Christoph Binninger
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Karl-Heinz Menke
Christoph Ohly (Hg.)
Kritische Beleuchtung des
Synodalen Weges
© 2021 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg
Tel. 0941/920220 | verlag@pustet.de
ISBN 978-3-7917-3288-6
Umschlaggestaltung: www.martinreichl.de
Umschlagbild: Santa Maria dell’ Ammiraglio (Palermo), Kuppelmosaik: Christus als Pantokrator
Satz: DTP-Studio DENZL, Regensburg
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany 2021
eISBN 978-3-7917-6210-4 (epub)
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Vorwort
Kapitel I:Woher weiß die Kirche, was Gott will?
Die Wahrheit, die Christus ist (Karl-Heinz Menke)
Ewige Wahrheiten, gibt es das noch? (Helmut Hoping)
Immer wieder Konflikte (Wolfgang Klausnitzer)
Kirche hat ihre Sendung verloren (Andreas Wollbold)
„Adam, wo bist du?“ (Erzbischof Erwin Josef Ender)
Was ist Wahrheit? (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz)
Kapitel II:Wie geht die Kirche mit Macht um?
Editorial (Oliver Maksan)
„Bei euch sei es nicht so!“ (Nina Heereman)
Wahrheit durch Mehrheit? (Christoph Ohly)
Auf Fels gegründet (Thomas Möllenbeck)
Macht und Synodalität (Gerhard Ludwig Kardinal Müller)
Wie in der Politik? (Stephan Haering OSB)
Eine andere Hierarchie? (Markus Graulich SDB)
Synodaler Gründungsmythos (Dominikus Kraschl OFM)
Kapitel III:Warum Priester? Geht es auch anders?
Editorial (Oliver Maksan)
Funktionär oder Gesandter Christi? (Christoph Binninger)
Teilhabe an der Vollmacht Christi (Christoph Ohly)
Das sakramentale Denken verdunstet (Karl-Heinz Menke)
Warum die Kirche keine Frauen weihen kann (Marianne Schlosser)
Ämter für alle (Berthold Wald)
Kapitel IV:Sexualität – braucht die Kirche Nachhilfe?
Editorial (Oliver Maksan)
Lingener „Weltenwende“ (Markus Christoph SJM)
Ideologie der „Vielfalt“ (Christian Spaemann)
„Humanae vitae“: nochmals gelesen (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz)
Wider die Gnosis (Michael Waldstein)
„Verherrlicht Gott in eurem Leib“ (Beate Beckmann-Zöller)
Segen ohne Umkehr wäre Lüge (Anthony Giambrone OP)
Kann es einen Segen für alle geben? (Karl-Heinz Menke)
Kapitel V:Wie geht Evangelisierung? Grundlagen
Editorial (Oliver Maksan)
Wahre Reform: Was macht sie aus? (Kurt Kardinal Koch)
Was ist Neuevangelisierung? (Simon Kajan)
Evangelisierung will den ganzen Menschen (Bischof Wolfgang Ipolt)
Das unentdeckte Potenzial (Andrzej Kucinski)
Frau und Neuevangelisierung (Sara Gallardo und María A. Góngora)
Mission is possible (Johannes Hartl)
Ohne Mission hat die Kirche keine Zukunft (Karl Wallner OCist)
Familie, Herz der Evangelisierung (Manfred Gerwing)
Kapitel VI:Wie geht Evangelisierung? Praxis
Editorial (Karl-Heinz Menke)
Die Kirche erwacht in der Schmuddelecke (Martin Brüske)
Pastoralkonzept Alltagsleben (Maximilian Mattner)
Einladend in Freiheit – Jesus berührbar machen (Andreas Süß)
Ein Rückenwind-Projekt: Städte verwandeln (Pia Manfrin)
Eine volle Kirche mit jungen Menschen (Johannes Paul Chavanne OCist)
Das Licht Christi an die Unis tragen (Charles Ducey)
Wie Gott in Frankreich (Franziska Harter)
„Schau, da ist ja Jesus!“ (Dorothea Schmidt)
Jesus ist auch für Muslime gestorben (Andreas Sauter)
Kapitel VII:Was ist eine Gewissensentscheidung?
Editorial (Oliver Maksan)
Wahrheit und Gewissen (Karl-Heinz Menke)
Das Gewissen muss gebildet sein (Kurt Kardinal Koch)
Gibt es ein Recht auf die Priesterweihe? (Ralph Weimann)
Der verlockende Weg zur Autodispens (Christoph Ohly)
Wo wollen diese Hirten hin? (Paul Josef Kardinal Cordes)
Nur Gehorsam trägt Früchte (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz)
Kapitel VIII:Was will Gott von mir?
Editorial (Christoph Ohly)
„Unterscheidung der Geister“ auf dem Weg der Berufung (Michael Schneider SJ)
Samuel, oder: Ein Lehrstück der Berufung (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz)
Ernstfall Berufung (Martin Brüske)
Berufung schafft Verschiedenheit – und das ist gut so (Karl Wallner OCist)
Man muss Gott und jungen Menschen etwas zutrauen! (Sr. Serafina Adler OSC / Maximilian Mattner)
Berufung: Herznote des Glaubens (Maximilian Mattner)
Der Ruf ereignet sich mitten im Leben (Oda von Jagwitz)
„Berufung ist eine Herz-zu-Herz-Begegnung“ (Theresia Mende OP)
Sachregister
Personenregister
Autorenverzeichnis
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“, so Heinrich Heine in den „Nachtgedanken“. Diese Verse kommen in den Sinn, wenn man die religiöse Entwicklung in Deutschland allgemein und genauer den Zustand der katholischen Kirche betrachtet: erschüttert durch den Missbrauchsskandal, zerrüttet durch Streitigkeiten, bedroht von Spaltungen und vor allem ausgelaugt und ermattet im Glauben: „Daraufhin zogen sich viele Jünger zurück und wanderten nicht mehr mit Jesus umher“ (Joh 6,66).
Alle aktuellen Untersuchungen zeigen übereinstimmend, was tagtäglich in der Gesellschaft und ebenso in den Pfarreien zu erfahren ist: Neben betonter religiöser Gleichgültigkeit herrscht eine erschreckende Unkenntnis der katholischen Glaubenslehre, und sie geht klarerweise einher mit einer schwindenden religiösen Praxis im Alltag. Esoterische Elemente eines „selbstgemachten“ Glaubens, der unbedenklich die Grenze zum Aberglauben überschreitet, greifen um sich.
Überzeugte praktizierende Christen sind in Deutschland zur Minderheit geworden. Immer mehr Menschen empfinden sich, wenn sie den katholischen Glauben leben, auf schmerzhafte Weise als „Fremde“ in ihrer eigenen Kirche und werden als „Fundamentalisten“ und „Ewiggestrige“ verunglimpft. Viele sehnen sich zutiefst nach einer notwendigen Erneuerung der katholischen Kirche in unserem Land und in den Herzen der einzelnen Gläubigen.
Die gegenwärtige Krise ist aber keineswegs ein Grund, in Resignation oder Bitterkeit zu verfallen. Ein Blick in das Alte Testament zeigt: Gerade dann, wenn alles verloren schien und das Volk zertreten im Staub lag, griff Gott mit erneuernder Kraft in das Leben seines Volkes ein und richtete es wieder auf. Erst recht gilt das Wort des Herrn, er werde bei seiner Kirche sein „alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20b) – diese Zusage gibt Mut und Kraft, zusammen mit dem Herrn die Kirche zu erneuern.
In seinem Brief „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ vom 29. Juni 2019 gibt Papst Franziskus den Weg vor, um „den Primat der Evangelisierung zurückzugewinnen“. Geradezu leidenschaftlich: „Die Evangelisierung führt uns dazu, die Freude am Evangelium wiederzugewinnen, die Freude, Christ zu sein.“ (7) Allein so kann die katholische Kirche in Deutschland wieder als Sauerteig wirken.
Mit wachsender Sorge betrachten die Herausgeber dieses Sammelbandes die Entwicklung des Synodalen Weges. Lässt er dem Grundanliegen von Papst Franziskus, dem „Primat der Evangelisierung“, wirklich spürbare Taten folgen? Der alternative Statutenentwurf von Kardinal Woelki und Bischof Voderholzer legte neben der notwendigen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals ein deutliches Schwergewicht auf das Thema „Evangelisierung“ – aber das wurde mit großer Mehrheit (auch der Bischöfe!) auf dem Synodalen Weg abgelehnt! Selbst der Antrag, wenigstens ein fünftes (besser noch: ein erstes) Synodalforum zu diesem Thema einzurichten, fand kein Gehör. Angesichts der großen Glaubensnot bleibt eine solche Ablehnung völlig unverständlich. Stattdessen gab sich der Synodale Weg den Anstrich eines „Kirchenparlamentes“, das selbst als unfehlbar deklarierte Glaubensinhalte irgendwelchen Mehrheitsbeschlüssen unterwerfen will. Für viele Delegierte rechtfertigt der Missbrauchsskandal offenbar Änderungen der Glaubenslehre und des Kirchenrechts. Unter dem vieldeutigen Banner der „Zeichen der Zeit“ und angeblich „neuer humanwissenschaftlicher Erkenntnisse“ werden bisher bereits abgelehnte Forderungen in Stellung gebracht. Kann man sich des Eindrucks erwehren, dass der furchtbare Missbrauchsskandal lediglich als Mäntelchen der Legitimation für solche Beschlüsse herhalten muss?
Besonders markant treten auf dem Synodalen Weg die Tendenzen einer Entsakramentalisierung der Kirche und einer Säkularisierung des Priester- und Bischofsamtes – also des Hirten- und Leitungsamtes – zutage. Die Zulassung von Frauen zu allen Weiheämtern sowie die Aufhebung der Bindung des Eucharistieempfangs an die katholische Bekenntnisgemeinschaft gehören zu den hervorstechendsten Forderungen, die medial lautstark inszeniert werden. Im Bereich der Moraltheologie stehen die Segnung homosexueller Paare, also die kirchliche Anerkennung ihrer Lebensform, sowie eine erstaunlich unkritisch übernommene Gender-Ideologie auf der Agenda. Davor hat sogar der Schöpfungsbericht zu verblassen. Unverkennbar ist hierbei der Versuch, das katholische Glaubensgut den aktuellen Lehren der reformatorischen Kirchen anzugleichen.
Solche Forderungen sind durch das Lehramt der Kirche seit Jahren bereits mehrfach mit hoher Autorität abgelehnt worden. Dies scheint erstaunlicherweise für die Mehrheit der Teilnehmer des Synodalen Weges keine Bedeutung zu haben. Kritische Wortmeldungen aus der Weltkirche werden ignoriert, lehramtliche Äußerungen, die auf die Unvereinbarkeit dieser Forderungen mit dem Glauben der Kirche verweisen, werden öffentlich abqualifiziert oder bestenfalls als bloße „Diskussionsbeiträge“ angesehen. Es macht fassungslos, dass dies auch durch Bischöfe geschieht.
Verstörend wirken zudem einige Wortmeldungen des Synodalen Weges, die eine Art „geistiger Vorreiterrolle“ der Kirche in Deutschland für die Weltkirche erblicken wollen, als sei diese auf eine „höhere“ theologische Ebene zu heben. Solcher Hochmut schwächt die Einheit mit der Universalkirche und veranlasst weltweit zunehmend Ortskirchen zur kritischen Beleuchtung eines solchen Anspruchs.
Angesichts dieser Fülle von theologischen und pastoralen Herausforderungen fühlen sich die Herausgeber dieses Buches um so mehr verpflichtet, den Synodalen Weg kritisch zu beleuchten, konstruktiv zu begleiten und fruchtbare Auseinandersetzungen anzustoßen. Auf vielfältigen Wunsch werden daher die seit 2019 unter dem Titel „Welt & Kirche“ in der „Tagespost“ erschienenen acht Beilagen als Buch vorgelegt. So kommen Stimmen zu Gehör, die vom Synodalen Weg und den meisten Medien ignoriert werden.
Zum Aufbau des Buches
Der Aufbau des Buches orientiert sich an den vier Synodalforen: I. Macht und Gewaltenteilung in der Kirche; II. Priesterliche Existenz heute; III. Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche; IV. Sexualmoral. Stellungnahmen und Gegenpositionen fordern eine umfassende theologische Diskussion heraus.
Das 1. Kapitel stellt die Frage: „Woher weiß die Kirche, was Gott will?“ Hermeneutische Fragen müssen anfangs geklärt sein, wenn die theologische Debatte entscheidend vertieft werden will. Dabei stoßen zwei gegensätzliche Positionen aufeinander. Die eine Position scheint auf dem Synodalen Weg immer wieder auf und greift auf humanwissenschaftliche Forschungen zurück, die allerdings selbst erst der Deutung bedürfen und bei ständigem Wissenszuwachs klar den Charakter des Vorläufigen in sich tragen. Solche „Erkenntnisse“ erhalten sonst unversehens den Status naturwissenschaftlicher Gesetze und werden bei der angestrebten „Weiterentwicklung“ oder „Neuorientierung“ in moraltheologischen, aber auch dogmatischen Fragen als Fakten zugrunde gelegt. Grundsätzlich ist hier der Verdacht auf einen Methodenfehler zu äußern: Humanwissenschaftliche Aussagen sind immer auch zeitgebunden und nicht einfach auf Inhalte der Offenbarung zu übertragen. Dem steht die Position des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. DV) gegenüber, die die bisherige biblische Anthropologie aufgenommen und vertieft hatte. Sie bildet den „hermeneutischen Schlüssel“ für alle weiteren theologischen Ausführungen des Buches und geht von einer einzigen und endgültigen Quelle der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus aus, da er die unüberbietbare Selbstmitteilung Gottes ist. Seine Offenbarung ist allein normgebend und unveränderlich im Sinne göttlicher Wahrheit. Die Hl. Schrift ist die kristallin gewordene Tradition der apostolischen Bezeugung Christi. Tradition ist „der lebendige Fluss, der uns mit unseren Ursprüngen verbindet, der lebendige Fluss, der uns zum Hafen der Ewigkeit führt“ (Benedikt XVI., Katechese 16. 4. 2006).
Vor diesem Hintergrund widmet sich das 2. Kapitel der Frage von Forum I: „Wie geht die Kirche mit Macht um?“ Geklärt werden muss die umstrittene Verbindung des Glaubenssinnes (sensus fidei) aller Gläubigen (sensus fidelium) mit dem apostolischen Lehramt, das das Glaubensgut mit Vollmacht authentisch auslegt. Zeigt sich, wie Vertreter des Synodalen Weges meinen, der Glaubenssinn aller Gläubigen darin, wenn eine Mehrheit eine Glaubenswahrheit als überholt ablehnt? Welche Kriterien der Prüfung gibt es, um eine Anpassung an den Zeitgeist vom Glaubenssinn zu unterscheiden? Ist die Forderung, auch Laien sollten Träger von Lehr- und Leitungsvollmacht sein können, vereinbar mit der hierarchisch verfassten Kirche, die auf der apostolischen Sukzession beruht?
Im 3. Kapitel lautet die Frage „Warum Priester? Geht es nicht auch anders?“ Damit werden Entwicklungen aus den Foren II und III aufgegriffen und theologisch reflektiert. Unüberhörbar sind Forderungen, das sakramentale Wesen des Priestertums zu säkularisieren und letztlich durch eine Annäherung an ein protestantisches nichtsakramentales Verständnis entscheidend zu schwächen. Ist es schon „klerikalistisch“, wenn das Wesen des Priestertums als sakramentale Vergegenwärtigung des Hauptes Christus den Gläubigen gegenüber („repraesentatio Christi capitis“) und als Repräsentation der Kirche dem Herrn gegenüber („repraesentatio Ecclesiae“) verstanden wird? Darf man – wie eingefordert – die Leitungs- von der Weihegewalt trennen oder ist diese Einheit nicht schon zutiefst im Hirtenamt Christi verankert, das er in der apostolischen Sukzession überträgt? Besonders heftig fordert Synodalforum III im Verbund mit der Gruppe „Maria 2.0“ das Frauenpriestertum. Welche Bedeutung kommt hierbei dem „Mannsein“ des Priesters bei der sakramentalen Repräsentation Christi des Hauptes zu? Ist der Sohn Gottes „nur Mensch geworden“, und sein Mannsein hat demnach nur akzidentellen Charakter ohne Bedeutung? Darf man Schrift, Tradition und endgültige lehramtliche Entscheidungen in diesen Fragen als zeitbedingt und damit als überholt ansehen?
Das 4. Kapitel fragt nach „Sexualität – braucht die Kirche Nachhilfe?“ Forderungen aus dem Synodalforum IV („Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“) halten es offenbar für ein geistdurchwirktes „Zeichen der Zeit“ und Ausdruck des sensus fidelium, wenn mittlerweile die Mehrheit der Gläubigen in Fragen der (Homo-)Sexualität und Ehe sowie natürlicher Familienplanung die katholische Morallehre ablehnt. Eine Auswahl psychologischer und sexualtherapeutischer Studien soll Grundpfeiler der kirchlichen Sexualmoral, die durch Schrift, Tradition und Lehramt verbindlich dargelegt sind, als überholt erklären. Anderslautende kritische Studien finden dagegen keinen Eingang in die Diskussion. Sollte es nicht vielmehr Aufgabe der Kirche sein, das klassische Glaubensgut wieder verständlich zu machen? Ist das Vorbild Christi („Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?“ Joh 6,60) nicht immer auch ein „Stachel im Fleisch“, oder ist das Ziel – wie Nietzsche es hämisch und treffend formuliert – ein „vereinfachtes Christentum“, das „die Resignation … zur Gottheit erhoben“ hat?
Das 5. und 6. Kapitel stellen die elementaren Fragen „Wie geht Evangelisierung? I. Grundlagen, II. Praxis“ – die auf dem Synodalen Weg kaum Beachtung finden. Beide Kapitel geben theologische und praktische Anregungen im Sinn einer Handreichung. Bei den praktischen Überlegungen kommen vor allem geistliche Gemeinschaften wie Nightfever und neue Formen der Jugendpastoral zu Wort, die von nicht wenigen Mitgliedern des Synodalen Weges als „fundamentalistisch“ abgetan werden.
Das 7. Kapitel „Was ist eine Gewissensentscheidung?“ bringt Kriterien ein, die das Gewissen von der subjektiven Meinung abheben. Wenn Meinung als solche unhinterfragbar würde, müsste die Kirche solche „persönlichen Einsprechungen“ nicht nur akzeptieren, sondern auch ihre Glaubenslehre pluralisieren. Die Folgen wären eine Selbstdispens von kirchlichen Lehren, z. B. die Segnung homosexueller Paare oder Zugang zur Eucharistie ohne volles eucharistischekklesiales Bekenntnis. Gibt es dann überhaupt noch in sich falsche Gewissensentscheidungen? Dem steht ein Verständnis von Gewissen gegenüber, das sich bei seinen Entscheidungen an der göttlichen Wahrheit orientiert, die in der Kirche ausgelegt ist und sich zudem im natürlichen Sittengesetz widerspiegelt.
Das 8. Kapitel fragt: „Was will Gott von mir?“ Anders: Wie geschieht Berufung durch Gott? Evangelisierung ist wiederum die notwendige Voraussetzung, damit gerade junge Menschen ihre Berufung erkennen können. Rasch anwachsende emotionale Stimmen propagieren eine Berufung der Frau zum Priestertum: „weil Gott es so will …“ Damit wird eine charismatische Unmittelbarkeit ins Spiel gebracht, die sonst vehement abgelehnt wird. Emotionen ersetzen keine Argumente. Vielmehr gibt es Kriterien, die zwischen echter Berufung und subjektiver Empfindung unterscheiden lehren.
So richtet sich das Buch an Theologen und noch viel mehr an Nicht-Theologen, an interessierte Gläubige und geistliche Gemeinschaften, aber auch an Fernstehende. Daher sind die Beiträge ausdrücklich in verständlicher Sprache gehalten und verzichten auf Fußnoten. Sie bieten in schwieriger Zeit Argumentationshilfen, bestärken die Nachdenklichen im katholischen Glauben und vermitteln Orientierung für die Lebenswelt.
All diese Bemühungen lassen sich vom hinreißenden Wort Marias auf der Hochzeit zu Kana leiten: „Was Er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5) Denn er ist der Christus, der Sohn Gottes, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6a)
12. April 2021 |
Christoph Binninger |
Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit |
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz |
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Karl-Heinz Menke |
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Christoph Ohly |
Der bleibende Anstoß
Antonio Rosmini-Serbati, einer der größten italienischen Denker, am 18. 11. 2007 von Papst Benedikt XVI. seliggesprochen, hat 1832 ein Buch verfasst, das den Titel trägt: „Über die fünf Wunden der Kirche“ („Delle cinque piaghe della Chiesa“). In der Einleitung heißt es: „Die Wunden der Kirche werden zumeist von den Sünden derer verursacht, die Christus darstellen und in seinem Namen handeln sollen. Indem sie die Kirche verwunden, kreuzigen sie Christus, der sich mit seiner Kirche untrennbar verbunden hat. So ist mein Buch über die Wunden der Kirche zugleich eine Betrachtung des Gekreuzigten.“ Das immer wieder aufgelegte Buch ist wie folgt gegliedert: erstes Kapitel: Die Wunde der linken Hand Christi: Die Absonderung des Klerus vom Volk; zweites Kapitel: Die Wunde der rechten Hand: Die unzulängliche Bildung der Geistlichen; drittes Kapitel: Die Seitenwunde: Uneinigkeit der Bischöfe; viertes Kapitel: Die Wunde des linken Fußes: Der Einfluss der Politik auf die Kirche; fünftes Kapitel: Die Wunde des rechten Fußes: Die Korrumpierung der Kirche durch materielle Güter.
Natürlich ist die Lage der Kirche im gegenwärtigen Deutschland eine andere als die im Italien des 19. Jahrhunderts. Aber eines kann man auch heute noch von Rosminis Analysen lernen: Wenn die Kirche sich reformieren will, muss sie auf Christus blicken. Denn Christus ist die Wahrheit, die die Kirche verkündigen und sakramental darstellen soll. Dieser Hinweis mag vielen als Flucht erscheinen – zum Beispiel aus den konkreten Fragen des Synodalen Weges der deutschen Katholiken in die sichere Burg dogmatischer Gewissheiten. Doch das Gegenteil ist zutreffend: Christus ist die Bewegung Gottes von oben nach unten, vom Abstrakten ins Konkrete. Christus ist das Fleisch gewordene Wort Gottes (Joh 1,14). Er ist kein Begriff, keine Weltanschauung, keine Moral, auch keine „Anweisung zum seligen Leben“, sondern ein Mensch, der „in allem uns gleich war außer der Sünde“ (Hebr 4,15) und als solcher von sich sagen durfte: „Wer mich sieht, sieht Gott.“ (Joh 14,9) Konkreter kann der Logos Gottes gar nicht sein als in dem Leben und Sterben dieses einen Menschen mit dem Namen „Jesus“: „Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes […]. In ihm wurde alles erschaffen, im Himmel und auf Erden.“ (Kol 1,15 f.)
Auf die Frage, warum die Kirche in Deutschland so tief verwundet ist, haben die zuständigen Bischöfe vier Gründe genannt: (a) der Missbrauch von Macht; (b) die Lebensform der Bischöfe und Priester; (c) die Sexualmoral der Kirche; (d) der Ausschluss von Frauen in Diensten und Ämtern. Mein Kommentar: Diese Diagnose bleibt an der Oberfläche. Sie reagiert auf bestimmte Proteste, Trends und Krisensymptome; aber was die Kirche in Deutschland so krank erscheinen lässt, hat einen viel tiefer liegenden Grund. Die Ursache nämlich ist ein gigantischer Glaubensverlust. Und der betrifft den Kern des christlichen Bekenntnisses. Hoffentlich irre ich mich, wenn ich nicht nur unter den Getauften, die ihren Glauben kaum noch oder gar nicht mehr praktizieren, sondern auch unter denen, die noch ihre Sonntagspflicht erfüllen, einen fortschreitenden Verlust der christologischen Mitte beobachte: nämlich die Ablösung der Wahrheit von der Geschichte. Man trennt die Botschaft Jesu von ihm selbst. Er ist dann letztlich nur noch austauschbarer Mittler einer zeitbedingten Wahrheit, bloßer Wegweiser, bloßes Vorbild. Oder anders gesagt: Man versteht nicht mehr, was Jesus gemeint hat, als er sagte: „Wer mich sieht, sieht Gott den Vater.“ (Joh 14,9)
Hans Urs von Balthasar war sich der Provokation bewusst, die er unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seiner Protestschrift „Cordula oder der Ernstfall“ evoziert hat. Im Zentrum steht ein fingierter Dialog zwischen einem kommunistischen Kommissar und einem „modern gewordenen“ Christen. Der Dialog ist mit der vielsagenden Überschrift versehen: „Wenn das Salz dumm wird“. Hier eine stark verkürzte, aber meines Erachtens doch sinngemäße Kurzfassung: Der Kommissar zitiert den Christen vor sein Tribunal und fragt ihn: „Dein Christentum, was ist das eigentlich?“ Der Christ antwortet beflissen: „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, das ist christlich.“ Der Kommissar: „Ach, endlich seid ihr auch so weit? Und wie ist es mit Darwin und der Evolution?“ Der Christ antwortet: „Auch ich bin überzeugt, dass der Mensch vom Affen abstammt.“ Der Kommissar: „Na prima. Besser zu spät als gar nicht. Aber da ist doch noch dieser Jesus.“ Der Christ: „Ja, aber wir glauben weniger an den historischen Jesus als an den Christus des Kerygmas.“ Der Kommissar ärgerlich: „Was ist das denn? Chinesisch?“ Der Christ: „Nein. Griechisch. Gemeint ist das Sprachereignis. Es kommt darauf an, dass man davon betroffen wird. Das war jedenfalls die Erfahrung der Urgemeinde.“ Der Kommissar: „Das reicht. Dein Geschwätz ist ungefährlich. Idioten hat es immer gegeben; die muss man nicht erschießen.“
Kurzum: Die Wahrheit, für die es sich zu leben und zu sterben lohnt, ist keine Idee, keine Theorie, kein Ethos à la „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“; auch keine Moral oder ein Kerygma, das betroffen macht; sondern der historische Jesus. Ein Jesus, der lediglich Mittler einer Botschaft oder Moral ist, ist austauschbar. Mittler einer Botschaft waren auch Gautama Buddha, Muhammad, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Botschaften sind miteinander vergleichbar; unter Umständen ergänzen sie sich oder bilden zusammen ein neues Ganzes. So sehen das die Vertreter der sogenannten „Pluralistischen Religionstheologie“ oder die von Hans Küng inspirierten Protagonisten eines alle Religionen und Traditionen einenden „Weltethos“. Aber das Christentum verrät seine innerste Mitte, wenn Jesus zum bloßen Transporteur einer Botschaft unter anderen Botschaften degradiert wird. Denn im Unterschied zum Beispiel zu Gautama Buddha hat er den Menschen nicht nur einen Weg gezeigt, sondern von sich gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6a) Dass der historische Jesus vor zweitausend Jahren in Raum und Zeit etwas vollbracht hat, was die Situation aller Menschen aller Zeiten grundlegend verändert hat, glaubt – so fürchte ich – nur noch eine Minderheit der deutschen Katholiken. Viele meinen, Ostern würde die Christenheit feiern, dass der physische Tod nicht das letzte Wort habe. Aber um diese Hoffnung zu vermitteln, bedarf es nicht des Dramas zwischen Bethlehem und Golgotha. Dass es nach dem physischen Tod weitergeht, glauben die Angehörigen fast aller Religionen. Das Judentum aber unterscheidet zwischen dem uneigentlichen (physischen) Tod und dem eigentlichen Tod der Trennung von Gott.
Das Judentum zur Zeit Jesu war überzeugt, dass die Sünde eine vom Menschen geschaffene Wirklichkeit ist; und dass der Sünder sich nicht selbst von seiner Sünde trennen kann; und dass deshalb nicht nur die Sünde, sondern auch der Sünder „das von Gott Getrennte“ (die ‚Sheol‘) ist. Nur weil der historische Jesus die Anwesenheit Gottes selbst in Raum und Zeit war, ist mit ihm Gott selbst an den ‚Ort‘ der Sünde und des Sünders (in die ‚Sheol‘) gelangt. Ostern feiern Christen die Aufhebung der ‚Sheol‘. Denn seit Ostern hat keine Sünde mehr die Macht, den Sünder von Gott zu trennen – jedenfalls dann nicht, wenn er die bis in die tiefste Tiefe reichende Hand des Gekreuzigten und Auferstandenen ergreift. Ewiges Leben ist Gemeinschaft mit dem zum Vater erhöhten Jesus. Hier müsste die Neuevangelisierung Deutschlands ansetzen. Im Kern geht es um die Wiedergewinnung des sakramentalen Denkens. Jesu Menschsein ist kein bloßes Symbol. Ein Symbol ist von der Wirklichkeit, die es bezeichnet, trennbar; aber ein Sakrament nicht. Das Menschsein Jesu ist untrennbar von der Gottheit des Sohnes. Jesus ist personal (hypostatisch) identisch mit dem göttlichen Logos. Deshalb ist sein Menschsein das Ursakrament. Und jede Wirklichkeit, die untrennbar ist vom Ursakrament, ist ihrerseits ein Sakrament. Ausgerechnet nach dem Konzil, das die Kirche als von Christus untrennbar und deshalb insgesamt als (Grund)sakrament bezeichnet hat, erleben wir eine in ihren Konsequenzen kaum überschätzbare Krise des sakramentalen Denkens. Mit der nicht zufällig zur Jahrtausendwende veröffentlichten Erklärung „Dominus Iesus“ hat Papst Johannes Paul II. die Christenheit daran erinnert, dass niemand Jesus Christus (das Ursakrament) empfangen kann, ohne selbst Sakrament (Kirche) sein zu wollen. Wer getauft wird, ist zugleich Mittel und Werkzeug Christi. Kurzum: Die Kirche ist Leib Christi, weil sie sich in der Eucharistie täglich neu von Christus her empfängt. Selbst unter denen, die sich als regelmäßige Kirchgänger bezeichnen, schwindet das Bewusstsein, dass man ein Sakrament nicht nur für sich selbst empfängt, sondern primär für die sogenannten „anderen Brüder und Schwestern“. Kaum noch bewusst ist der Unterschied zwischen der nichtsakramentalen und der sakramentalen Kommunikation mit Christus.
Für Katholiken sollte klar sein: Wer sakramental kommuniziert, identifiziert sich mit der Bekenntnisgemeinschaft, in der er kommuniziert. „Missa“ bedeutet „Sendung“. Die von Bischöfen kaum noch erwähnte oder erklärte Sonntagspflicht ist Ausdruck der Tatsache, dass es beim Empfang der Eucharistie nicht bloß um das Heil des Empfängers, sondern auch um die Mission der Kirche geht. Wie eine Ehe stirbt, wenn die Ehepartner nicht regelmäßig miteinander kommunizieren, so stirbt die Kirche, wenn ihre Glieder nicht regelmäßig mit Christus und miteinander kommunizieren. Geredet werden müsste über die Sonntagspflicht, über die Bedingungen des Eucharistieempfangs, über den Nexus von Buß- und Altarsakrament, über die Bedeutung der Firmung, und nicht zuletzt über eine Ökumene, die die Einheit nicht in der Wahrheit (in Christus), sondern in Anpassungen sucht. Wo die Kirche nicht mehr als Sakrament verstanden wird, schwindet zwangsläufig auch jedes Verständnis für den priesterlichen Charakter des Christseins – ganz zu schweigen von dem Verstehen des besonderen Priestertums derer, die das gründende, leitende und richtende „Voraus“ des Hauptes Christus gegenüber dem Leib der Kirche repräsentieren. Nur wer sakramental denkt, erkennt den Zusammenhang zwischen Christusrepräsentation und Zölibat. Nur wer sakramental denkt, versteht die Untrennbarkeit der Erlösungsordnung von der Schöpfungsordnung – zum Beispiel die Bedeutung der Geschlechterdifferenz von Mann und Frau für die sakramentale Darstellung des Verhältnisses Christi zu seiner Kirche. Eine Reform der Kirche, die diesen Namen verdient, ist immer praktische Christologie: Bindung der Christen an Christus und deshalb Sakramentalisierung der Getauften.
Vom heutigen Riss zwischen Offenbarung, Überlieferung und Glaube
Im vorbereitenden Arbeitsdokument der Amazonas-Synode war zu lesen: „In Amazonien ist das Leben ins Territorium eingepflanzt, daran gebunden und gehört zu ihm. […] Das Territorium ist ein theologischer Ort, von dem aus man den Glauben lebt; und zugleich ein besonderer Quellgrund für die Offenbarung Gottes. Solche Räume sind Orte von ‚Epiphanie‘, von Gotteserfahrung, an denen ein Reservoir von Leben und Weisheit für den Planeten aufzufinden ist, von Leben und Weisheit, die von Gott sprechen“ (Nr. 19). – Im Vorfeld des Synodalen Weges erscheinen vielen besonders Genderdiskurs und moralischer Pluralismus wie eine Offenbarungsquelle, nachdem man beide mit immer mehr theologischer Bedeutsamkeit aufgeladen hat. Doch mit welchem Recht gelten das Amazonasgebiet mit seinen indigenen Kulturen und unsere säkulare Lebenswirklichkeit als Quellen der Offenbarung? Ist Offenbarung nach christlichem Verständnis nicht die Offenbarung des einen Gottes gegenüber seinem auserwählten Volk Israel und seine Selbstmitteilung in Jesus Christus, seinem fleischgewordenen Wort (Joh 1,14)? Die dogmatische Konstitution „Dei verbum“ über die göttliche Offenbarung (1965) kennt keinen Plural von Quellen der Offenbarung. Das Konzilsdokument unterscheidet die eine Quelle der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus und das überlieferte Wort Gottes in Schrift und Tradition.
Die heilige Überlieferung und die Heilige Schrift entspringen „demselben göttlichen Quell“ und „fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu“ (DV 9). In seinem Kommentar zu dem ursprünglichen, von den Konzilsvätern abgelehnten Offenbarungsschema (1962) spricht Joseph Ratzinger von der einen Quelle der göttlichen Offenbarung sowie von Schrift und Tradition als den beiden Fließgewässern, die aus der einen Quelle hervorgehen. Eine göttliche Offenbarung im Sinne der unüberbietbaren Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus kann es nicht ohne eine heilige Überlieferung geben, also nicht ohne eine Tradition göttlichen Ursprungs, die am Definitiven der ergangenen Offenbarung Anteil hat. Gäbe es nicht die Treue zur Glaubenshinterlassenschaft (depositum fidei) und ihre authentische Weitergabe in der Tradition der Kirche, die Kirche könnte niemals sagen, was bleibende Glaubenswahrheit ist und was nicht. Der aus der griechischen Antike entlehnte Begriff des Dogmas meint genau dies: eine verbindliche, normative Glaubensaussage mit definitivem Wahrheitsanspruch. Unter Theologen und Theologinnen ist die Anerkenntnis einer heiligen Überlieferung nicht mehr selbstverständlich. Die Glaubensüberlieferung, einschließlich der dogmatischen Lehrentwicklung, wird immer öfter unter prinzipiellen Revisionsvorbehalt gestellt. „Ewige Wahrheiten waren gestern“ – so Michael Böhnke. Für den Wuppertaler Theologen liegt das Verbindliche des christlichen Glaubens nicht in zeitübergreifenden Glaubensinhalten, sondern im Vertrauen auf Gottes Treue; alles andere am Inhaltlichen des Glaubens wird zur Variablen. Unter Rekurs auf das Wirken des Heiligen Geistes, der alles neu macht, wird die pneumatische Kraft der Gläubigen absolut gesetzt und eine dogmenfreie Kirche gefordert. Bei der Frage der Frauenordination bedient man sich neuerdings der absoluten Macht Gottes, mit der er sich auch in einer Frau hätte inkarnieren können. Wenn allerdings Gott in einem galiläischen Juden Mensch wurde und werden wollte, kann dies nicht a priori als theologisch irrelevant abgetan werden. Das Dilemma der heutigen Theologie besteht darin, dass es keinen Konsens mehr bezüglich der Prinzipien theologischer Erkenntnis gibt. So werden Offenbarung, Glaube und Überlieferung vielfach auseinandergerissen. Dabei ist eine göttliche Offenbarung ohne Glauben (Annahme) und Überlieferung (Weitergabe) gar nicht denkbar. Der Ort aber der Schriftinterpretation ist die Kirche. Die Schrift – dies hat die Krise des reformatorischen Schriftprinzips gezeigt – interpretiert sich nicht selbst. Zudem muss sie „in dem Geist gelesen und ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde“ (DV 12).
Es ist richtig: Jeder, der die Schrift liest, kann zu ihrem Verständnis beitragen. Doch es ist nicht Aufgabe zum Beispiel eines Bibelkreises oder eines exegetischen Forschungsseminars, sondern allein des lebendigen Lehramts der Kirche, welches seine Vollmacht im Namen Jesu ausübt, „das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch“ (DV 10), das heißt mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit, auszulegen. „Das Lehramt steht also nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nur lehrt, was überliefert ist, indem es das Wort Gottes nach göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes ehrfürchtig hört, heilig bewahrt und treu erklärt und all das, was es von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus der einen Hinterlassenschaft des Glaubens schöpft“ (DV 10).
Keiner, und sei er der Papst, kann sich für seine Lehrverkündigung auf eine Inspiration oder Privatoffenbarung berufen. Glaubensnorm sind die Schrift und die authentische Glaubensüberlieferung. Die Überlieferung der von Gott empfangenen Offenbarung ist ein dynamischer Vorgang (DV 7–8). Das traditionalistische Missverständnis von Tradition besteht darin, sie zu petrifizieren. Die authentische Glaubensüberlieferung darf aber andererseits nicht zur Disposition gestellt werden. Das Dogmatische gehört konstitutiv zur Offenbarung Gottes und ihrer geschichtlichen Überlieferung dazu. Der zum Katholizismus konvertierte Theologe Erik Peterson sprach vom „Punktum des Glaubens“. Der Philosoph und Kulturkritiker George Steiner nennt das Dogma eine „hermeneutische Punktsetzung“. Zur Lehrentwicklung erklären die Konzilsväter: Die apostolische Überlieferung „entwickelt sich in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes weiter“ (DV 8). „Es wächst nämlich das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte sowohl aufgrund des Nachsinnens und des Studiums der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51), als auch durch innere Einsicht in die geistlichen Dinge, die sie erfahren, sowie aufgrund der Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt die sichere Gnade der Wahrheit empfangen haben. Denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis sich an ihr die Worte Gottes erfüllen“ (DV 8).
Da die apostolische Überlieferung nicht nur dem Lehramt der Bischöfe, sondern der ganzen Kirche zur authentischen Weitergabe anvertraut ist, sind bei der Glaubenshermeneutik alle Bezeugungsinstanzen des Glaubens zu berücksichtigen, darunter die Schrift, die Tradition, das Lehramt der Bischöfe, der römische Bischof, die wissenschaftliche Theologie und der Glaubenssinn des Volkes Gottes, zu dem auch die Gemeinschaft der Bischöfe gehört. Beim Glaubenssinn ist zu beachten, dass er in synchroner wie diachroner Katholizität von allen Ortskirchen getragen wird und nicht gegen den überlieferten authentischen Glauben der Kirche stehen kann. Hier besteht eine Analogie zur einmütigen Lehre der Bischöfe. Deshalb forderte Papst Franziskus in seinem Brief an die Gläubigen der Kirche in Deutschland, dass beim Synodalen Weg der Glaubenssinn der Gesamtkirche zu beachten ist. Zu den Orten theologischer Erkenntnis zählen auch fremde, nicht genuin theologische Orte wie die Philosophie und die Geschichte. Doch kein Ort theologischer Erkenntnis, seien es Schrift und Tradition oder Philosophie und Geschichte, sind Quellen der Offenbarung. Dies gilt auch für die „Zeichen der Zeit“, die dem Erkenntnisort der Geschichte zuzuordnen sind und die im Licht des Evangeliums (GS 4) sowie der heiligen Überlieferung, sofern beide untrennbar sind (DV 9), gelesen werden müssen (DV 24). Die Freiheit des Glaubens ist daher keine Autonomie gegenüber dem überlieferten Wort der Offenbarung, von dem man sich dispensieren könnte. Zur Traditionsvergessenheit der Kirche nach dem Konzil sagte der große Jesuitentheologe Henri de Lubac: „Die Tradition der Kirche wird verkannt und nur noch als Last empfunden […]. Dieser Tradition, die glaubend empfangen und im Glauben weitergeführt wird, stellt man vermessen die eigene persönliche ‚Reflexion‘ entgegen.“
Das Zweite Vatikanische Konzil weist den Theologen und Theologinnen die Aufgabe zu, die geoffenbarte Wahrheit Gottes in der Zeit, in die sie gestellt sind, tiefer zu erfassen und für die Menschen zu erschließen (GS 62). Sie können sich nicht mit einer reinen Darstellung der kirchlichen Glaubenslehre begnügen, müssen vielmehr auch neue Wege des Glaubens sowie Formen eines zeitgemäßen Glaubensverständnisses aufzeigen. Dazu ist es nötig, zusammen mit allen Gliedern der Kirche nach den Zeichen der Zeit zu forschen. Denn die Zeichen der Zeit sind Teil unserer menschlichen Lebenswirklichkeit. Und in der Tat soll, wie das Konzil sagt, „alles wahrhaft Menschliche“ im Herzen der Jünger Christi „seinen Widerhall“ (GS 1) finden. Doch die Lebenswirklichkeit ist nicht das Fundament der Theologie. In der Pluralität der Zeichen der Zeit gilt es „zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes sind“ (GS 11) und was nicht. Die Stimme unserer Zeit darf nicht einfach mit der Stimme oder dem Willen Gottes gleichgesetzt werden.
Wie verhalten sich Schrift, Tradition und Lehramt zueinander?
In der Kunstformel „Synodaler Prozess“, die bewusst nicht eine Synode im kirchenrechtlichen Sinn beschreiben will, leitet sich das Adjektiv trotzdem vom griechischen Wort „synodos“ (Gemeinsam-auf-dem-Weg-Sein, Zusammenkunft, aber auch: Zusammenstoß) ab. Die Versammlung zur Klärung strittiger Fragen, die auf eine Übereinstimmung zielt, produziert – wie die Kirchengeschichte beweist – immer wieder auch Konflikte und Verletzungen. Oft beginnen die Auseinandersetzungen mit Debatten über den Inhalt und die Gewichtung von Aussagen der Heiligen Schrift, von Festlegungen der Überlieferungsgeschichte und von Entscheidungen des kirchlichen Lehramts.
In der ökumenischen Diskussion gehören die Heilige Schrift, die Tradition (als Überlieferung des Glaubensinhalts), das (kirchliche) Lehramt, die Theologie und das Zeugnis (der Glaubenssinn) des ganzen Volkes Gottes diachron (durch die Jahrhunderte hindurch) und synchron (gegenwärtig und weltweit) zu den fünf Bezeugungsinstanzen der Offenbarung „als Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte, die ihren Höhepunkt und ihre Vollendung in Jesus Christus hat“ (Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, 2003).
Allerdings stehen diese verschiedenen Bezeugungs- und Erkenntnisinstanzen nicht gleichrangig nebeneinander, sondern sind ihrerseits gestuft. Die grundlegende Instanz ist die Bibel, die norma normans (die alles andere normierende Norm) des Glaubens, die jedoch nach christlichem Verständnis nur in einem analogen Sinn als Wort Gottes gelten kann, denn das eigentliche Wort Gottes ist im Sinne des Prologs des Johannesevangeliums (Joh 1,1–14) und der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ (= Wort Gottes) des Zweiten Vatikanischen Konzils der Gottmensch Jesus Christus. Die Aussage des Koran, die Christen seien (wie die Juden) Leute des „Buches“, ist deshalb irreführend. Eine herausragende Stellung unter allen Schriften des Neuen Testaments nehmen die vier Evangelien ein, da sie die Person, das Leben und die Lehre Jesu Christi beschreiben. Die grundsätzliche Historizität der Evangelienberichte über Jesus wird nach den Übertreibungen der Aufklärung und der ersten Phase der Leben-Jesu-Forschung vom Zweiten Vatikanischen Konzil „ohne Bedenken bejaht“ (DV 19,1). Es ist auch plausibel, dass die Evangelisten tatsächlich der Überzeugung waren, dass sich Jesus Christus selbst seinen Jüngern wenigstens implizit als der Sohn Gottes geoffenbart habe und dass dieser Anspruch durch die Auferstehung bekräftigt worden sei. Alle anderen Hypothesen für die Übertragung des Sohn-Gottes-Titels auf Jesus schaffen mehr Probleme als sie lösen.
Die Offenbarung ist nach kirchlicher Lehre abgeschlossen „mit dem Tod des letzten Apostels“. Es ist auch keine weitere öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten (DV 4,2). Karl Rahner wollte diese Zeitbestimmung mit dem Abschluss der Kanonbildung des Neuen Testaments im vierten Jahrhundert gleichsetzen und behauptete, dass sich die Kirche in dieser konstitutiven Zeit in freier geschichtlicher Entscheidung, die aber vom Heiligen Geist sanktioniert worden ist (vgl. Apg 15,28), eine verbindliche Lehre (in der Gestalt des neutestamentlichen Kanons) und eine ebenso verbindliche Struktur (in der Form einer monarchisch-episkopalen Verfassung und eines bleibenden Petrusamtes) gegeben habe. Die apostolische Tradition (im Unterschied zu menschlichen Traditionen in der Kirche, die nicht allgemein verpflichtend sind) ist die Weitergabe der zuerst von den Aposteln bezeugten Botschaft über Jesus Christus in der Kirche. In Joh 16,13–15 erwähnt Jesus den „Geist der Wahrheit“, der die Jünger „in die ganze Wahrheit“ führen werde, indem er von der Botschaft Jesu „nehmen“ werde. Es geht also um eine Vermittlung zwischen der bleibenden Ursprungsoffenbarung in Jesus Christus und dem Wirken des Geistes in der Geschichte. Joseph Ratzinger und Walter Kasper haben deshalb von zwei „Fehlwegen“ der Tradition in der Kirchengeschichte gesprochen. Die Position des „Archäologismus“ (beispielhaft vertreten im „theologischen Klassizismus“ eines Johann Josef Ignaz von Döllinger) erklärt, eine frühere oder auch die früheste Gestalt des Glaubens oder der Kirche sei die heute einzig maßgebliche.
Im Hintergrund steht ein Verfallsschema, demzufolge das zeitlich Frühere deswegen das sachlich Ursprünglichere sei. Für Ratzinger stellt der „Archäologismus“ den Versuch dar, „die Tradition an irgendeinem Punkt abschließen“ zu wollen, weil er die bleibende Gegenwart des Geistes Christi in der Kirche nicht ernst nehme. Die Auffassung des „Enthusiasmus“, den Luther bei den von ihm so bezeichneten „Schwärmern“ kritisiert, besagt, die heutigen Christen hätten in Verantwortung gegenüber den gegenwärtigen Menschen einen unmittelbaren Zugang zu Gott oder zum Heiligen Geist, aufgrund dessen sie das Christentum besser verstehen als frühere Generationen oder gar als Jesus und die Jünger. Er bedient sich eines Evolutions- beziehungsweise Entwicklungsschemas, das die Glaubens- und Dogmengeschichte als organische Fortentwicklung aus einem anfänglichen Keim und das jetzt kirchlich-dogmatisch Existierende als den augenblicklich erreichbaren Höchstzustand des Christentums interpretiert.
Damit ignoriert er die bleibende Ursprungsbezogenheit der Kirche, die einerseits stets auch Traditionskritik fordert, andererseits aber zugleich ein Reformpotenzial (als nochmaliges Maßnehmen an der Ursprungsform Jesus Christus in der Bedeutung des lateinischen Wortes „re-formare“) eröffnet. Die notwendige Vermittlung beider Extreme geschah in der Kirchengeschichte normalerweise auf Synoden. Der Kirchenhistoriker Klaus Schatz hat in seiner Geschichte des Ersten Vatikanischen Konzils darauf hingewiesen, dass Konzilien gewöhnlich versucht haben, Entscheidungen im Konsens zu erzielen (bis hin zum Preis des Verzichts auf Beschlussfassungen). Wo offensichtlich Minderheiten majorisiert worden seien (wie in Ephesus, Konstantinopel II, auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil), hätten sich aus solchen Entscheidungen in der Regel Spaltungen ergeben. Die Rücksicht auf die „Schwachen“ (die für Paulus immer die anderen Mitchristen sind) um der Einheit willen, ist für den Römerbrief (Kap. 14) geradezu ein Erkennungszeichen der Kirche.