auf­zu­be­wah­ren. Es ge­sch­ah so, dass dem ein­fa­chen Le­ser alle Vor­gän­ge bild­haft le­ben­dig wer­den, dass an­de­rer­seits aber auch für die Wis­sen­schaft: Psy­cho­lo­gie, Psych­ia­trie, Straf­recht und Recht­sethik, das Stu­di­um die­ses Kri­mi­nal­fal­les wert­voll bleibt. Dar­über hin­aus aber sehe man in die­ser Schrift ein Stück Zeit­kri­tik und Cha­rak­ter­kun­de; denn in die­ser Hin­sicht kann dies Buch gel­ten als ein sinn­fäl­li­ges Bei­spiel zu den Leh­ren, die ich in »Un­ter­gang der Erde am Geist« und »Ge­schich­te als Sinn­ge­bung des Sinn­lo­sen« über Phi­lo­so­phie der Kul­tur und in der »Sym­bo­lik der mensch­li­chen Ge­stalt« zur Psy­cho­lo­gie nie­der­ge­legt habe.

Han­no­ver, im Ja­nu­ar 1925.

Theo­dor Les­sing, Dr. med. und phil. Prof. der Psy­cho­lo­gie.

Erster Teil

Ort und Zeit des Dramas

Han­no­ver, die Haupt­stadt der gleich­na­mi­gen Pro­vinz und der Mit­tel­punkt der nie­der­säch­si­schen Lan­de, liegt an den letz­ten Aus­läu­fern des deut­schen Mit­tel­ge­bir­ges, von wel­chem aus sich die nord­deut­sche Ebe­ne mit ih­ren san­di­gen Kie­fern- und Hei­de­be­zir­ken bis fern zur Nord­see­küs­te hin­ab­zieht. Das Flüss­chen Lei­ne, vom Eichs­fel­de kom­mend und die zwi­schen Harz und We­ser­ber­gen ein­ge­senk­te hü­ge­li­ge Mul­de Göt­tin­gens durch­flie­ßend, er­reicht un­ter­halb Elze, zwi­schen dem Hil­des­hei­mer Wald und dem Os­ter­wald her­vor­bre­chend, die kah­le nord­deut­sche Ebe­ne; von Han­no­ver ab macht der Fluss einen Bo­gen nach Wes­ten und mün­det hin­ter Hu­de­müh­len im Gro­ßen Moor. Das »Hohe Ufer«, dort wo der Fluss die Deis­ter­bä­che Ihme und Föße auf­nahm und in schnel­lem Lau­fe die Alt­stadt durch­eilt, hat wohl dem um 1050 zu­erst er­wähn­ten Ort den Na­men ge­ge­ben: »Ho­no­ver­e«. – Eine Stadt im Grü­nen! Denn ein Wald­gür­tel, die Ei­len­rie­de ge­nannt, 2500 Mor­gen weit, um­zieht die Stadt in wei­tem Halb­kreis und lässt nur nach Sü­den die Ebe­ne of­fen, in wel­che sich die so­ge­nann­te Masch (oder Marsch) hin­ein­schiebt, ein was­ser­rei­ches, sump­fi­ges Flach­land, an des­sen Rand wie­der­um Wald­hü­gel, ge­nannt Deis­ter (von Dix­ter-Dicht­wald), die Stadt um­gren­zen. We­ni­ge eu­ro­päi­sche Städ­te ha­ben zwi­schen 1850 und 1900 so völ­lig ihr Ant­litz ver­än­dert. Bis 1866 war Han­no­ver die welt­fern-vor­neh­me Re­si­denz der al­ten eng­li­schen Wel­fen­kö­ni­ge. In dem grü­num­busch­ten Idyll der durch sechs­hun­dert Jah­re träu­men­den Nie­der­sach­sen­stadt schlu­gen die ers­ten Ler­chen der deut­schen Ly­rik: Höl­ty und Bür­ger, so­dann die Früh­nach­ti­gal­len der Ro­man­tik: die Brü­der Schle­gel; hier grü­bel­ten Lich­ten­berg und Lei­se­witz, Det­mold und Fe­der, und vor al­lem der wis­sens­reichs­te deut­sche Den­ker: Leib­niz. Mo­ritz und If­f­land sind hier ge­bo­ren, so­wie Hart­le­ben und Frank We­de­kind. Als Han­no­ver 1866 durch Bis­marck für Preu­ßen an­nek­tiert wur­de, hat­te die Stadt kaum 70.000 Ein­woh­ner. Aber in der Zeit nach dem sieg­rei­chen Krieg mit Frank­reich, zwi­schen 1870 und 1873, in der so­ge­nann­ten Grün­der­zeit, hielt die In­dus­trie macht­voll Ein­zug, so­dass die klei­nen lieb­li­chen Dör­fer der Um­ge­bung, Hain­holz, Döh­ren, Lim­mer, List bald zu ru­ßi­gen Fa­brik­vor­or­ten sich wan­del­ten. Eine Tech­ni­sche Hoch­schu­le wur­de ge­baut; die Deis­ter­koh­le ge­schürft, und vollends än­der­te sich das Stadt­bild, als der schiff­ba­re Rhein-We­ser-Lei­ne-Kanal an­ge­legt und in den großen »Mit­tel­land­ka­nal« über­führt wur­de, gleich­zei­tig aber die rie­si­gen Ka­lischät­ze des Bo­dens rund um Han­no­ver ab­ge­baut zu wer­den be­gan­nen. Eine ein­zi­ge Fa­brik­an­la­ge, die so­gen. »Con­ti­nen­tal«, wel­che sich mit dem Her­stel­len künst­li­chen Kaut­schuks be­schäf­tig­te, mach­te bin­nen we­ni­ger Jah­re aus dem klei­nen Vo­r­ort Vah­ren­wald ein fünf­zehn­tau­send­köp­fi­ges Pro­le­ta­ri­er­vier­tel. Braue­rei­en, Spin­ne­rei­en, Woll­wä­sche­rei­en, die Ma­schi­nen­fa­bri­ken von Gebr. Kör­ting und Ge­org Ege­storff und die so­gen. Han­o­mag, eine Wa­gen- und Wag­gon­fa­brik wan­del­ten das jen­seits der Ihme ge­le­ge­ne Dorf Lin­den in eine Fa­brik­vor­stadt von über hun­dert­tau­send Be­am­ten- und Pro­le­ta­ri­er­fa­mi­li­en. Im­mer­hin war die­se Ent­wick­lung zu Geld­herr­schaft und Wer­ker­tum, dar­un­ter die alte Adels- und Bau­ern­kul­tur Nie­der­sach­sens er­stick­te, kei­nes­wegs un­ge­wöhn­lich. Sie war das all­ge­mei­ne We­sens­ge­prä­ge des wil­hel­mi­ni­schen Deutsch­lands. Wah­res Höl­len­cha­os aber setz­te ein, als dies preu­ßi­sche Machtreich zer­brach und eine an Tö­ten und »Re­qui­rie­ren« ge­wöhn­te, im fünf­jäh­ri­gen Welt­krieg ver­wil­der­te Ju­gend, alle Zucht und Form ab­schüt­telnd, in die völ­lig arm­ge­wor­de­ne, aus­ge­zo­ge­ne Hei­mat zu­rück­kehr­te. 14 Mil­lio­nen Tote! Im Os­ten Hun­ger­s­nö­te, wel­che gan­ze Län­der­stri­che da­hin­raff­ten und schließ­lich da­hin führ­ten, dass El­tern ihre Kin­der, Kin­der ihre El­tern fra­ßen. Ent­ar­tung, Ver­ar­mung, Ver­wir­rung oh­ne­glei­chen. Das deut­sche Geld auf dem Welt­markt so ent­wer­tet, dass nur durch das im­mer neue Dru­cken und Hin­aus­schleu­dern im­mer neu­er wert­lo­ser Pa­pier­fet­zen ein trost­lo­ses Schein­le­ben von Tag zu Tag ge­fris­tet wur­de. In die­ser so­ge­nann­ten »In­fla­ti­ons­zeit«, an­he­bend mit dem Zu­sam­men­bruch der deut­schen Hee­re im Welt­krieg und den Stür­men der deut­schen Re­vo­lu­ti­on, be­gann die Be­deu­tung der Stadt Han­no­ver als ei­nes in­ter­na­tio­na­len Durch­gangs- und Schie­ber­mark­tes plötz­lich zu wach­sen. Die Stadt be­her­berg­te um 1918 etwa 450.000 Men­schen. Knapp vier Ei­sen­bahn­stun­den von Ber­lin, Deutsch­lands großem Was­ser­kopf ent­fernt, knapp acht Stun­den ent­fernt von Köln (wo da­mals Eng­län­der-, Fran­zo­sen- und Bel­gier­herr­schaft be­gann), war Han­no­ver der güns­tigs­te Mit­tel­punkt für das Tausch-, Schie­ber- und Trans­ak­ti­ons-Ge­schäft, wel­ches Tau­sen­de er­nähr­te. Alle Welt leb­te von Spe­ku­la­ti­on. Da Geld nichts mehr galt, und nur Sach­wer­te das Le­ben fris­ten konn­ten, so wur­de auf­ge­kauft, ge­tauscht und ge­stoh­len wie nie zu­vor. Und zwi­schen Ber­lin, in wel­ches der sla­wi­sche, wen­di­sche, pol­ni­sche, jü­di­sche Os­ten ein­ström­te, Ams­ter­dam, wo viel Reich­tum ab­floss nach Hol­land und Eng­land und end­lich Köln, wel­ches nach Bel­gi­en und Frank­reich die Brücke schlug, lag Han­no­ver aufs güns­tigs­te in der Mit­te, so­dass sich hier auf­zu­tun ver­moch­ten hun­dert neue Grün­dun­gen, hun­dert neue Ver­gnü­gungs- und Las­ter­stät­ten, die ein schlim­mes Händ­ler-, Schie­ber-, Pa­ra­si­ten- und Schma­rot­zer­volk ins Land brach­ten, lang­sam zer­fres­send die alte bür­ger­li­che Tüch­tig­keit und eh­ren­fes­ten So­li­di­tät der (wie ein großer Dich­ter sie nann­te) »fahls­ten un­se­rer Städ­te«.

An drei Stel­len der Stadt er­hob sich ein Gau­ner-, Heh­ler- und Pro­sti­tu­ti­ons­markt oh­ne­glei­chen, des­sen die Be­hör­den nicht mehr Herr wur­den. Zu­nächst im Bahn­hof und auf den ihn um­ge­ben­den Plät­zen. Hier wur­de in der schwe­ren Brot­mar­ken­zeit, wo man Brot, Fleisch und Milch nur in kleins­ten Ra­tio­nen ge­gen teu­res Geld und nach stun­den­lan­gem »Schlan­gen­stehn« er­hal­ten konn­te, un­ter der Hand ein schwung­haf­ter Han­del mit ge­stoh­le­nem und heim­lich ge­schlach­te­tem Nutz­vieh, auch mit Ka­nin­chen, Zie­gen, Hun­den und Kat­zen, mit Kar­tof­feln, Mehl und mit al­ler­hand ge­pasch­ter und ver­scho­be­ner Ware ge­trie­ben; vor al­lem aber mit Klei­dern, Wä­sche und Schu­hen. Hier ver­sam­mel­ten sich all­nächt­lich in den War­te­sä­len vie­le Ob­dach­lo­se, Ar­beits­lo­se, Hung­ri­ge und Ent­gleis­te.

Geht man vom Bahn­hof aus die brei­te Bau­mal­lee der Bahn­hofs­s­tra­ße ent­lang, so ge­langt man nach we­ni­gen Mi­nu­ten in die Ge­org­stra­ße, die Herzader der Stadt. Ein wei­ter Bou­le­vard, lin­den­über­blüht, vol­ler Bee­te, Gar­ten­an­la­gen, Pa­vil­lons und Denk­mä­ler. Und dort zwi­schen dem al­ten be­rühm­ten Hof­thea­ter und den schö­nen Gar­ten­an­la­gen des so­ge­nann­ten Café Kröp­cke be­fand sich um 1918 ein zwei­tes Zen­trum der Sit­ten­lo­sig­keit: der »Markt der männ­li­chen Pro­sti­tu­ier­ten«, de­ren 500 da­mals in den Po­li­zei­lis­ten ein­ge­schrie­ben stan­den, in­des der Kri­mi­nal­o­be­rin­spek­tor die Ge­samt­zahl der so­ge­nann­ten Ho­mo­se­xu­el­len in Han­no­ver auf na­he­zu 40.000 ver­an­schlag­te. Sie bil­de­ten eine ei­ge­ne klei­ne Welt. In ei­nem der schöns­ten Lo­ka­le der Ka­len­ber­ger Vor­stadt, dem so­gen. Neu­städ­ter Ge­sell­schafts­haus ver­an­stal­te­ten sie Ge­sell­schafts­aben­de und Bäl­le, bei de­nen Kna­ben und Jüng­lin­ge in weib­li­cher Ball­klei­dung den Da­men­flor ver­tra­ten. Ein zwei­ter min­der vor­neh­mer Treff­punkt war der alte Ball­hof, ein Barock­saal aus der Kö­nigs- und Kur­fürs­ten­zeit. Und für die al­ler­un­ters­te Schicht gab es in ei­ner der äl­tes­ten und ver­ru­fens­ten Stra­ßen der Alt­stadt, wel­che »Neue Stra­ße« heißt, ein klei­nes Tanz­lo­kal, ge­nannt »Zur schwu­len Gus­te«, wo nur auf ein be­stimm­tes Zei­chen hin zu­ge­las­sen, les­bi­sche Mäd­chen und gleich­ge­schlecht­lich ge­rich­te­te Män­ner nachts zu­sam­men­ka­men. Aber das drit­te Haupt­zen­trum al­les Lu­der- und Las­ter­le­bens war die ma­le­ri­sche Alt­stadt, dort wo der Fluss an dem so­ge­nann­ten Ho­hen Ufer ent­lang eine von vie­len Brücken über­quer­te, als »Klein-Ve­ne­dig« be­kann­te, ur­al­te In­sel­stadt bil­det: Ver­fal­le­ne Win­kel, Jahr­hun­der­te al­tes Ge­mäu­er, ein trot­zi­ger alt­säch­si­scher Be­gui­nen­turm und ein Ge­wirr von Gie­beln, Fach­werk und bau­fäl­li­gen, noch ans Mit­tel­al­ter mah­nen­den Gas­sen, aus de­ren Mit­te jene Kir­che ragt, in wel­cher Leib­niz be­gra­ben liegt, so­wie der auf dem »Ber­ge«, ei­ner plan­ge­mach­ten Ram­pe, er­bau­te mau­ri­sche Ju­den­tem­pel. Die­ser Stadt­teil, un­mit­tel­bar be­nach­bart dem vom Strom be­spül­ten mäch­ti­gen Schloss der Wel­fen, war einst der vor­nehms­te Stadt­teil, ist aber im Lauf der Zei­ten, ähn­lich der Um­ge­bung des Ber­li­ner Schlos­ses, zum ärms­ten Ka­schem­men- und Ver­bre­cher­vier­tel her­ab­ge­sun­ken. Gleich dem al­ten Hil­des­heim, Braun­schweig und Gos­lar das Ent­zücken für je­des schön­heits­u­chen­de Auge, wur­de die­ses äl­tes­te Han­no­ver die Brut­stät­te licht­lo­ser, ar­mut­gel­ber, in Ver­fall und Mo­der at­men­der, zum Un­glück ver­fluch­ter Ge­schlech­ter. –

Die »Neue Stra­ße« mit dem eins­ti­gen Wohn­haus des Her­zogs Fried­rich Wil­helm von Braun­schweig, dem spä­te­ren Ar­men­haus, zieht sich ent­lang der stei­len Ufer­hö­he des Flus­ses. Die Hin­ter­wän­de ih­rer drei­hun­dert­jäh­ri­gen Häu­ser, ihre Er­ker und Bal­ko­ne stür­zen jäh hin­ab in den Fluss, über des­sen Ufern die grü­num­busch­ten ar­men Höfe und rüh­rend be­schei­de­nen Gärt­chen schwe­ben. Nicht weit da­von, dem Ju­den­tem­pel ge­gen­über, liegt die so­ge­nann­te »Rote Rei­he«; eine Grup­pe mü­der, ein­an­der kaum noch stüt­zen­der mor­scher Häu­ser, in de­ren ei­nem (dem Mord­haus be­nach­bart) einst der Elek­tro­tech­ni­ker Rühm­korff die In­duk­ti­ons­elek­tri­zi­tät ent­deck­te. In die­sem schmut­zi­gen Häu­ser­ge­wirr, auf den seit Jahr­hun­der­ten aus­ge­tre­te­nen elen­den Holz­stie­gen, in Ver­schlä­gen, mehr Kä­fi­gen gleich, nur durch dün­ne Ta­pe­ten­wän­de oder Bret­ter­ver­schlä­ge von­ein­an­der ab­ge­trennt, haus­ten in Deutsch­lands Elends­zeit die Ärms­ten der Ar­men. Die aus dem großen Krie­ge üb­rig­ge­blie­be­ne Ju­gend hat­te die Leh­re be­grif­fen, dass man um ei­nes Rockes, um ei­nes Paar Stie­fel wil­len den Feind tö­ten darf. Und »Feind« ist je­der an­de­re. Auf der »In­sel« war Die­bes­bör­se und Heh­ler­markt. Hier wur­de (in der Spra­che die­ser Hin­ter­welt ge­re­det) all­abend­lich ge­kün­gelt und ge­küt­che­bücht. Hier wur­de Scho­res ge­scho­ben (d.h. Die­bes­wa­re ver­han­delt), wur­de Reb­bes ge­macht, wur­de man­che »hei­ße Sa­che ge­dreht«. Abends, wenn der Mond hing über den mor­schen Dä­chern und grau­en Schlo­ten und den ge­spens­ti­gen schwar­zen Fluss ver­sil­ber­te, kam die schwe­re, dür­re, zer­mürb­te, zer­ar­bei­te­te Lei­dens­mensch­heit aus ih­ren al­ten Käs­ten her­vor und hing und hock­te über der stin­ken­den La­gu­ne, auf der al­ten Brücke: arme, sor­gen­schwe­re, kin­der­rei­che Müt­ter, mü­de­ge­wor­de­ne, früh ver­stumpf­te Män­ner. Und da­zwi­schen wim­mel­te le­bens­gie­rig das jun­ge Volk; die Un­zahl der Gas­sen­dir­nen und ih­rer Zu­häl­ter, »Nep­per«, »St­re­zer«, »Scho­res­ma­cher«, die in der »Kreuz­klap­pe«, im »Klee­blatt«, im »Deut­schen Her­mann« man­che Mis­se­tat bal­do­wer­ten, wäh­rend die rät­sel­haf­ten Ster­ne glit­zer­ten im dunklen Was­ser des in sich selbst ver­sump­fen­den Stro­mes.

Die ersten Leichenfunde

Am 17. Mai 1924 fan­den Kin­der, die an der Was­ser­kunst nahe dem Schloss Her­ren­hau­sen spiel­ten, einen Men­schen­schä­del. Am 29. Mai wur­de mit­ten in der Stadt an der Bruck­müh­le hin­term Lei­ne­schloss im Müh­len­gra­ben ein fei­ner Jüng­lings­schä­del an­ge­spült. Am 13. Juni klag­ten die au­gen­lo­sen Höh­len zwei­er neu­er Schä­del zum Licht. Wie­de­r­um: der eine im Os­ten der Stadt bei der Was­ser­kunst; der an­de­re im Wes­ten ne­ben der Brück­müh­le. Die ge­richt­s­ärzt­li­che Un­ter­su­chung er­gab, dass es sich han­del­te um Köp­fe jun­ger Men­schen im Al­ter von 18 bis 20 Jah­ren. Bei dem am 13. Juni bei der Brück­müh­le ge­fun­de­nen um den ei­nes 11 bis 13 Jah­re al­ten Kna­ben. Bei al­len Schä­deln war fest­zu­stel­len, dass sie mit ei­nem schar­fen In­stru­ment vom Rump­fe ge­trennt wor­den wa­ren. Fleisch­tei­le fehl­ten fast völ­lig oder wa­ren ver­west, da die Kno­chen an­schei­nend schon lan­ge Zeit im Was­ser ge­le­gen hat­ten. An dem am 13. Juni bei der »Was­ser­kunst« ge­fun­de­nen Kopf ließ sich fest­stel­len, dass die Kopf­haut durch einen skal­par­ti­gen Schnitt vom Kno­chen ab­ge­löst wor­den war. Man riet zu­nächst dar­auf, dass die Schä­del aus der Göt­tin­ger Ana­to­mie stamm­ten, oder dass sie in Al­feld, wo zu je­ner Zeit eine Ty­phus­epi­de­mie herrsch­te, in die Lei­ne ge­wor­fen wa­ren, oder end­lich, dass sie ins Was­ser ge­schleu­dert wur­den, ge­le­gent­lich von Grä­ber­schän­dun­gen, die im En­ge­soh­der Fried­hof ent­deckt wur­den. Kei­ne von die­sen Ver­mu­tun­gen be­stä­tig­te sich. Da­ge­gen fan­den Kna­ben, die auf ei­ner Wie­se in der Döh­re­ner Masch spiel­ten, einen Sack mit mensch­li­chen Kno­chen, und am 24. Juli wur­de in der Feld­mark Garb­sen aber­mals ein of­fen­bar vom Kör­per ge­trenn­ter skal­pier­ter Schä­del auf­ge­fun­den, wel­cher wie­der­um von ei­nem ganz jun­gen Men­schen stamm­te. Die vie­len Kno­chen­fun­de konn­ten nicht ver­bor­gen blei­ben. Es be­mäch­tig­te sich wei­ter Volks­krei­se eine schon lan­ge vor­be­rei­te­te Schrecks­ucht. Schon seit Jahr und Tag näm­lich war im Vol­ke ein aber­gläu­bi­sches Gerücht im Schwan­ge: »Es gibt in der Alt­stadt Men­schen­fal­len. Jun­ge Kin­der ver­schwin­den in Kel­lern. Kna­ben wer­den in den Fluss ver­senkt.« Man er­zähl­te, dass in der schwe­ren Not­zeit Men­schen­fleisch auf dem Markt ver­kauft wor­den sei. In den Dör­fern um Han­no­ver wei­ger­ten sich jun­ge Mäg­de, in die Stadt ein­kau­fen zu ge­hen. Und die un­ge­wis­se Angst vor ei­nem die Ge­gend un­si­cher ma­chen­den »Wer­wolf« wuchs von Tag zu Tag. In den Jah­ren 1918 bis 1924 wa­ren au­ßer­ge­wöhn­lich vie­le Men­schen ver­misst oder ver­schwun­den. Im Jah­re 1923 wuchs die Zahl der als ver­misst Ge­mel­de­ten auf fast 600, und wenn auch die grö­ße­re An­zahl der Ver­miss­ten sich wie­der ein­fand, so blieb doch im Ver­gleich mit an­de­ren gleich­großen Städ­ten die An­zahl der Ver­schwun­de­nen in Han­no­ver ziem­lich groß. Die Nach­for­schung zeig­te, dass es sich recht häu­fig han­del­te um Kna­ben und Jüng­lin­ge zwi­schen 14 und 18 Jah­ren.

Am Pfingst­sonn­tag des Jah­res 1924 zo­gen Hun­der­te aus Han­no­ver und Um­ge­bung an die »Ho­hen Ufer«, be­setz­ten die klei­nen Ste­ge und Lei­ne­brücken der Alt­stadt und be­gan­nen ein fie­ber­haf­tes Su­chen nach Lei­chen­tei­len und Kno­chen. Am fünf­ten Juli in der Mor­gen­frü­he wur­de, nach­dem man noch eine gan­ze An­zahl mensch­li­cher Kno­chen ge­fun­den hat­te, das gan­ze Fluss­bett von der Brück­müh­le an bis zur großen Lei­ne­brücke am Cle­ver­tor ab­ge­dämmt und durch Po­li­zei­be­am­te und städ­ti­sche Ar­bei­ter gründ­lich nach Lei­chen­tei­len durch­sucht. Die­se Stel­le der Lei­ne liegt mit­ten in der Stadt. Sie kann von Selbst­mör­dern we­gen des dort statt­fin­den­den star­ken Ver­kehrs nicht auf­ge­sucht wer­den. Das Er­geb­nis war furcht­bar. Es wur­den über 500 Lei­chen­tei­le ge­fun­den, de­ren Un­ter­su­chung durch den Ge­richts­arzt er­gab, dass es sich um die Res­te von min­des­tens 22 Per­so­nen han­del­te, von de­nen un­ge­fähr ein Drit­tel im Al­ter zwi­schen 15 und 20 ge­stan­den ha­ben moch­te. Etwa die Hälf­te hat­te schon län­ge­re Zeit im Was­ser ge­le­gen. – An den noch fri­schen Kno­chen aber wie­sen die Ge­len­ke glat­te Schnitt­flä­chen auf.

In­zwi­schen war teils durch das forsch zu­grei­fen­de Vor­ge­hen des Kri­mi­nal­kom­missars Retz, ei­nes freund­li­chen jun­gen Rie­sen, teils durch eine Rei­he merk­wür­di­ger Zu­fäl­le die Auf­klä­rung ge­lun­gen. Am 23. Juni wur­de der ver­mut­li­che Tä­ter ins Ge­richts­ge­fäng­nis ein­ge­lie­fert. Es war der am 25. Ok­to­ber 1879 zu Han­no­ver ge­bo­re­ne Fried­rich, ge­nannt Fritz, Haar­mann; fünf­zehn­mal vor­be­straft; seit 1918 Spit­zel im Diens­te der Kri­mi­nal­po­li­zei; im Üb­ri­gen Han­del trei­bend mit Klei­dern und Fleisch; seit vie­len Jah­ren auf der Si­cher­heits- und Kri­mi­nal­po­li­zei be­kannt als Ho­mo­se­xu­el­ler. – Sei­ne Er­schei­nung warf alle ge­wohn­ten Vor­stel­lun­gen von Mord und Mör­dern über den Hau­fen.

Das Signalement1

Vor uns steht eine kei­nes­wegs un­sym­pa­thi­sche Er­schei­nung. Äu­ßer­lich be­trach­tet: ein schlich­ter Mann aus dem Volk. Freund­lich bli­ckend und ge­fäl­lig, zu­vor­kom­mend; auf­fal­lend ge­pflegt, sau­ber und »tipp-topp«. Er ist gut mit­tel­groß, breit und wohl­ge­baut und hat ein zwar der­bes, gro­bes aber gleich­sam wie blank­ge­scheu­er­tes, kla­res und of­fe­nes Voll­mond­ge­sicht mit fri­schen Far­ben und klei­nen neu­gie­ri­gen und fröh­li­chen Tier­äug­lein. Sein Schä­del ist rund, zeigt brei­te flie­hen­de Stirn, schma­les Mit­tel­haupt und eine stei­le Li­nie des Hin­ter­haup­tes. Die Ohren sind nicht groß, lie­gen ein we­nig un­ter­halb der Au­gen­hö­he und ste­hen vom Kopf ab. Auch die Nase ist nicht groß und so we­nig auf­fal­lend wie das gan­ze Ant­litz. Im Pro­fil nicht un­edel, sieht sie doch von vorn be­trach­tet et­was knol­lig aus, ist an der Wur­zel breit und hat star­ke wit­tern­de Flü­gel. Der Mund ist klein, frech und dic­klip­pig. Die Zun­ge, in der Er­re­gung vor­schnel­lend und die Lip­pen net­zend, ist auf­fal­lend flei­schig; die Zäh­ne sind weiß, stark, scharf und ge­sund; das Kinn tritt ener­gisch vor. Die Ober­lip­pe schmückt ein klei­nes eng­li­sches Bärt­chen, die vol­len Wan­gen sind sau­ber ra­siert. Sein bräun­li­ches Haupt­haar, glatt an­lie­gend und links ge­schei­telt, ist nicht eben voll. Das zwi­schen braun und grau schil­lern­de Auge ist kalt und see­len­los; aber ge­ris­sen und ver­schla­gen und meis­tens in Be­we­gung. Der Blick ist su­chend nach au­ßen ge­kehrt; aber ver­glet­schert zu un­nah­ba­rer Ver­schlos­sen­heit, so­bald die hys­te­risch auf- und ab­flu­ten­de Stim­mung auf Pein­li­ches fest­ge­legt wird. Merk­wür­dig aber ist fol­gen­der Ge­gen­satz: Die­se Phy­sio­gno­mie2 ist auf­fal­lend ge­bun­den, un­ge­löst, und »wie ein­ge­spun­den im Fas­se ih­res Ich«. Zu­gleich aber gibt sich der Mann un­er­träg­lich ge­schwät­zig, mit­tei­lungs­be­dürf­tig und über­be­weg­lich. Er re­det fort­wäh­rend auf sein Ge­gen­über ein; da­bei fuch­telt er mit sei­nen wei­ßen weich­li­chen Hän­den und den lan­gen Fin­gern, an de­nen er in der Ner­vo­si­tät un­auf­hör­lich zerrt und zupft. An der lin­ken Hand fehlt ihm ein Fin­ger­glied. Er gibt an, dass es bei ei­ner Schlä­ge­rei ihm ab­ge­bis­sen wor­den sei. Auch sein Rumpf ist gut ent­wi­ckelt; der Na­cken ist stark und ge­mein; Brust und Rücken zei­gen wie das Ge­säß rund­li­che wei­bi­sche Fett­pols­ter. Der Leib ist zwar derb, aber hat et­was vom Wei­be. Das Ge­schlechts­glied ist stark; die Scham­be­haa­rung ver­läuft nicht im spit­zen Win­kel zum Na­bel, son­dern im fla­chen Bo­gen ober­halb des Scham­bei­nes. Die plum­pen Füße ha­ben fla­che Soh­len. Die Stim­me, brei­ig, schlei­mig und nah am Dis­kant, er­in­nert an das Or­gan al­ter Frau­en. Der gan­ze Ha­bi­tus ist »an­dro­gyn«. Man möch­te sa­gen: nicht männ­lich, nicht weib­lich, nicht kind­lich. Aber män­nisch, wei­bisch und kin­disch zu­gleich. Am auf­fallends­ten an dem Mann (lei­der von den Sach­ver­stän­di­gen nicht stu­diert und nicht ein­mal be­ach­tet) sind die vie­len Au­to­ma­tis­men und Ste­reo­ty­pi­en. (Als »Au­to­ma­tis­men« be­zeich­ne ich sol­che Aus­drucks­be­we­gun­gen, die un­will­kür­lich wie­der­keh­ren; als »Ste­reo­ty­pi­en« sol­che, die all­mäh­lich zu Ge­wohn­heit ge­wor­den sind.) Au­to­ma­tisch sind z. B. ge­wis­se Be­we­gun­gen: eine Art Ta­pe­rig­keit oder Tat­te­lig­keit des Gan­ges, so­dann (be­son­ders wenn man ihn lobt oder in Ver­le­gen­heit bringt) eine fast ko­ket­te Schwän­ze­lei mit Ge­säß und Un­ter­kör­per. Fer­ner: so­bald er müde wird, be­ginnt er au­to­ma­tisch mit der lin­ken Hand an eine be­stimm­te Stel­le des rech­ten Mit­tel­haup­tes zu grei­fen, als wenn sich dort ein kran­ker Fleck be­fän­de. Wenn er den Fa­den ver­liert (denn er muss wie Ster­nes Kor­po­ral Trim »alle Sa­chen ganz von vorn er­zäh­len«) macht er eine ty­pi­sche Leck­be­we­gung mit der flei­schi­gen Zun­ge. Ste­reo­typ ist an ihm je­nes ewi­ge Zer­ren an den Fin­gern, das Be­net­zen der Lip­pen, das Ein­knei­fen der Au­gen­li­der, so­bald er eine Ver­tei­di­gungs­hal­tung an­nimmt. Auch sind alle sei­ne Re­den über­voll von ste­reo­ty­pen Re­dens­ar­ten. (Nüch? nüch wahr? Och! Och ne! »Und so wei­ter, und so wei­ter!« Auch Un­sinn! … Er spricht üb­ri­gens auf­fal­lend han­no­ver­a­nisch.) Be­stimm­te Lieb­lings­vor­stel­lun­gen keh­ren im­mer wie­der. (Z. B., dass alle Jun­gen in ihn ver­liebt sei­en; dass nicht er hin­ter Kna­ben, son­dern dass die Kna­ben alle hin­ter ihm her sei­en; dass auch die Frau­en (die er im Üb­ri­gen tief ver­ach­tet und gleich­sam als Ne­ben­buh­le­rin­nen emp­fin­det) gern mit ihm »pous­sie­ren« möch­ten.) Ob­wohl er nicht den min­des­ten Sinn hat für frem­de Rech­te und über­haupt kei­ne so­zia­len (sym­pa­thi­schen, al­truis­ti­schen; aus Mit­leid flie­ßen­den) Ge­füh­le hegt, ist er doch durch­aus ge­sel­lig. Die bei­den tiefs­ten Ge­füh­le sei­ner Na­tur sind das Be­dürf­nis nach Wol­lust und das Be­dürf­nis nach Zärt­lich­keit. Und sie sind so an­ein­an­der­ge­fes­selt, wie im Ma­hab­ha­ra­ta der Men­schen­fres­ser Hi­dim­ba, der Dä­mon der Blut­gier, ge­bun­den ist an sei­ne Schwes­ter Hi­dim­ba, die Göt­tin der zärt­li­chen Schön­heit. Er möch­te ge­liebt, ja er möch­te ger­ne be­wun­dert sein und steckt voll von Be­ach­tungs- und Be­ein­träch­ti­gungs­ide­en, wo­bei er mault und schmollt wie ein dum­mes stör­ri­sches Kind, das sich im­mer be­nach­tei­ligt wähnt. – Er liebt weib­li­che Ar­bei­ten, backt, kocht und stopft St­rümp­fe, raucht aber da­bei schwe­re Zi­gar­ren. Im­mer­hin ge­hört er zum Ty­pus des »Weib­man­nes« (der so­ge­nann­ten Tan­te). Sei­ne Lieb­lings­genüs­se sind Boh­nen­kaf­fee, star­ke Zi­gar­ren und Harz­kä­se. Im All­ge­mei­nen er­scheint er wie ein gar nicht bös­ar­ti­ges, ganz im Au­gen­blick le­ben­des, völ­lig ei­gen­be­züg­li­ches und durch­aus trieb­haf­tes Tier; re­nom­mis­tisch, aber leicht lenk­bar. Jede Vor­stel­lung, die man ihm ein­gibt, hat die Stre­bung für sein Be­wusst­sein so­fort »Wirk­lich­keit« zu wer­den; eben dar­um ist er voll­kom­men au­ßer­stan­de, ab­strak­te, d.h. un­bild­li­che Vor­stel­lun­gen fest­zu­hal­ten. Man könn­te in die­ser Hin­sicht sa­gen, dass sein Ver­stand weit schlech­ter ent­wi­ckelt ist, als sei­ne Ver­nunft. Die­ser »Kurz­schluss« zwi­schen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit ist so un­mit­tel­bar, dass, wenn er z. B. vom Köp­fen (»Ge­köppt wer­den«) spricht, er bild­haft den Gang zum Scha­fott und das Fal­len des Fall­mes­sers dem Be­su­cher vor­ahmt; wenn er er­zählt, wie er die Lei­chen zer­stückel­te, so ahmt er mit den Hän­den die Schnit­te nach; stei­gert er sich in Sen­ti­men­ta­les hin­ein (»Ich will auf dem Kla­ges­markt hin­ge­rich­tet wer­den. Auf mei­nem Grab steht der Spruch: ›Hier ruht der Mas­sen­mör­der Haar­mann.‹ An mei­nem Ge­burts­tag kommt Hans und legt einen Kranz nie­der«), dann kom­men ihm so­gleich Trä­nen ins Auge; be­rich­tet er von Ge­schlecht­li­chem, dann greift er (selbst im Ge­richts­saal) au­to­ma­tisch in die Ge­schlechts­ge­gend. Er ist ein Stück Na­tur; ohne Lo­gik und ohne Moral. Aber auch ohne lo­gi­sche und mo­ra­li­sche Heu­che­lei.


  1. Steck­brief  <<<

  2. Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge.  <<<

Elternhaus und Jugend

Am 25. De­zem­ber 1921 verstarb, 76 Jah­re alt, in Han­no­ver der »olle Haar­mann«. Man­che Han­no­ve­ra­ner er­in­nern sich noch an das ver­mi­cker­te, gnit­te­ri­sche, zän­ki­sche, im­mer übel­lau­ni­ge und übel­neh­me­ri­sche Männ­lein als an das Ur­bild ei­nes Kra­kee­lers und miss­wol­len­den Pfen­nig­fuch­sers. – – Hin­ter al­len »Schür­zen« war er her. Abend­lich aber ran­da­lier­te oder prahl­te er in den al­ten Pin­ten, Ka­bak­ken und Ka­buffs der Alt­stadt. Schon sein Va­ter war Que­ru­lant und Trin­ker ge­we­sen. Und in der Fa­mi­lie gab es eben­so viel Erb­be­las­te­te wie in Zo­las Fa­mi­lie Rou­gon-Mac­quart. Der »olle Haar­mann« war in sei­ner Ju­gend Lo­ko­mo­tiv­hei­zer; hat­te aber den Dienst, dar­in er für un­zu­ver­läs­sig galt, 1886 ver­las­sen, we­gen ei­nes an­geb­lich im Be­trieb er­lit­te­nen Un­falls, wo­bei sein Lo­ko­mo­tiv­füh­rer zu Tode kam. Er pro­zes­sier­te, ein ty­pi­scher Ren­ten­hys­te­ri­ker, mit der Ei­sen­bahn­di­rek­ti­on, ob­wohl er ei­gent­lich in ganz be­hag­li­chen Ver­hält­nis­sen le­ben konn­te. Denn durch eine Nutz­hei­rat mit ei­ner sie­ben Jah­re äl­te­ren Frau, sei­ner am 5. April 1901 ver­stor­be­nen Ehe­frau Jo­han­ne, geb. Clau­di­us, wa­ren ihm ein paar Häu­ser und ein klei­nes Ver­mö­gen in die Hän­de ge­kom­men, so­dass er in der »Grün­der­zeit« zum wohl­ha­ben­den Bür­ger ge­wor­den, fort­an aus­kömm­lich zu le­ben ver­moch­te. – Er war ein wüs­ter, zän­ki­scher, klein­li­cher, ver­schla­ge­ner Mensch, und sein un­zu­frie­de­nes We­sen wur­de un­leid­li­cher noch, als er, in rei­fen Jah­ren sy­phi­li­tisch ge­wor­den, sei­nen al­ten Frau­en­zim­mer­ge­schich­ten – (bald nach sei­ner Hei­rat schon nahm er mehr­fach Maitres­sen ins Haus) – nicht mehr nach­ge­hen konn­te … Die Mut­ter des Mör­ders war eine ein­fäl­ti­ge, et­was blö­de Per­son, früh ver­braucht, über­al­tert und seit der Ge­burt des sechs­ten Kin­des (eben des Trieb­ver­bre­chers) im­mer bett­lä­ge­rig da­hin­krän­kelnd. Von den sechs Kin­dern wur­de der äl­tes­te Sohn Adolf ein bra­ver klein­bür­ger­li­cher Werk­meis­ter auf der »Con­ti­nen­tal«, or­dent­li­cher Phi­lis­ter und Fa­mi­li­en­va­ter. Der zwei­te Sohn, Wil­helm, wur­de in jun­gen Jah­ren we­gen ei­nes Sitt­lich­keits­de­likts be­straft, be­gan­gen an dem 12­jäh­ri­gen Töch­ter­chen ei­nes be­nach­bar­ten Gast­wirts, und auch die drei Töch­ter, alle drei von ih­ren Män­nern früh ge­schie­den, er­wie­sen sich als leicht auf­ge­reg­te, trieb­be­las­te­te Na­tu­ren. Eine der Schwes­tern, Frau Rü­di­ger, verstarb in den Kriegs­jah­ren. Mit der zwei­ten, Frau Er­furdt, konn­te der Mör­der sich nie recht ver­tra­gen, und nur die Schwes­ter Emma, eine Frau Bur­schel, blieb stets mit ihm ver­bun­den, was aber doch nicht aus­schloss, dass auch die­se bei­den Ge­schwis­ter zwi­schen­durch mit­ein­an­der pro­zes­sier­ten, ja, dass der Bru­der ge­le­gent­lich in dem Zi­gar­ren­la­den der Schwes­ter Dieb­stäh­le und so­gar Ein­brü­che ver­an­stal­te­te, die er nach­her un­ter Trä­nen ab­leug­ne­te oder an­de­ren in die Schu­he schob. – Fried­rich (ge­nannt Fritz), Hein­rich, Karl Haar­mann wur­de am 25. Ok­to­ber 1879 als jüngs­tes Kind ge­bo­ren; die Mut­ter war da­mals 41 Jah­re alt. Aus der frü­he­s­ten Ju­gend wis­sen wir nur (aus Er­zäh­lun­gen der Ge­schwis­ter), dass die­ses Kind von der im­mer kränk­li­chen Mut­ter sehr ver­hät­schelt wur­de. – Für den See­len­for­scher ist es von Wich­tig­keit, dass schon der klei­ne Kna­be in dem Va­ter eine Art Ne­ben­buh­ler sah, wel­chen er hass­te und tot wünsch­te. Durch das gan­ze Le­ben zieht sich die­se Feind­schaft mit dem Va­ter. Die bei­den be­schul­di­gen und be­dro­hen ein­an­der. Der Va­ter droht, den Sohn ins Ir­ren­haus zu brin­gen, der Sohn will den Va­ter (we­gen ei­nes an­geb­li­chen Mor­des an sei­nem Lo­ko­mo­tiv­füh­rer) ins Zucht­haus set­zen. Es kommt im­mer wie­der zu Miss­hand­lun­gen und Schlä­ge­rei­en. Je­der be­haup­tet, dass der an­de­re ihm nach dem Le­ben trach­te, ihn ver­gif­ten wol­le, ihn be­ein­träch­ti­ge. Zwi­schen­durch ver­bin­den sie sich aber auch mal wie­der zu ge­mein­sa­men Be­trü­ge­rei­en oder ent­las­ten ein­an­der vor Ge­richt. Das Ver­hält­nis Haar­manns zur Mut­ter da­ge­gen ist von im­mer glei­cher Schwär­me­rei. Sie ist die ein­zi­ge, von der er Gü­ti­ges zu er­zäh­len weiß und stets mit sen­ti­men­ta­len Ge­füh­len spricht. Im Üb­ri­gen ist die Fa­mi­lie heil­los zer­rüt­tet. Die Ge­schwis­ter pro­zes­sie­ren un­auf­hör­lich. Erst um das Erb­teil der am 5. April 1901 ver­stor­be­nen Mut­ter; spä­ter­hin auch um das vä­ter­li­che Erbe. Aus den An­ek­do­ten, die wir aus den Kin­der­jah­ren Haar­manns er­fah­ren konn­ten, ent­neh­men wir zwei Züge: Ers­tens sei­ne weib­li­chen (»trans­ves­ti­ten«) Nei­gun­gen. Er spiel­te gern mit Pup­pen, mach­te auch weib­li­che Hand­ar­bei­ten und wur­de in Ge­sell­schaft von Kna­ben rot und ver­le­gen. Zwei­tens: sei­ne Nei­gung, Angst und Ent­set­zen in sei­ner Um­ge­bung zu er­re­gen, in­dem er die Schwes­tern fest­band, aus­ge­stopf­te Klei­der­pup­pen auf die Trep­pe leg­te, heim­lich nachts an die Fens­ter klopf­te und Ge­s­pens­ter­furcht er­weck­te. Os­tern 1886 kam er auf die Bür­ger­schu­le 4 am En­gel­bos­te­ler­damm. Die Leh­rer schil­dern das hüb­sche Kind als ver­wöhnt, ver­zär­telt, still, leicht lenk­sam, all­ge­mein be­liebt und ver­träumt. Sein Be­tra­gen war »mus­ter­haft«; aber alle Leis­tun­gen weit un­ter Durch­schnitt. Nach­dem er zwei­mal (1888 und 1890) in der sie­ben­stu­fi­gen Schu­le »sit­zen­ge­blie­ben« war, wur­de er 1894 als Schü­ler der 3. Klas­se in der Chris­tus­kir­che von Pas­tor Har­de­landt kon­fir­miert. Noch nach ei­nem Men­schen­al­ter be­klag­te er sich bit­ter dar­über, dass er bei die­ser Ge­le­gen­heit ein al­tes Ge­sang­buch ge­tra­gen habe, wäh­rend sei­ne Ge­schwis­ter ein neu­es be­kom­men hät­ten. Er soll­te nun Schlos­ser­lehr­ling wer­den, er­wies sich aber als un­brauch­bar, und so gab man ihn mit ei­nem Schub an­de­rer Ka­pi­tu­lan­ten auf die Un­ter­of­fi­zier-Vor­schu­le Neu-Brei­sach. Am 4. April 1895 kam er in Neu-Brei­sach im Breis­gau an: ein kör­per­lich gut ent­wi­ckel­ter, kräf­ti­ger, et­was zu Kor­pu­lenz nei­gen­der, 16­jäh­ri­ger, ge­sun­der Jun­ge mit hüb­schem, re­gel­mä­ßi­gem aber aus­drucks­lo­sem Ge­sicht. Er war ein gu­ter Tur­ner, ein folg­sa­mer Sol­dat; aber am 3. Sep­tem­ber wird er in das Gar­ni­son-La­za­rett über­führt, weil sich plötz­lich »An­zei­chen von geis­ti­ger Stö­rung« bei ihm be­merk­bar mach­ten. Es han­del­te sich um zeit­wei­se Be­wusst­seins­trü­bun­gen (Ab­sen­zen) oder um eine Angst­neu­ro­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­ka­strier­t­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­un­heil­ba­rer Schwach­sinn­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­Ir­ren­haus­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­