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Howard S. Becker

Soziologische Tricks

Wie wir über Forschung nachdenken können

Aus dem Englischen von
Ursel Schäfer und Enrico Heinemann

Mit einem Nachwort von Thomas Hoebel

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Für Dianne

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2021 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-450-3

E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

© der deutschen Ausgabe 2021 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-342-1

eISBN 978-3-86854-451-0

© der Originalausgabe 1998 by The University of Chicago

Licensed by The University of Chicago Press, Chicago, Illinois, U.S.A.

Titel der Originalausgabe: »Tricks of the Trade. How to Think About Your Research

While You’re Doing It«

Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin

Inhalt

Vorwort

Tricks

Ideen

Fallauswahl

Konzepte

Logik

Coda

Dank zur amerikanischen Ausgabe

Literaturverzeichnis

Thomas Hoebel

Auf wessen Seite steht Howard S. Becker?

Ein Nachwort

Zu den Autoren

Vorwort

Der Inhalt dieses Buchs geht größtenteils auf meine Erfahrungen in der Lehre zurück. Wenn man Studierenden erklärt, was man erklären will, lernt man, Sachverhalte einfach zu formulieren, Beispiele zu finden, den abstrakten Ideen eine konkrete Form zu geben und Übungen zu ersinnen, mit denen die Studierenden neue Wege des Denkens trainieren und den Umgang mit dem, was sie aus ihren Forschungen mitnehmen. Wenn man sich als Lehrender die individuellen, scheinbar nur eine einzelne Person betreffenden Probleme anhört, auf die Studierende bei ihrer Arbeit stoßen, entdeckt man (wie der örtliche Computerfachmann, der durch das Lösen individueller Probleme Wissen ansammelt) nach und nach Familienähnlichkeiten zwischen den Problemen. Man lernt, das spezielle Problem als Variante eines allgemeinen Problems zu sehen. Aber jedes neue Problem unterscheidet sich gerade so weit von den anderen, dass es das Verständnis der allgemeinen Art der Schwierigkeiten erweitert.

Nach einer Weile begann ich, mir meine Ad-hoc-Lösungen zu notieren, die ich mir für einen bestimmten Kurs oder für das spezielle Forschungsproblem eines oder einer einzelnen Studierenden ausgedacht hatte. Nachdem ich ein Buch über die Probleme des wissenschaftlichen Schreibens verfasst hatte,1 meinte ich, ich könnte ein Buch über das »Denken« folgen lassen, ausgehend von der Sammlung der »Tricks«, mit der ich begonnen hatte. Einige Ideen hatte ich früher schon veröffentlicht, in Artikeln, die ich zu unterschiedlichen Gelegenheiten verfasst hatte, und bei diesen früheren Formulierungen habe ich mich großzügig bedient (am Ende des Vorworts liste ich die Verlage auf, denen ich zu Dank verpflichtet bin, dass sie mir das erlaubt haben).

Der Großteil meiner Arbeiten ist autobiografisch, entweder ausdrücklich oder in anderer Weise, und das gilt ganz besonders für dieses Buch. Ich schöpfe ausführlich und wiederholt aus meinen eigenen Erfahrungen. Besonders wichtig ist vielleicht, dass ich mich daran erinnert habe, wie ich unterrichtet wurde, dass ich an die Soziolog*innen gedacht habe, von denen ich gelernt habe, was soziologisches Arbeiten heißt und wie ein Leben als Soziologe oder Soziologin aussehen kann. In gewisser Weise ist dieses Buch eine Hommage an die Menschen, die mich unterrichtet haben, viele in der Schule, andere später, als ich die Schule verlassen (aber meinen Bildungsweg noch nicht beendet) hatte. Ich erweise ihnen meinen Respekt, indem ich oft versuche, das, was ich zu sagen habe, mit den Worten der Menschen zu verbinden, von denen ich gelernt habe; gewissermaßen nutze ich ihre Gedanken als Sprungbrett für meine eigenen. Im Lauf der Jahre habe ich die Erfahrung gemacht, die die meisten Menschen machen: dass meine Lehrer*innen nicht so dumm waren, wie ich manchmal glaubte.

Ich habe auch von vielen Menschen gelernt, die das, was ich geschrieben habe, zwar anerkennend, aber doch durchaus kritisch gelesen haben. Mehrere haben frühere Versionen dieses Manuskripts gelesen, und ich bin dankbar für ihre ausführlichen Kommentare, obwohl sie mehr Arbeit bedeuteten. (Besser, ich höre die Kritik von ihnen!) In diesem Sinn danke ich Kathryn Addelson, Eliot Freidson, Harvey Molotch und Charles Ragin für ihre wohlüberlegten Anmerkungen.

Doug Mitchell ist ein Lektor, wie viele Autor*innen ihn sich erträumen. Er hat geduldig gewartet, bis ich mit dem Buch fertig war, hat interessante und nützliche Ideen beigesteuert, hat mich bestärkt, wenn Interesse und Zutrauen einmal nachließen, und allgemein das Projekt am Leben gehalten.

Dianne Hagaman und ich teilen unser intellektuelles und häusliches Leben, und unsere gemeinsamen Erkundungen aller möglichen Forschungsfragen und konzeptuellen Probleme sind in vielfältiger Weise in das ganze Buch eingeflossen, ohne dass ich sie einzeln benennen und hervorheben kann. Dianne hat sich außerdem praktisch alles angehört – in Form zusammenhangloser Monologe, beiläufiger Bemerkungen oder sogar laut vorgelesen –, und ihre Reaktionen und Ideen haben dazu beigetragen, dass die endgültige Version so aussieht, wie sie nun aussieht.

1Becker, Die Kunst des professionellen Schreibens.

Tricks

In meiner Studienzeit an der University of Chicago lernten die Studierenden für den Umgang mit schwierigen konzeptuellen Problemen die Regel: »Nun, alles hängt davon ab, wie Sie Ihre Begriffe definieren.« Das stimmt natürlich, aber es half uns nicht besonders, weil wir nicht sehr viel darüber wussten, wie man Begriffe definiert.

Ich absolvierte auch mein Graduiertenstudium an der University of Chicago, und dabei traf ich Everett C. Hughes, der mein Mentor und schließlich mein Forschungspartner wurde. Er hatte bei Robert E. Park studiert, der als »Begründer« der »Chicagoer Schule« der Soziologie angesehen werden konnte. Everett Hughes lehrte mich, meine soziologische Herkunft über ihn und Park bis zu Georg Simmel zurückzuverfolgen, dem großen deutschen Soziologen, der Parks Lehrer gewesen war. Auf diese Abstammungslinie bin ich nach wie vor stolz.

Hughes mochte abstrakte Theorien nicht. Einmal sprach ihn eine Gruppe von Studierenden einigermaßen nervös nach dem Seminar an und wollte wissen, was er von »Theorie« halte. Er schaute uns grimmig an und fragte: »Theorie von was?« Er fand, es gebe nur Theorien über konkrete Dinge wie race oder ethnische Zugehörigkeit oder Arbeitsorganisation, aber so etwas wie Theorie allgemein gebe es nicht. Doch er wusste, was zu tun war, wenn ein Seminar oder ein Student oder eine Studentin bei einer vermeintlich »theoretischen« Frage in Schwierigkeiten geriet, etwa bei der Definition von Ideen oder Konzepten. Wir fragten beispielsweise, wie das Konzept »ethnische Gruppe« zu definieren sei. Wie können wir wissen, welche Gruppe eine Gruppe ist und welche nicht? In einem Aufsatz über die ethnischen Verhältnisse in Kanada hatte Hughes unseren chronischen Fehler identifiziert:

Beinahe jeder, der den Begriff [ethnische Gruppe] verwendet, wird sagen, dass es eine Gruppe ist, die sich von anderen durch ein Merkmal oder eine Kombination der folgenden Merkmale unterscheiden lässt: physische Merkmale, Sprache, Religion, Sitten, Institutionen und »kulturelle Merkmale«.2

Das heißt, wir gingen davon aus, dass man eine »ethnische« Gruppe durch die Merkmale definieren kann, die sie von einer anderen, mutmaßlich »nicht ethnischen« Gruppe unterscheiden; eine Gruppe war eine ethnische Gruppe, weil sie anders war.

Aber, so erklärte Hughes, damit zäumten wir das Pferd von hinten auf. Mit einem einfachen Trick ließ sich eine solche definitorische Zwickmühle lösen: Man dreht den erklärenden Satz um und betrachtet die Unterschiede als Ergebnis der Definitionen, die die Menschen in einem Netz von Gruppenbeziehungen abgeben:

Eine ethnische Gruppe ist nicht wegen der messbaren oder beobachtbaren Unterschiede zu anderen Gruppen eine solche; sie ist im Gegenteil eine ethnische Gruppe, weil die Personen in der Gruppe und die Personen außerhalb wissen, dass es eine solche ist; weil sowohl die Insider wie die Outsider sprechen, fühlen und handeln, als wäre es eine eigenständige Gruppe.3

Die Französisch-Kanadier*innen sind nicht deshalb eine ethnische Gruppe, weil sie Französisch sprechen und andere Kanadier*innen Englisch oder weil sie in der Regel der katholischen Kirche angehören und die englisch sprechenden Kanadier*innen der protestantischen. Sie sind eine ethnische Gruppe, weil sowohl die englischsprachigen wie die französischsprachigen Einwohner*innen diese beiden Gruppen als unterschiedlich betrachten. Die Unterschiede in Sprache, Religion, Kultur und allem, was unserer Vorstellung nach sonst noch ethnische Zugehörigkeit definiert, sind wichtig, nicht nur weil die beiden Gruppen sich nur dann als unterschiedlich behandeln können, »wenn man sagen kann, wer zu einer Gruppe gehört und wer nicht, und wenn eine Person früh, tiefinnerlich und in der Regel unwiderruflich lernt, zu welcher Gruppe sie gehört«. Der Kern des Tricks, der bei Definitionsproblemen aller Art angewendet werden kann (zum Beispiel beim Problem des abweichenden Verhaltens, auf das ich später in diesem Buch zurückkommen werde), besteht darin anzuerkennen, dass man eine ethnische Gruppe nicht für sich allein untersuchen kann, sondern dass man ihre »Ethnizität« vielmehr auf das Netz der Beziehungen zu anderen Gruppen zurückführen muss, in dem die Definition auftaucht. Hughes schreibt:

Es ist mehr als eine ethnische Gruppe nötig, damit ethnische Beziehungen entstehen. Die Beziehungen können auch nicht dadurch verstanden werden, dass man die eine oder die andere Gruppe untersucht, genauso wenig wie eine chemische Verbindung durch das Studium allein eines Elements oder ein Boxkampf durch die Beobachtung allein eines Kämpfenden verstanden werden kann.4

Genau das ist ein Trick: ein einfaches Werkzeug, das uns hilft, ein Problem zu lösen (in dem Fall besteht das Werkzeug darin, das Netz zu betrachten, in dem Definitionen auftauchen und verwendet werden). Jedes Geschäft hat seine Tricks, seine Lösungen für seine spezifischen Probleme, einfache Wege, etwas zu tun, was Laien oft große Mühe bereitet. Die Sozialwissenschaften haben genau wie das Klempner- und das Zimmereihandwerk ihre Tricks, um ihre speziellen Probleme zu lösen. Einige Tricks sind einfache Faustregeln, abgeleitet aus der Erfahrung, wie etwa der Rat, bunte Briefmarken auf die Rücksendeumschläge zu kleben, damit mehr Menschen einen Fragebogen zurückschicken. Andere Tricks entstammen der sozialwissenschaftlichen Analyse der Situation, in der ein Problem auftaucht, wie etwa Julius Roths Vorschlag,5 Forscher*innen sollten das Problem, dass Interviewer*innen bei einer Umfrage schummeln, nicht als einen Fall für die Polizei behandeln, als Schwierigkeit, verantwortungslose Angestellte zu identifizieren, sondern eher unter dem Aspekt, dass Menschen, die kein Interesse an ihrer Arbeit haben oder denen sie aus sonstigen Gründen nicht wichtig ist, sich nun einmal so verhalten, wenn ihre einzige Motivation das Geld ist.

Die Tricks, um die es in diesem Buch geht, helfen, Probleme des Denkens zu lösen, die Art von Problemen, die Sozialwissenschaftler*innen gemeinhin als »theoretisch« bezeichnen. Einen Begriff zu definieren, indem man sich anschaut, wie seine Bedeutung in einem Netz von Beziehungen auftaucht, ist genau die Art von Trick, die ich meine, aber es ist nicht die übliche Weise, wie theoretische Fragen geklärt werden. Wir Sozialwissenschaftler*innen diskutieren bei unseren Forschungen üblicherweise über »Theorie« in einer exklusiven Weise, behandeln sie als ein Thema für sich allein, das mit anderen gleichrangig, aber nicht notwendigerweise mit ihnen verknüpft ist. Selbstverständlich skizzieren die beiden klassischen Aufsätze von Merton6 die enge Beziehung, die seiner Ansicht nach zwischen Theorie und Forschung bestehen muss, aber diese Ideen wurden mehr von Studierenden bei der Vorbereitung auf Prüfungen genutzt als von Forschenden bei ihrer Arbeit. Hughes, der sich bei seiner methodologischen Arbeit an den praktischen Problemen orientierte, die bei dem Bemühen auftauchten, etwas über die Welt herauszufinden, drohte immer damit, »ein kleines Buch über Theorie« zu schreiben. Es sollte die Essenz seiner theoretischen Position enthalten und sich von seinen anderen Aufsätzen und Büchern unterscheiden, in denen einzelne Perlen soziologischer Generalisierungen verstreut sind.

Hughes’ Studierende, darunter auch ich, hofften alle, dass er dieses Buch über Theorie schreiben würde, denn wir wussten, dass wir eine Theorie lernten, wenn wir ihm zuhörten und seine Werke lasen, obwohl wir nicht sagen konnten, was für eine Theorie das war. (Jean-Michel Chapoulie7 analysiert die Grundideen von Hughes’ soziologischem Stil sehr scharfsinnig.) Aber er hat das Buch nie geschrieben. Ich vermute, er hat es nicht getan, weil er keine systematische Theorie in der Art von Talcott Parsons besaß. Man könnte eher sagen, er habe eine von Theorie geleitete Art des Arbeitens gehabt, sofern diese Unterscheidung etwas verdeutlicht. Seine Theorie diente nicht dazu, all die konzeptuellen Schubladen zu liefern, in die die Welt sich einfügen musste. Sie bestand vielmehr aus einer Sammlung verallgemeinernder Tricks, die er beim Nachdenken über die Gesellschaft anwandte und die ihm halfen, Daten zu interpretieren und einen allgemeinen Sinn daraus zu ziehen. (Den besten Eindruck davon gewinnt man durch seine Aufsätze.8) Weil seine Theorie nicht aus Theorie im strengen Sinn bestand, sondern eher aus analytischen Tricks, erlernten die Studierenden sie durch den Austausch mit ihm und indem sie seine Tricks selbst anwandten, so wie Auszubildende handwerkliche Fähigkeiten erlernen, indem sie Gesellen beobachten, die solche Tricks bereits kennen und einsetzen, um alltägliche Probleme zu lösen.

Wie Hughes hege ich tiefes Misstrauen gegen abstraktes soziologisches Theoretisieren. Bestenfalls betrachte ich es als ein notwendiges Übel, als etwas, das wir brauchen, um unsere Arbeit zu tun, das aber zugleich ein Werkzeug ist, das uns wahrscheinlich aus der Hand gleiten und zu einem generalisierten Diskurs führen wird, der weit entfernt von dem alltäglichen Graben im gesellschaftlichen Leben ist, aus dem die soziologische Wissenschaft besteht. Ich habe versucht, für mich die Theorie zu zähmen, indem ich sie als eine Sammlung von Tricks ansehe, als Denkweisen, die den Forschenden bei konkreten Forschungsproblemen zu Fortschritten verhelfen.

Um es noch einmal zu wiederholen und zu erweitern: Ein Trick ist eine spezielle Operation, die einen Weg aufzeigt, eine verbreitete Schwierigkeit zu überwinden, er bietet ein Verfahren an, ein ansonsten unüberwindliches und hartnäckiges Problem relativ leicht zu lösen. Die im Folgenden vorgestellten Tricks haben mit Problemen in mehreren Bereichen der sozialwissenschaftlichen Arbeit zu tun, die ich grob unter den Überschriften Ideen, Stichprobenbildung, Konzepte und Logik zusammengefasst habe.

Meine Beschreibung der Tricks besteht häufig in ausführlichen Beispielen, die Musterbeispiele im Kuhn’schen Sinn abgeben könnten: Modelle, an die man sich halten kann, wenn man auf ein ähnliches Problem stößt. Dass ich Beispiele lieber habe als allgemeine Definitionen, hängt mit meinen Erfahrungen beim Lehren zusammen. Als ich Kunstsoziologie unterrichtete, schrieb ich zugleich an einem Buch über das Thema.9 In meinen Lehrveranstaltungen war ich bestrebt, den Studierenden meinen theoretischen Rahmen für das Verständnis von Kunst als gesellschaftlichem Produkt zu vermitteln. Aber natürlich erzählte ich ihnen auch viele Geschichten. Eine meiner besten Vorlesungen war die über die Watts Towers, das unglaubliche Bauwerk, das ein eingewanderter italienischer Bauarbeiter in den 1930er Jahren in Los Angeles errichtet und dann sich selbst überlassen hatte. Ich erzählte die Geschichte anhand von Dias der Türme. Ich deutete sie als Grenzfall des gesellschaftlichen Charakters eines Kunstwerks. Simon Rodia, der Schöpfer der Türme, hatte buchstäblich alles eigenhändig geschaffen, ohne Hilfe von anderen, ohne Bezug auf Kunsttheorien oder Ideen oder Kunstgeschichte und ohne sich an Läden für Künstlerbedarf oder Museen oder Galerien oder irgendwelche Kunsteinrichtungen zu wenden – und ich erklärte, wie das Werk diese Unabhängigkeit zum Ausdruck brachte und wie man bei den meisten Werken die Abhängigkeit von all diesen Dingen daran erkennen konnte, wie sie gemacht waren. Der springende Punkt für mich war, dass der Grenzfall alle anderen Fälle erklärte. Deshalb war es ernüchternd, als mir später Studierende sagten, das, was ihnen aus meinen Lehrveranstaltungen wirklich im Gedächtnis geblieben sei, seien die Watts Towers. Einige erinnerten sich außer an die Geschichte auch noch daran, was ich so mühsam anhand der Watts Towers hatte herausarbeiten wollen, aber die meisten erinnerten sich nur an die Existenz der Türme, an die Geschichte des verrückten Kerls und an seine verrückte Kunst. Daraus schloss ich, dass die Menschen Geschichten und Beispiele aufnehmen und im Gedächtnis behalten. Deshalb gibt es in diesem Buch reichlich davon.

(Manche Leser*innen werden registrieren, dass viele meiner Beispiele nicht wirklich aktuell sind, nicht die jüngsten Erkenntnisse und Ideen illustrieren. Ich habe sie dennoch gezielt ausgewählt. Ich wundere mich immer wieder, wie viel gute Arbeit aus der Vergangenheit in Vergessenheit geraten ist, nicht weil sie nicht gut wäre, sondern weil die Studierenden nie davon gehört haben, weil man nie ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat. Deshalb habe ich meine Beispiele oft Arbeiten entnommen, die dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahre alt sind, in der Hoffnung, ihnen zu einem verdienten neuen Leben zu verhelfen.)

Wissenschaftssoziolog*innen10 haben uns gezeigt, dass Naturwissenschaftler*innen in ihren formellen Äußerungen zu ihren Methoden nicht sagen, wie sie wirklich arbeiten. Sie verstecken ihre »Betriebsabläufe« – was Wissenschaftler*innen wirklich tun – in der formellen Art und Weise, wie sie über ihre Arbeit sprechen. Sozialwissenschaftler*innen machen das auch, sie wenden eine Alltagssammlung theoretischer Tricks an, wenn sie tatsächlich Sozialwissenschaft betreiben, anders als wenn sie über Theorie sprechen. Dieses Buch behandelt vermeintliche theoretische Probleme, indem einige Tricks von Sozialwissenschaftler*innen katalogisiert und analysiert werden, also ihre »Betriebsabläufe«. Ich schildere einige meiner liebsten Beispiele, außerdem einige, die ich von Everett Hughes übernommen habe, und erläutere im weiteren Verlauf ihre Bedeutung für die Theorie. Gelegentlich habe ich ihnen Namen als Gedächtnisstützen gegeben, deshalb tauchen in diesem Buch Kreationen wie der Maschinentrick, der Wittgenstein-Trick und viele andere auf.

Der Buchtitel Soziologische Tricks (Tricks of the Trade) erzeugt einige Uneindeutigkeiten, die gleich von vornherein aufgeklärt werden sollten. Gerade die Formulierung »Tricks« hat mehrere mögliche Bedeutungen, und an die meisten denke ich überhaupt nicht. Manche Leser*innen hoffen vielleicht, dass ich Tricks weitergebe, wie man sich in der Wissenschaft behauptet: wie man einen Arbeitsplatz ergattert oder eine Professur auf Lebenszeit, wie man einen besseren Job findet oder wie man es schafft, dass die eigenen Aufsätze veröffentlicht werden. Ich bin immer bereit, solche Dinge zu erörtern. Meiner unkonventionellen akademischen Karriere, in der ich zunächst viele Jahre als sogenannter »fahrender Forscher« unterwegs war, bevor ich schließlich als ordentlicher Professor einen Platz in der akademischen Welt fand, verdanke ich womöglich einige Einsichten, die mit der Erfahrung verbunden sind, eine Randexistenz zu führen. Aber die Zeiten ändern sich, und die wirtschaftliche und politische Situation der Universitäten ist inzwischen so anders, dass ich doch sehr bezweifle, ob ich heute noch mit Insiderinformationen über diesen wechselvollen Prozess aufwarten kann. Auf jeden Fall ist die Wissenschaft nicht das Geschäft, das ich im Sinn habe. (Aaron Wildavsky11 hat sehr viel dazu gesagt.)

Andere denken vielleicht, dass ich technische Tricks beim Schreiben oder beim Computereinsatz oder bei statistischen »Methoden« meine (allerdings dürften nicht viele Menschen statistische Tricks von mir erwarten). Was ich über technische Tricks beim Schreiben weiß, habe ich an anderer Stelle mitgeteilt12, und wahrscheinlich habe ich eine ähnliche Sammlung folkloristischer Ratschläge für andere Bereiche der Sozialwissenschaften, die ich weitergeben kann. Das sind zwar auch Tricks in unserem sozialwissenschaftlichen Gewerbe, aber sie sind zu speziell und nicht hinreichend zu verallgemeinern, als dass sich eine ausführliche Diskussion lohnen würde. Sie werden in angemessener Form mündlich überliefert.

Somit spreche ich hier über das Geschäft der soziologischen Forschung oder (weil so viele Menschen etwas tun, das ich imperialistisch der Soziologie zurechne, auch wenn es für sie eine Art der Sozial- oder Humanwissenschaft ist) über das Geschäft, die Gesellschaft zu studieren, unter welchem professionellen Etikett auch immer. Die Tricks, an die ich denke, helfen diesen Menschen, ihre Arbeit weiterzuführen, egal, welche Berufsbezeichnung sie tragen. In der Folge verwende ich »Soziologie« und »Sozialwissenschaften« einigermaßen sorglos als austauschbare Begriffe, auch wenn das gelegentlich bei Disziplinen am Rand wie der Psychologie eine Grauzone entstehen lässt.

Etwas anderes dürfte klar sein, wie ich hoffe, aber wahrscheinlich sollte es trotzdem ausdrücklich gesagt werden: Meine Gedanken beschränken sich nicht auf das, was gemeinhin als »qualitative« Forschung bezeichnet wird. Ich habe solche Forschung betrieben, aber das war eher eine praktische als eine ideologische Entscheidung. Ich weiß, wie qualitative Forschung funktioniert, und sie hat mir Spaß gemacht, deshalb bin ich dabeigeblieben. Aber ich bin immer für die Möglichkeiten anderer Methoden offen gewesen (solange sie mir nicht als religiöse Überzeugungen aufgezwungen wurden), und ich fand es besonders hilfreich, über meine Arbeit aus dem Blickwinkel solcher anderen Arbeitsgebiete nachzudenken, wie Umfrageforschung oder mathematische Modellbildung. Deshalb richten sich die hier ausgebreiteten Ideen nicht allein an die Eingeweihten von Feldforschung im anthropologischen Stil, obwohl sie, wie ich hoffe, den Inhalt vertraut, wenngleich nicht beruhigend finden werden. Sie richten sich genauso an Vertreter*innen aus der gesamten Bandbreite der Stile und Traditionen, die heute die Sozialwissenschaft ausmachen.

Das Wort »Trick« suggeriert üblicherweise, dass das beschriebene Mittel oder die Operation die Dinge leichter machen wird. In diesem Fall ist das irreführend. Um die Wahrheit zu sagen: Diese Tricks machen es den Forschenden in gewisser Weise wahrscheinlich schwerer. Statt eine konventionelle Arbeit zu erleichtern, zeigen sie Wege auf, um die komfortablen Denkroutinen zu verlassen, die das akademische Leben fördert und darin unterstützt, Dinge auf die »richtige« Weise zu tun. Es ist ein Beispiel dafür, dass das »Richtige« der Feind des Guten ist. Die Tricks empfehlen, die Dinge herumzudrehen, sie anders zu betrachten, um neue Fragestellungen für die Forschung zu finden, neue Möglichkeiten, Fälle zu vergleichen und neue Kategorien zu entwickeln, und Ähnliches mehr. All das ist Arbeit. Es macht Freude, aber es ist mehr Arbeit, als wenn man die Dinge auf eine routinierte Weise erledigt, bei der man nicht viel nachdenken muss.

Clifford Geertz hat gut beschrieben, was diese Tricks leisten sollen:

Das, was für sie [die ausgearbeiteten Bilder] oder aber – wenn sie schlecht konstruiert sind – gegen sie spricht, das sind die weiteren Bilder, die aus ihnen hervorgehen: ihre Fähigkeit, zu erweiterten Darstellungen zu führen, die in der Überschneidung mit anderen Berichten von anderen Dingen deren Implikationen erweitern und deren Einfluß vertiefen. Wir können immer darauf zählen, daß etwas anderes geschieht, eine weitere flüchtige Erfahrung, ein weiteres halb mitbekommenes Ereignis. Das, worauf wir nicht zählen können, ist, daß wir etwas Nützliches darüber zu sagen haben werden, wenn es eintritt. Wir laufen nicht Gefahr, daß uns die Realität ausgeht; wir sind ständig in Gefahr, daß uns die Zeichen ausgehen oder daß uns zumindest die alten den Dienst versagen. Das im Nachhinein, ex post operierende, das Leben nachzeichnende Wesen des Bewußtseins im allgemeinen – erst das Geschehnis, danach dann die Formulierung – erscheint in der Anthropologie als eine kontinuierliche Bemühung, Diskurssysteme zu entwerfen, die mehr oder weniger Schritt mit dem halten können, was, vielleicht, abläuft.13

Jeder Abschnitt dieses Buchs beschäftigt sich mit dem Thema Konvention – soziale Konvention und wissenschaftliche Konvention – als einem großen Feind des soziologischen Denkens. Jeder Gegenstand, den wir untersuchen, wurde bereits von vielen Menschen untersucht, die jeweils viele eigene Ideen hatten, und er ist weiterhin die Domäne der Menschen, die gegenwärtig die Welt bewohnen und eigene Ideen dazu haben, um was es geht und welche Objekte und Ereignisse dabei bedeutsam sind. Diese Personen, die durch Beruf oder Gruppenzugehörigkeit Expert*innen sind, haben in der Regel ein ungeprüftes und unhinterfragtes Monopol auf die Ideen zu »ihrem« Thema. Neulinge, die bei der Untersuchung des Themas, was auch immer es ist, frisch dazukommen, lassen sich leicht verführen, diese konventionellen Ideen als ungeprüfte Prämissen ihrer Forschung zu übernehmen. Die verdienstvolle Leistung des »Überblicks über die Literatur«, die Promotionsausschüssen so sehr am Herzen liegt, setzt uns dieser Versuchung aus.

Deshalb brauchen wir Wege, um den Radius unseres Denkens zu erweitern, um zu sehen, was wir noch denken und welche Fragen wir noch stellen können, um zu erreichen, dass unsere Ideen besser mit der Vielfalt dessen, was auf der Welt geschieht, mithalten können. Viele Tricks, die ich hier beschreibe, sind dieser Aufgabe gewidmet.

In den einzelnen Abschnitten des Buchs geht es um die großen Aspekte der sozialwissenschaftlichen Forschung. »Ideen« handelt davon, wie wir über das denken, was wir untersuchen wollen, bevor wir mit unserer Forschung richtig beginnen, und wie unsere Bilder davon, wie dieser Teil der sozialen Welt wohl aussieht und wie die Arbeit des Sozialwissenschaftlers oder der Sozialwissenschaftlerin aussieht, zustande kommen. Wir diskutieren die verschiedenen Formen, in Bildern über die Gesellschaft zu sprechen, und wir lernen Wege kennen, wie wir die Kontrolle darüber erlangen können, wie wir Dinge sehen, sodass wir nicht nur unwissentlich Träger*innen konventioneller Gedanken über die Welt sind.

Der nächste Abschnitt, überschrieben mit »Fallauswahl«, erkennt an, dass unsere allgemeinen Ideen immer eine Beschränkung auf Fälle aus dem gesamten Universum möglicher Fälle widerspiegelt, die wir hätten untersuchen können. In dem Abschnitt greifen wir die Frage auf, wie wir das auswählen, was wir uns tatsächlich anschauen, welche Fälle wir im Kopf haben, wenn wir unsere allgemeinen Ideen explizit formulieren. Offensichtlich sollten wir unsere Fälle so auswählen, dass unsere Chance möglichst groß ist, wenigstens ein paar zu finden, die unseren Ideen widersprechen und uns dazu bringen, zu hinterfragen, was wir zu wissen glauben.

»Konzepte«, der dritte Abschnitt des Buchs, behandelt die Entstehung unserer Ideen. Wie sollen wir das zusammensetzen, was wir in Form von allgemeineren Ideen aus unseren Stichproben lernen? Wie können wir die Vielfalt der Welt nutzen, die unser Bestreben, unsere Vorstellungen und unsere Stichproben zu verbessern, uns vermittelt hat, um bessere, nützlichere Wege zu finden, über Dinge nachzudenken?

Und schließlich geht es im Abschnitt »Logik« darum, Ideen mit Methoden, die mehr oder weniger (meistens weniger) der formellen Logik entstammen, umzuformen. Dieser Abschnitt bedient sich sehr stark bei Material, das bereits von anderen zusammengetragen und verbreitet wurde (insbesondere von Paul Lazarsfeld, Charles Ragin und Alfred Lindesmith – einem erstaunlichen Trio). Ein großes Thema hier, das von Ragin übernommen wurde, ist die Nützlichkeit, sich auf eine Vielfalt von Fällen zu konzentrieren statt auf Variation bei den Variablen. (Was damit gemeint ist, wird im Abschnitt »Logik« erklärt.) Ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich Dinge von anderen übernehme, aber ich betone, dass ich mich nur bei den Besten bedient habe und jeweils sage, soweit ich mich noch daran erinnern kann, bei wem ich mich bedient habe.

Die Leser*innen werden bald feststellen – deshalb kann ich es gleich zugeben –, dass bei der Auswahl der diskutierten Inhalte eine gewisse Willkür waltet. Die meisten Inhalte hätten an mehr als einer Stelle zur Sprache kommen können (und manchmal werden sie an mehr als einer Stelle aufgegriffen). Die Überschriften der Abschnitte geben nur grobe Hinweise, um was es darin geht. Die Ideen sind kein nahtloses Netz logisch zusammenhängender Aussagen (als hätte ich es mir nicht gewünscht!), sondern ein organisches Ganzes. Das heißt, meistens implizieren sie sich gegenseitig. Das Buch ist keine gerade Linie, sondern eher ein Netz oder Gewebe.

Es hat auch den Anschein, als folgten die Abschnitte grob einer chronologischen Ordnung. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, dass Forscher*innen ihre Arbeit mit unterschiedlichen Bildern dessen beginnen, was sie untersuchen wollen, und dann auf der Grundlage dieser Bilder Ideen entwickeln, was sie untersuchen wollen und wie sie ihre Fälle auswählen (mit anderen Worten, wie sie eine Stichprobenauswahl planen). Es könnte auch der Eindruck entstehen, dass Forscher*innen, wenn sie ihre Fälle ausgewählt und untersucht haben, Konzepte erstellen, die sie bei ihren Analysen verwenden, und dass sie Logik benutzen, wenn sie die Konzepte auf ihre Fälle anwenden. All das könnte man sich mit gutem Grund vorstellen, weil die meisten Bücher über Theoriebildung und Forschungsmethoden diese Abfolge als den »richtigen Weg« schildern. Aber diese Vorstellung wäre falsch. Die verschiedenen Operationen sind selbst untereinander logisch verbunden – in gewisser Weise liegen die Vorstellungen der Stichprobe zugrunde und steuern sie –, aber das heißt nicht, dass man sich an diese Reihenfolge hält, jedenfalls nicht, wenn man ernsthafte Forschung betreiben will.

Ernsthafte Forscher*innen bewegen sich wiederholt zu diesen vier Bereichen des Denkens hin und wieder zurück, und jeder Bereich beeinflusst die anderen. Ich wähle vielleicht meine Stichprobe so, dass dabei das Bild meines Untersuchungsgegenstandes berücksichtigt wird, aber ich werde mein Bild ganz sicher verändern, je nachdem was meine Stichprobe mir zeigt. Und die logischen Operationen, die ich an den Ergebnissen eines Teils meiner Arbeit vornehme, werden wahrscheinlich zu einer Veränderung meiner Konzepte führen. Und so weiter. Es ist zwecklos, sich das als säuberlichen, logischen, ordentlichen Vorgang vorzustellen. Um noch einmal Geertz zu zitieren:

Man arbeitet ad hoc und ad interim, man kombiniert tausendjährige Geschichte mit einem Massaker von drei Wochen und internationale Konflikte mit Stadtökologie. Die Wirtschaft von Reis oder Oliven, die Politik von Ethnizität oder Religion, das Funktionieren von Sprache oder Krieg muß bis zu einem gewissen Grade in die endgültige Konstruktion hineingeschweißt werden. Gleiches gilt für Geographie, Handel, Kunst und Technik. Das Resultat ist zwangsläufig unbefriedigend, schwerfällig, wacklig und schlecht geformt: eine imposante Apparatur. Der Anthropologe, oder zumindest einer, der seine Apparaturen komplizierter machen und nicht in sich abschließen möchte, ist ein manischer Bastler, der mit seiner Weisheit dahintreibt.14

Von den Tricks des Denkens, die in diesem Buch vorgestellt werden, hat keiner einen »festen Platz« in dem Zeitplan für den Aufbau einer solchen Apparatur. Sie sollten sie immer dann anwenden, wenn Sie meinen, dass Sie Ihre Forschung voranbringen – ob am Anfang, in der Mitte oder ganz am Ende.

2Hughes, The Sociological Eye, S. 153.

3Ebd., S. 153 f.

4Ebd., S. 155.

5Roth, »Hired Hand Research«.

6Merton, Soziologische Theorie und soziale Struktur, S. 83 – 113.

7Chapoulie, »Everett Hughes and the Chicago Tradition«.

8Hughes, The Sociological Eye.

9Becker, Kunstwelten.

10Siehe beispielsweise Latour / Woolgar, Laboratory Life; sowie Lynch, Art and Artifact in Laboratory Science.

11Wildavsky, Craftways.

12Becker, Die Kunst des professionellen Schreibens.

13Geertz, Spurenlesen, S. 27 f.

14Ebd., S. 29.

Ideen

An der University of Chicago erlebte ich auch Herbert Blumer als Lehrer. Er war ein ehemaliger Footballspieler, groß, kräftig und imponierend, mit einer Stimme, die unpassend hoch und schrill wurde, wenn er sich über einen abstrakten theoretischen Sachverhalt erregte. Er lehrte Sozialpsychologie und seine spezielle Version der Methodologie. Dabei war ein Aspekt die gewohnheitsmäßige, geradezu obsessive Art und Weise, wie er unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die zugrunde liegenden Vorstellungen lenkte, mit denen sich Soziolog*innen den Phänomenen nähern, die sie untersuchen. Was glauben sie zu betrachten? Welchen Charakter hat es? Vor allem aber, betreiben sie angesichts dessen, wofür sie es halten, ihre Untersuchungen richtig, und berichten sie in einer Weise über ihre Erkenntnisse, die dem Charakter des Studienobjekts entspricht? Diesen Punkt betonte er oft und nachdrücklich:

Man kann die empirische Welt nur durch ein Schema oder eine Vorstellung von ihr wahrnehmen. Die gesamte Handlung der wissenschaftlichen Untersuchung ist an dem ihr zugrunde liegenden Bild der empirischen Welt ausgerichtet und von ihm gestaltet. Dieses Bild legt die Auswahl und Formulierung von Problemen fest, die Bestimmung der Dinge, die als Daten betrachtet werden, die für die Sammlung der Daten benutzten Mittel, die zwischen den Daten gesuchten Arten von Beziehungen und die Formen, in denen Aussagen gemacht werden. Berücksichtigt man diese grundlegende und durchdringende Auswirkung, die von dem am Beginn der Studie stehenden Bild der empirischen Welt auf den gesamten Verlauf der wissenschaftlichen Untersuchung ausgeübt wird, so ist es lächerlich, dieses Bild zu ignorieren. Dieses zugrundeliegende Bild der empirischen Welt kann immer in der Form eines Sets von Prämissen bestimmt werden. Die den »Schlüsselobjekten«, aus denen das Bild zusammengesetzt ist, entweder explizit oder implizit zugeschriebene Beschaffenheit setzt diese Prämissen fest. Die unumgängliche Aufgabe echten methodologischen Vorgehens ist es, diese Prämissen zu bestimmen und einzuschätzen.15

Blumer wollte vor allem die Soziolog*innen dafür tadeln, dass sie ihre Arbeit auf Vorstellungen aufbauten, die in eklatantem Widerspruch zu dem standen, was die Menschen wussten, und ganz besonders dafür, dass sie mit Vorstellungen von der Gesellschaft arbeiteten, die dem widersprachen, was ihre tägliche Erfahrung ihnen über die Dinge sagte. Ich studierte bei Blumer und lernte durch eine Übung, zu der er uns drängte, wie wichtig das ist: Wir sollten beliebige zehn Minuten unserer eigenen Erfahrung nehmen und versuchen, sie zu erklären und zu verstehen, indem wir die aktuell gerade modischen Theorien der Sozialpsychologie anwandten. Wenn wir versuchten, beispielsweise die Reiz-Reaktions-Psychologie (die damals sehr populär war) auf so banale Tätigkeiten wie Aufstehen und Frühstücken anzuwenden, stellten wir fest, dass man die Reize nicht klar identifizieren und eindeutig mit den »Reaktionen« verknüpfen konnte. Wir begriffen sehr schnell, um was es ging. Keine verfügbare Theorie vermittelt einem die Worte und Ideen, die Vorstellungen, um der Vielzahl der Dinge gerecht zu werden, die man sieht und hört und fühlt und macht, während man all das erledigt, woraus das Leben besteht.

Aber was machen wir, wenn wir den Gedanken akzeptiert haben, dass bei unseren üblichen sozialwissenschaftlichen Ideen etwas fehlt? Warum sind unsere Vorstellungen so mangelhaft? Wie können wir sie verbessern? Ich habe genau wie andere Studierende darunter gelitten, dass wir das Problem sahen, aber keine Lösung. An der Stelle ließ Blumer uns im Stich. Gnadenlos wies er auf das Versagen der Soziolog*innen hin, wenn es darum ging, mehr über das herauszufinden, was er »den hartnäckigen Charakter des sozialen Lebens als Prozess interagierender Identitäten« nannte.

[Die erste Beobachtung ist], dass der Forscher fast per Definition keine unmittelbare Kenntnis des Bereichs des sozialen Lebens hat, den zu erforschen er beabsichtigt. Er ist selten Teilnehmer in jenem Bereich und gewöhnlich nicht in engem Kontakt mit den Handlungen und Erfahrungen der Leute, die in diesen Bereich einbezogen sind. Seine Position ist fast immer die eines Außenseiters; als solcher ist er deutlich begrenzt in seinem einfachen Wissen um das, was in dem betreffenden Lebensbereich vor sich geht. Dies ist keine Beschuldigung von Forschern; es ist eine einfache Beobachtung, die auf alle Menschen in ihrer Beziehung zu einem Lebensgebiet, das sie nicht genau durch persönliche Teilnahme kennen, Anwendung findet. Der Soziologe, der Verbrechen, Studentenunruhen in Lateinamerika oder politische Eliten in Afrika zu erforschen beabsichtigt, und der Psychologe, der es auf sich nimmt, den Drogenkonsum Heranwachsender, Erwartungen bei afroamerikanischen Schulkindern oder soziale Ansichten bei Delinquenten zu erforschen – beide sind ein Beispiel für das fast unausweichliche Fehlen intimer Kenntnis des betreffenden Lebensgebietes.16

Blumer hat diesen Gedankengang nie bis zu dem Punkt weiterverfolgt, dass er bestimmte Lösungen daraus ableitete. Er sagte uns nicht, was gute Ideen wären, um damit zu arbeiten, oder nur auf höchst abstrakter Ebene, oder wie wir solche Vorstellungen erzeugen könnten, außer dass wir uns Informationen aus erster Hand über den Bereich des gesellschaftlichen Lebens verschaffen sollten, für den wir uns interessierten. Das war natürlich nötig, aber es reichte uns nicht als Anleitung. In diesem Kapitel werde ich versuchen, diesem Mangel an Spezifizität abzuhelfen, ich werde die Vorstellungen diskutieren, die Sozialwissenschaftler*innen benutzen, werde schauen, woher sie kommen, und werde bestimmte Tricks vorstellen, um sie zu verbessern.

Überzeugende Ideen

Wie gesagt: Blumer dachte, und ich denke es auch, dass die grundlegende Operation beim Studium der Gesellschaft – wir beginnen mit Vorstellungen und enden mit Vorstellungen – die Hervorbringung und Verfeinerung einer Vorstellung des Gegenstandes ist, den wir untersuchen. Wir erfahren ein bisschen (oder vielleicht ziemlich viel) über etwas, das uns interessiert. Auf der Grundlage dieses Bisschens konstruieren wir eine komplette Geschichte des Phänomens (oder stellen uns eine solche vor). Nehmen wir einmal an, ich wollte ein bestimmtes Stadtviertel untersuchen. Ich könnte damit anfangen, ein lokales statistisches Werk zu konsultieren (das Chicago Community Fact Book oder die Veröffentlichung der maßgeblichen Ergebnisse des Zensus), um zu sehen, was für Menschen in dem Viertel leben. Wie viele Männer? Wie viele Frauen? Wie alt sind sie? Wie ist ihr mittleres Bildungsniveau? Ihr mittleres Einkommensniveau? Mit diesen grundlegenden Informationen kann ich ein vollständiges, wenn auch provisorisches geistiges Bild dieses Viertels entwerfen – eine Vorstellung. Anhand der Zahlen zu Einkommen und Bildung kann ich entscheiden, dass es ein Arbeiter*innen-Viertel ist, und auf der Grundlage der Altersverteilung kann ich Überlegungen zu den Familienstrukturen anstellen, ob es ein Gebiet mit Ruheständler*innen ist oder vielen Menschen, die auf den Ruhestand zugehen, oder umgekehrt ein Gebiet mit vielen jungen Menschen in der Phase der Familiengründung. Wenn ich die Variablen race und ethnische Zugehörigkeit hinzufüge, wird mein Bild noch detailreicher.

Mein Bild ist mehr als eine Zusammenstellung von Zahlen. Es enthält Details, die nicht in den Büchern und Tabellen stehen, die ich konsultiert habe, Details, die ich auf der Grundlage dessen, was diese Werke mir erzählt haben, erfunden habe. Das bringt uns zum zweiten Teil von Blumers Kritik an den Vorstellungen von Sozialwissenschaftler*innen:

[Die zweite Beobachtung ist], dass trotz dieses Fehlens unmittelbarer Kenntnis der Forscher sich unbewusst irgendein Bild von dem Lebensbereich, den er erforschen will, machen wird. Er wird seine Anschauungen und Vorstellungen, die er schon hat, ins Spiel bringen, um sich ein mehr oder weniger klares Bild von dem Lebensbereich zu formen. In dieser Hinsicht ist er wie alle Menschen. Seien wir nun Laien oder Forscher, notwendigerweise betrachten wir jedes unbekannte Gebiet des Zusammenlebens durch Raster, die wir schon besitzen. Wir mögen keine unmittelbaren Kenntnisse des Lebens in delinquenten Gruppen haben oder in Gewerkschaften oder in gesetzgebenden Ausschüssen oder in dem Vorstand einer Bank oder in einem religiösen Kult, und dennoch entwickeln wir, wenn man uns einige wenige Stichworte gibt, mit Leichtigkeit brauchbare Bilder von solch einem Leben. Wie wir alle wissen, ist dies der Punkt, an dem Stereotype auftreten und die Kontrolle übernehmen. Wir alle haben als Gelehrte unseren Anteil an den allgemeinen Stereotypen, die wir benutzen, um ein uns unbekanntes Gebiet des empirischen sozialen Lebens zu betrachten.17

Nachdem ich diese ersten vorläufigen Fakten über das Viertel, das ich untersuchen will, zusammengetragen habe, »weiß« ich beispielsweise, in was für Häusern diese Menschen leben – ich kann sie fast wie auf einem Foto sehen: die säuberlich gestutzten Rasenflächen mit Plastikflamingos, die Möbel aus den Möbelhäusern, die Ratenkauf anbieten, und was mir meine stereotypen Vorstellungen über derartige Menschen sonst noch suggerieren. Nichts davon gründet auf realem Wissen über dieses Viertel. Es sind Bilder, die ich mir ausgedacht habe, genau wie Blumer es beschrieben hat, ausgehend von einigen wenigen Fakten und dem Bestand an Stereotypen, der aus meinen eigenen Erfahrungen mit der Gesellschaft stammt. Wenn ich genug Fantasie habe, gehören dazu auch der Anblick der Straßen und der Geruch aus den Küchen (»Italienischstämmige Bewohner*innen? Knoblauch!«). Wenn ich viele sozialwissenschaftliche Schriften gelesen haben, kann ich meinem Bild auch noch einige Ideen zum Beispiel darüber hinzufügen, welche Gespräche die Menschen beim Abendessen führen (»Arbeiterschaft? Restringierter Code – viele unartikulierte Laute und einsilbige Wörter, wie von Basil Bernstein beschrieben«).

Fantasievolle, belesene Sozialwissenschaftler*innen kommen mit wenigen Fakten ziemlich weit. Doch weil wir alle behaupten, Sozialwissenschaft zu betreiben, lassen wir es nicht mit Fantasie und Extrapolation bewenden, wie es Schriftsteller*innen oder Filmemacher*innen vielleicht tun würden. Denn wir wissen auch, dass unsere stereotypen Vorstellungen genau das sind – Stereotype – und dass sie mit gleicher Wahrscheinlichkeit zutreffen oder nicht zutreffen. Blumer hält schon eine weitere vernichtende Anklage bereit:

[Zusätzlich] hat der Forscher in den Sozialwissenschaften ein weiteren Set vorgefertigter Bilder, die er anwendet. Diese Bilder sind in seinen Theorien begründet, in den Anschauungen seines eigenen Berufskreises und in seinen Vorstellungen darüber, wie die empirische Welt beschaffen sein muss, um ihm die Verfolgung seiner Forschungen zu erlauben. Kein sorgfältiger Beobachter kann aufrichtig leugnen, dass dies wahr ist. Wir sehen dies deutlich in der Gestaltung von Bildern der empirischen Welt, damit sie in die Theorie passen, in der Anordnung solcher Bilder entsprechend den Konzeptionen und Anschauungen, die sich im Kollegenkreis allgemeiner Billigung erfreuen, und in der Formung solcher Bilder, damit sie den Anforderungen des wissenschaftlichen Programms genügen. Wir müssen in aller Aufrichtigkeit erkennen, dass der sozialwissenschaftliche Forscher, der es unternimmt, einen bestimmten Bereich des sozialen Lebens, den er nicht unmittelbar kennt, zu erforschen, ein Bild jenes Bereiches in der Form vorgefertigter Vorstellungen entwerfen wird.18

Also legt unsere Fantasie an diesem Punkt fest, in welche Richtung unsere Forschungen gehen – die Ideen, mit denen wir beginnen, die Fragen, die wir stellen, um sie zu überprüfen, die Antworten, die wir plausibel finden. Und das passiert, ohne dass wir viel darüber nachdenken, weil das Dinge sind, von denen wir kaum wissen, dass wir sie »wissen«. Sie sind einfach Teil des Gepäcks, das wir in unserem alltäglichen Leben mit uns herumschleppen, Wissen, auf das wir uns verlassen, wenn wir keine Wissenschaftler*innen sind und nicht meinen, dass wir Dinge auf die speziell wissenschaftliche Weise wissen müssen, die nötig ist, wenn wir Erkenntnisse in renommierten Fachzeitschriften veröffentlichen wollen.

Manche Sozialwissenschaftler*innen werden mich an dieser Stelle unterbrechen und sagen, dass sie niemals über Dinge sprechen, ohne über empirische Grundlagen zu verfügen. Das glaube ich ihnen nicht. Nehmen wir den offensichtlichen Fall, dem Herbert Blumer und seither viele andere eine Menge Aufmerksamkeit gewidmet hat: der Gewohnheit, gesellschaftlichen Akteur*innen Ansichten und Absichten zu unterstellen. (Das gleiche Problem taucht bei Dingen auf, die weniger formlos erscheinen, bei Ereignissen und anderen »harten« Fakten; darauf komme ich später zurück.) Wir Sozialwissenschaftler*innen schreiben implizit oder explizit den Menschen, deren Handlungen wir analysieren, immer einen Standpunkt, eine Perspektive und Motive zu. Beispielsweise sagen wir immer, welche Bedeutungen die Menschen, die wir studiert haben, den Ereignissen geben, an denen sie beteiligt sind; deshalb ist die einzige Frage nicht, ob wir das tun sollen, sondern wie genau wir es tun. Wir können – und viele Sozialwissenschaftler*innen machen das auch – Daten dazu sammeln, welche Bedeutungen Menschen Dingen zusprechen. Wir finden heraus – nicht mit absoluter Genauigkeit, aber doch mit einiger –, was die Menschen über ihr Handeln denken, wie sie die Gegenstände und Ereignisse und die anderen Menschen in ihrem Leben und ihrer Erfahrung interpretieren. Wir tun das, indem wir mit ihnen sprechen, in formellen oder informellen Interviews, im schnellen Austausch, während wir an ihren alltäglichen Aktivitäten teilnehmen und sie dabei beobachten, und indem wir zusehen und zuhören, wenn sie ihren Angelegenheiten nachgehen; wir können das auch machen, indem wir ihnen Fragebögen aushändigen, mit denen wir ihnen eine Auswahl von Ansichten vorlegen und sie dann ankreuzen, was zutrifft. Je näher wir an die Bedingungen herankommen, unter denen sie Objekten und Ereignissen tatsächlich Bedeutung geben, desto genauer werden unsere Beschreibungen dieser Bedeutungen sein.

Was ist, wenn wir nicht direkt herausfinden, welche Bedeutungen Menschen Dingen und ihren eigenen Handlungen sowie den Handlungen anderer Menschen tatsächlich geben? Werden wir in einem Anfall wissenschaftlicher Enthaltsamkeit rigoros auf jede Diskussion über Motive und Ziele und Absichten verzichten? Wahrscheinlich nicht. Nein, wir werden weiter über solche Bedeutungen sprechen, aber wir werden notgedrungen, infolge unseres Unwissens, uns etwas ausdenken, und dabei verwenden wir das Wissen aus unserer täglichen Erfahrung (oder aus dem Mangel an Erfahrung), wenn wir sagen, dass die Menschen, über die wir schreiben, dieses oder jenes gemeint haben müssen, weil sie sonst nicht so gehandelt hätten, wie sie gehandelt haben. Doch es ist natürlich gefährlich zu raten, wenn man sich auch mehr direktes Wissen hätte beschaffen können. Die Gefahr besteht, dass wir falsch raten, dass das, was uns vernünftig erscheint, nicht unbedingt auch ihnen vernünftig erschienen ist. Diese Gefahr begleitet uns immer, vor allem weil, wie Blumer gesagt hat, wir nicht diese Menschen sind und nicht in ihren Lebensumständen leben. Deshalb nehmen wir wahrscheinlich den leichten Weg und unterstellen ihnen, was wir über ihre Situation denken, so wie wir sie verstehen. Das ist etwa der Fall, wenn Wissenschaftler (meistens mittleren Alters und mit hoher Wahrscheinlichkeit männlich), die das Verhalten von Jugendlichen untersuchen, sich die Häufigkeit von Schwangerschaften anschauen und alles, was dazugehört, und dann beschließen, was in den Köpfen der jungen Frauen, die die Babys bekommen haben, vorgegangen »sein muss«, dass sie in eine solche Bredouille geraten konnten. Ohne reales Wissen übernimmt unsere Fantasie die Regie.