Stefan Eminger / Ernst Langthaler / Klaus-Dieter Mulley
Nationalsozialismus in Niederösterreich
Opfer . Täter . Gegner
Nationalsozialismus in den
österreichischen Bundesländern
herausgegeben von Horst Schreiber
im Auftrag von _erinnern.at_
www.erinnern.at
Band 9
Stefan Eminger / Ernst Langthaler / Klaus-Dieter Mulley
Opfer . Täter . Gegner
Editorial
Werner Dreier, Horst Schreiber: Vorwort
Nationalsozialismus in Niederösterreich
Vor dem „Anschluss“
Welche Auswirkungen hat der Erste Weltkrieg?
Wie entsteht das Bundesland Niederösterreich?
Welche Probleme entstehen in der Wirtschaft?
Wie entwickelt sich die politische Lage?
Welche Rolle spielen die Wehrverbände?
Wie gewinnt die NSDAP an Einfluss?
Wie wird die Demokratie ausgeschaltet?
Welche Rolle spielt der Antisemitismus?
Josef Leopold: Erster von Hitler ernannter Gauleiter Niederösterreichs
Julius Kampitsch: Ein Maulwurf in der niederösterreichischen Landesregierung
„Machtergreifung“: Jubel und Angst
Wie kommen die Nationalsozialisten an die Macht?
Wie erleben die Menschen den „Anschluss“?
Wie verfahren die Nationalsozialisten mit ihren GegnerInnen?
Wie wird Niederösterreich zu Niederdonau?
Wie versuchen die Nationalsozialisten ein Gau-Bewusstsein zu schaffen?
Franz Danimann: Zeitzeuge und Aufklärer über die NS-Diktatur
Wilhelm Hanisch: Der feste Glaube an ein „Idealbild des deutschen Volkes“
Hugo Jury: Hitlers Vollstrecker in Niederdonau
NS-Herrschaft: Verlockung und Zwang
Was heißt NS-Herrschaft?
Wie stützen Bürgermeister, Bezirkshauptleute und Landesbeamte den NS-Staat?
Was sind die Aufgaben der NSDAP?
Wie üben Justiz und Gestapo Terror aus?
Welche Rolle spielt die Wehrmacht im Hinterland?
Paul Scherpon: Als Beamter politisch anpassungsfähig
Leopold Schuster: Fanatischer Nationalsozialist und Kreisleiter
Helene Naber-Binder: Von der „illegalen“ zur offiziellen BDM-Führerin
Arbeitswelten: Bauernhof und Rüstungsfabrik
In welche Richtung lenkt der NS-Staat die regionale Wirtschaft?
Wie arbeiten und leben die Menschen in der Landwirtschaft?
Wie arbeiten und leben die Menschen in Gewerbe und Industrie?
Welche Folgen hat die nationalsozialistische Wirtschaftslenkung?
Leopold Leitner: Ein Bergbauer schreibt an den „Führer“
Helene Pawlik: Eine polnische Zwangsarbeiterin am Bauernhof
Rupert Schober: Ein Ortsbauernführer drückt ein Auge zu
Helene Luckinger: Todesangst im Kartoffelkeller
Georg Meindl: Ein Konzernchef im Pakt mit der SS
Srulek Storch: Ein Bub namens „68.818“
Jugendalltag: Begeisterung und Verweigerung
Wie erfasst der Nationalsozialismus die Schuljugend?
Wie mobilisiert die Hitler-Jugend Burschen und Mädchen?
Wie entziehen sich Jugendliche der „totalen Erziehung“?
Elfriede Ecker: Schülerin der „Napola“
Anna Madlmayr: Ein Bauernkind an der „Heimatfront“
Emil Kikinger: Ein „Schlurf“ aus der Provinz
„Volksgenossen“: Gemeinschaftskult und Eigensinn
Wie formt der Nationalsozialismus die Gesellschaft um?
Wie mobilisiert das NS-Regime die Menschen?
Wie organisiert das NS-Regime die alltägliche Versorgung?
Heinrich Fahrngruber: Ein fotografierender Wehrmachtssoldat
Theodor König: Ein Kaufmann als Opfer der „Entjudung“
Anton Binder: Ein „Schwarzschlächter“ vor Gericht
„Gemeinschaftsfremde“: Zurichtung und Vernichtung
Was heißt „gemeinschaftsfremd“?
Wer gilt im NS-Staat als „asozial“?
Welche Maßnahmen werden gegen „Asoziale“ ergriffen?
Wer sind Roma und Sinti?
Wie werden Roma und Sinti im NS-Staat verfolgt?
Was geschieht im Lager Lackenbach?
Adam Milanovicz: Der „Bluthund von Oberlanzendorf“
Franz Haschek: Verfolgt als „Asozialer“
Cäcilia Gruber: Als „Zigeunermischling“ in den Fängen der Gestapo
„Endlösung“: Raubzug und Judenmord
Wie leben Juden und Nichtjuden vor 1938 zusammen?
Wo leben Juden und Jüdinnen in Niederösterreich?
Wie ergeht es der jüdischen Bevölkerung beim „Anschluss“?
Was passiert beim Novemberpogrom?
Was bedeutet „Arisierung“?
Wohin vertreiben die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung?
Was ist unter der „Endlösung“ zu verstehen?
Was wissen die „Volksgenossen“ vom Judenmord?
Familie Zimmer: Mit Wohltätigkeit das Leben der Kinder gerettet
Emmy Katherine Mahler: „Woher kommen plötzlich all diese schrecklichen Menschen?“
Josef Lande: Ein frommer Katholik jüdischer Herkunft
„Euthanasie“: Gesundheitswahn und Krankenmord
Was bedeutet „Euthanasie“ im Nationalsozialismus?
Was versteht man unter „Kindereuthanasie“?
Was geschah bei der „Aktion T4“?
Warum wird die „Aktion T4“ eingestellt?
War der Abbruch der „Aktion T4“ das Ende der NS-Euthanasie?
Waren alle Pflegekräfte willige Vollstrecker der NS-Euthanasie?
Emil Gelny: Der Massenmörder
Emilie Mayer: Pflegerin in Gugging, die sich dem Morden verweigert
Johann Mitterecker: Ein Bub auf dem „Spiegelgrund“
Widerstand: Einzeltat und Gruppenaktion
Was ist Widerstand?
Wie bekämpft das NS-Regime den Widerstand?
Welche Gruppen von organisiertem Widerstand gibt es in Niederösterreich?
Karl Flanner: Widerstandskämpfer im Kommunistischen Jugendverband Wiener Neustadt
Emil Ifkovics und Franz Josef Fröch: Jungkommunisten und Deserteure aus Felixdorf
Stefanie Engler: Mitglied der Provinzkommission der KPÖ
Alois und Stefanie Hanig: Hilfeleistung für Juden durch Taufen
Roman Karl Scholz: Augustiner-Chorherr, Nationalsozialist, Widerstandskämpfer
Anna Goldsteiner: Die Unterstützerin der Schlurfs von Pulkau
Terrorfinale: Regimezerfall und Mordserien
Warum kommt es zu Endphaseverbrechen?
Wie verlaufen die Todesmärsche?
Was geschieht beim Massaker von Stein und Umgebung?
Was passiert beim „Standgericht“ in Schwarzau im Gebirge?
Maria Grausenburger: Unerschrockene Retterin von Verfolgten
Alois Baumgartner: Ein Fanatiker, der seine Kollegen ans Messer liefert
Johann Wallner: Ein skrupelloser HJ-Führer
Nach dem „Umbruch“
Wie verlaufen Kriegsende und Befreiung?
Wie treffen Zivilbevölkerung und Rotarmisten aufeinander?
Warum kommt es zu massenhaften Vergewaltigungen?
Wie erleben Schulkinder das Kriegsende?
Wie verläuft der demokratische Wiederaufbau in Niederösterreich?
Was geschieht mit den (ehemaligen) Nationalsozialisten?
Gibt es eine „Wiedergutmachung“ für die Opfer der NS-Herrschaft?
Wie wird an die NS-Zeit erinnert?
Anton Burger: Ein NS-Täter auf der Flucht
Helene Gruber: Denunziert und verschleppt nach Ostsibirien
Peter Härtling: Das chaotische Leben eines Flüchtlingskinds
Anhang
Begriffe und Personen
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Ortsregister Niederösterreich
Danke
Die Autoren
Die große Geschichte im kleinen Raum erzählen: Damit das gelingen kann, braucht es Autorinnen und Autoren, die in der konkreten Landschaft angesiedelte und mit konkreten Menschen verbundene Geschichten so erzählen können, dass sich in ihnen ein überregionales und überindividuelles Bild der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft abzeichnet. Wie gut dies gelingen kann, zeigt das vorliegende Buch, das die Reihe „Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern“ als neunter Band abschließt.
Die Berichte über Verfolger und Verfolgte, über Gewalt und über Menschlichkeit, die sich an vertrauten Orten ereigneten und welche von Menschen handeln, die vielleicht vertraute Namen tragen, erleichtern die Annäherung an die nur schwer fassbare Geschichte einer mörderisch ausgrenzenden „Volksgemeinschaft“, einer vom rassistischen Überheblichkeitswahn getragenen Eroberungspolitik und von Völkermord. Am Konkreten lässt sich zeigen, welche Hoffnungen und Erwartungen in die großartige völkische Zukunft gesetzt wurden, aber auch wie jämmerlich und von exzessiver Gewalt begleitet das Ende des Tausendjährigen Wahns war.
Stefan Eminger, Ernst Langthaler und Klaus-Dieter Mulley wenden sich auch jenen zu, deren Leben und Leiden gewöhnlich nicht im Mittelpunkt des historischen Interesses und des Gedenkens stehen: den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Landwirtschaft und Industrie etwa oder den als „asozial“ gebrandmarkten und verfolgten Menschen. Das Buch versammelt viele Geschichten, so die des Strulek Storch, der als fünfzehnjähriger KZ-Zwangsarbeiter Stollen für das Rüstungsunternehmen Steyr-Daimler-Puch ausbrach, oder jene der drei Jahre jüngeren Elfriede Ecker, deren Begeisterung für den „Führer“ und die „große“ Zeit in der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt gestärkt wurde und bis ins hohe Alter anhielt. Die Menschengeschichten berichten von Begeisterten und Angepassten, von Widerständigen und Widerstehenden, von Menschen, die zu Opfern, und solchen, die zu Tätern wurden. Es gelingt den Autoren, diese Geschichten in eine erklärende und die regionalen Verhältnisse beschreibende Sozialgeschichte des Landes Niederösterreich während des Nationalsozialismus einzubetten. Das Buch gibt ausreichend Anlass zum Nachdenken: Wie war es möglich, dass Adam Milanowicz, „der Bluthund von Oberlanzendorf“, vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, in kurzer Zeit wieder im Heimatort integriert und Obmann des örtlichen Fußballvereins werden konnte? 2.500 Menschen, ein Drittel der jüdischen Bevölkerung von Niederösterreich, wurden ermordet, nahezu alle anderen vertrieben. Emmy Mahler, konfrontiert mit Nachbarn, die sie in ihrer Wohnung überfielen und beraubten, weil sie sich als „Volksgenossen“ ein Recht zur Ausplünderung der jüdischen Familie nahmen, hält fest: „Es waren Leute wie ich. Heute sind sie wilde Tiere. Ich habe Angst vor jedem Einzelnen von ihnen.“
Wozu diese Geschichten erzählen? Vielleicht um dazu beizutragen, dass niemand mehr Angst vor den Nachbarn zu haben braucht.
Werner Dreier
_erinnern.at_
Reihenherausgeber
Horst Schreiber
Als Ende Oktober des Jahres 1918 in Prag die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wird und in Wien im Niederösterreichischen Landhaus die „Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs“ zusammentritt, glauben am Land nur wenige an den politischen „Umbruch“.1 Die Provinzzeitungen üben sich in Durchhalteparolen. Noch am 10. November 1918, also zwei Tage vor der Ausrufung der Republik im Wiener Parlamentsgebäude, warnt etwa das christlich-soziale „Neue Wochenblatt“ im Viertel unter dem Manhartsberg vor „Betrügern“, die meinten, es gäbe keinen Kaiser mehr: „Wer ein echter Deutscher ist, der bewahrt auch in bösen Zeiten dem angestammten Herrscher Liebe und Treue und jagt zum Teufel, welche mit Lüge und Verleumdung ihre dunklen Geschäfte betreiben.“2 Für die katholische Bevölkerung ist kaum vorstellbar, dass es den Kaiser nicht mehr geben sollte; umso klarer hatten sie vielfach das Feindbild vor Augen: den jüdischen „Kriegsgewinnler“.
Die Nachricht vom politischen „Umbruch“ in Wien verbreitet sich auch am Land wie ein Lauffeuer. Dort hat das harte Regime der Kriegswirtschaft den Ruf der Monarchie zwar arg beschädigt, eine revolutionäre Aufbruchsstimmung gibt es dennoch keine. Die Bauern begeistern sich nicht für die Republik, spontane Kundgebungen finden am flachen Land nicht statt. Die Beendigung des Krieges und der Verzicht des Kaisers auf die Regierungsgeschäfte lassen die Bauern hoffen, endlich von den Fesseln der Ablieferungspflicht befreit zu sein. Die Gräben zwischen Stadt und Land, zwischen Konsumenten und Produzenten, zwischen Arbeitern und Bauern werden noch tiefer, als dies bereits im Krieg der Fall war. Christlichsozial-konservative Politiker, wie der Reichsratsabgeordnete Pfarrer Matthäus Bauchinger, werben bei den Landwirten um Solidarität mit der Stadtbevölkerung. „Der Landwirt“, meint er, „sei auch aus Nächstenliebe schon verpflichtet, für die Ernährung seines deutschen Mitmenschen jedes Opfer zu bringen, wenn es ihm möglich ist, ein größeres Quantum als das Vorgeschriebene abzuliefern, damit wir die kritische Zeit übertauchen können.“3 Die Sozialdemokraten rufen in nahezu jeder Versammlung dazu auf, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Heinrich Schneidmadl aus St. Pölten etwa warnt vor der offenbar verbreiteten Ansicht, „weil kein Kaiser mehr regiert, könne Jeder tun, was er will“.4
Sorge machen vor allem die quer durch das Land in ihre Heimat zurückflutenden tausenden ausländischen Kriegsgefangenen sowie die rund 200.000 heimkehrenden Soldaten aus der Armee des Kaisers. Die jüngeren unter ihnen haben kaum etwas Anderes gelernt als das Kriegshandwerk; ihre Eingliederung in ein ziviles Arbeitsleben stößt insbesondere im städtischen Bereich auf Schwierigkeiten. Die noch fehlende Staatsgewalt führt zu unsicheren Verhältnissen, es häufen sich Plünderungen und Flurdiebstähle. Denn in den Industrieregionen des Landes, vor allem aber in Wien, herrschen Hunger und Not. In ihrer Verzweiflung strömt die Stadtbevölkerung aufs Land, um Lebensmittel gegen Wertsachen einzutauschen oder sonstwie ihr Überleben zu sichern. Vor allem in den stadtnahen Regionen kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen städtischen „Hamsterern“ und Bauern, die für ihre Nahrungsmittel mitunter sehr viel verlangen.
Für Ordnung sorgt neben der örtlichen Gendarmerie eine neue bewaffnete Macht – die „Volkswehr“, gegründet vom sozialdemokratischen Unterstaatssekretär für Heerwesen, Julius Deutsch. Sie soll das Land im Inneren und auch an den Grenzen schützen. Die christlichsozial-katholischen Bauerngemeinden misstrauen diesem republikanischen Heer. Für sie ist die Volkswehr eine „linksgerichtete Organisation“: weil die Mannschaften „Soldatenräte“ bilden, denen kommunistische „Rote Garden“ ebenso eingegliedert werden wie Arbeitslose aus dem Wiener Neustädter Industriegebiet, und es immer wieder zu Konflikten kommt. Vor allem aber, weil die Verwaltung die Volkswehr zu Hilfe ruft, um die Bauern zu zwingen, die vorgeschriebene Menge an Lebensmitteln abzuliefern. Daher gründen die Dorfbewohner Bürger-, Orts- und Bauernwehren. Einige von ihnen bilden später den Kern der niederösterreichischen „Heimatschutzbewegung“. Der geringe Respekt der DeutschösterreicherInnen vor dem Gewaltmonopol des neuen Staates wird zum Geburtsfehler der Ersten Republik.
Niederösterreich ist bis zum Herbst 1918 ein Kronland der k. u. k. Monarchie.5 Wie die Gründung des neuen Staates „Deutsch-Österreich“ erfolgt auch die Schaffung des Landes Niederösterreich im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse. Hier treffen sich am 5. November 88 Abgeordnete des letzten Landtages und 32 niederösterreichische Abgeordnete des Reichsrates. Sie bilden die Provisorische Landesversammlung von Niederösterreich, die Vorläuferin des Landtages, und wählen den Wiener Christlichsozialen Leopold Steiner zum Landeshauptmann. Die Großstadt Wien gehört damals zu Niederösterreich. Die drei Stellvertreter sind Mandatare der drei großen Parteien: der Bauer Johann Mayer aus Bockfließ für die Christlichsozialen, der Krankenkassenbeamte Albert Sever aus Wien für die Sozialdemokraten und der Gastwirt und Postmeister Karl Kittinger aus Karlstein an der Thaya für die Großdeutschen. Sie bilden mit Landeshauptmann Steiner die Provisorische Landesregierung. Doch nach den ersten Landtagswahlen in Niederösterreich unter Beteiligung von Frauen am 4. Mai 1919 steht der Sozialdemokrat Albert Sever – das erste und bisher letzte Mal – an der Spitze des Landes. Die sozialdemokratische Partei beendet die Vorherrschaft der Christlichsozialen in Niederösterreich: Von 120 Mandaten erhält sie 64 Mandate, die Christlichsozialen kommen auf 45, die Deutschnationalen auf 8; drei Mandate gehen an die tschechischen Sozialisten in Wien. Der Erfolg der Sozialdemokraten beruht auf deren Stärke in Wien und in den größeren Provinzstädten; die Christlichsozialen sind fast ausnahmslos im ländlichen Raum siegreich.
Albert Sever bleibt eineinhalb Jahre lang Landeshauptmann von Niederösterreich. Dann erfolgt die Trennung von Wien und Niederösterreich. Die Vertreter des Niederösterreichischen Bauernbundes wollen nämlich verhindern, dass die Sozialdemokratie das Land regiert, die Christlichsozialen der westlichen Bundesländer, dass das bei weitem bevölkerungsreichste Land ganz Österreich dominiert. Niederösterreich wird dadurch wirtschaftlich ärmer und zum Bauernland, in dem sich eine Kleingemeinde an die andere reiht. Die Wiener Sozialdemokratie sieht auch Vorteile in der Trennung. In einem selbstständigen Bundesland Wien ist sie die unangefochten stärkste politische Kraft. Am 30. November 1920 gibt sich das Land Niederösterreich eine eigene Verfassung, am 29. Dezember 1921 wird das Trennungsgesetz beschlossen. Es beendet die jahrhundertealte Einheit von Wien und dem Land Niederösterreich, wo die Wahlen im Frühjahr 1921 die völlig veränderten politischen Verhältnisse offenbaren. Die Christlichsozialen erringen mit dem Bauernbund die absolute Mehrheit mit 32 Mandaten. Die Sozialdemokraten erreichen nur noch 22 Sitze, die Deutschnationalen lediglich sechs.
Am Beginn der Republik ist monatelang nicht klar, wo die Grenzen des Landes, zugleich Staatsgrenzen gegenüber der neuen Tschechoslowakei, verlaufen. Pläne, die deutschsprachigen Gebiete in Südmähren und Teilen Südböhmens an Niederösterreich anzugliedern, scheitern. Tschechoslowakische Truppen besetzen im Dezember 1918 Znaim und andere Gebiete Südmährens. Die Regierung in Prag erhebt sogar Anspruch auf Grenzgebiete des Wald- und Weinviertels. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zwischenfällen; zeitweilig sind Grenzorte wie Hohenau an der March oder Rabensburg von tschechischen Soldaten besetzt. Klarheit schafft erst der Vertrag von Saint Germain-en-Laye, der am 20. Juli 1920 in Kraft tritt. Das Land Niederösterreich verliert Gebiete um Feldsberg (Valtice) und bei Gmünd mit insgesamt 18.600 Menschen an die Tschechoslowakei.
1918 zerfällt die Monarchie, an ihre Stelle treten Nationalstaaten. Diese Entwicklung verwandelt Niederösterreich fast über Nacht in ein Grenzland. Die neuen Staaten, wie die Tschechoslowakei und Ungarn, machen ihre Grenzen dicht und heben Zölle ein. Niederösterreich ist nicht länger Teil eines riesigen, arbeitsteiligen Wirtschaftsraumes, es muss auf eine kleinräumige Wirtschaft umstellen.6
In der Landwirtschaft gelingt dies, die Produktion erreicht 1925 das Vorkriegsniveau, besonders die Zuckerproduktion im Osten des Landes erlebt einen beachtlichen Aufschwung. Die Ausbeutung slowakischer SaisonarbeiterInnen hat daran großen Anteil. Das Problem sind die enormen Unterschiede zwischen den Betrieben in wohlhabenderen und armen Regionen. Die „Körndlbauern“ in der Ebene, so im Marchfeld, sichern die Nahrungsmittelversorgung. Sie nutzen ihre Wirtschaftskraft, um politisch Einfluss zu üben: im Bauernbund und auf die Landesregierung, wo die großen Landwirte ihre Interessen durchzusetzen wissen. Im Gegensatz dazu ringen die Höfe in den Ungunstlagen des Waldviertels und im alpinen Süden des Landes um ihre Existenz. In der Industrie gibt es zwar Erfolge. Im Raum St. Pölten erleben die Maschinenfabrik Voith AG und die Glanzstoffwerke einen Aufschwung, die Berndorfer Metallwarenfabrik erwirbt sich internationales Ansehen. Doch der für Niederösterreich so bedeutenden Eisen- und Metallbranche und der nicht minder wichtigen Rüstungsindustrie gelingt die Umstellung auf Friedensproduktion und auf die Bedürfnisse eines Kleinstaates nur wenig. Die Arbeitslosigkeit bleibt daher stets überdurchschnittlich hoch, auch die Zahl der „Ausgesteuerten“. Diese Arbeitslosen erhalten kein Arbeitslosengeld mehr und sind auf Almosen der Fürsorge und privater wie kirchlicher Organisationen angewiesen.
Als sich in der Bevölkerung schon Zuversicht breitmacht, bricht 1929 die Weltwirtschaftskrise aus. In kurzer Zeit sinkt die Industrieproduktion österreichweit um mehr als ein Drittel, der Staat muss mit viel Geld die größte Bank der Republik, die Creditanstalt für Handel und Gewerbe, vor der Pleite bewahren. In Niederösterreich bricht die Metall-, Maschinen- und Textilindustrie ein. Im Raum Wiener Neustadt sind 60 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Arbeit, Tausende Familien stehen vor dem Nichts. Dem Tourismus geht es nicht besser. 1928 hatte Niederösterreich noch so viele Fremdenbetten wie Kärnten und Tirol zusammen. Doch in der Krise reisen die Menschen nicht mehr, die Nächtigungszahlen fallen ins Bodenlose.
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nimmt die Arbeitslosigkeit zwar ab, doch sie bleibt hoch. Die österreichische Regierung spart. Ein ausgeglichenes Budget ist ihr wichtiger als Investitionen. Ein Anschluss Österreichs an Deutschland scheint vielen Menschen attraktiv.
Die politische Kultur in Niederösterreich ist von vier maßgeblichen Faktoren geprägt:7 Erstens lebt in den zahlreichen Klein- und Kleinstgemeinden der ländlichen Regionen eine katholisch-konservative Bevölkerung, die politisch überwiegend christlichsozial eingestellt ist. Die Ortspfarrer haben erheblichen Einfluss auf die Ansichten und Meinungen der DorfbewohnerInnen, die zahlreichen katholischen Vereine dienen der Christlichsozialen Partei als Vorfeldorganisationen. Ein weit verzweigtes landwirtschaftliches Genossenschaftswesen bindet die Bevölkerung an den christlichsozial orientierten NÖ Bauernbund, der stets den Landeshauptmann stellt.
Zweitens haben seit Ende des 19. Jahrhunderts ArbeiterInnen in den industriellen, suburbanen Zentren im Umkreis von Wien, im Wiener Becken, im Traisen- und Ybbstal und entlang der Westbahnstrecke zahlreiche Arbeitervereine gegründet und eine Arbeiterkultur entwickelt. Diese Regionen gelten ebenso als sozialdemokratische „Hochburgen“ wie die von Eisenbahnern dominierten Gemeinden entlang der wichtigsten Bahnlinien. Zudem stützt sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei auf ihre dominante Stellung in den Gewerkschaften.
Drittens prägt in den kleinen Bezirksstädten ein ehemals liberal-freisinniges, jedenfalls aber betont deutschnational eingestelltes Bürgertum das öffentliche Leben. Diese Gewerbetreibenden, Beamten, Lehrer und Freiberufler bilden ein lose verbundenes „völkisch-deutschnationales“ Milieu. Sie treffen sich im „Deutschen Turnverein“, im „Schulverein Südmark“, in schlagenden Burschenschaften oder „Akademischen Tafelrunden“. Politisch fühlen sie sich zunächst der „Großdeutschen Volkspartei“, später auch dem Landbund und der NSDAP zugehörig.
Viertens wird die politische Kultur des Landes Niederösterreich durch die Bundeshaupt- und Großstadt Wien geprägt. Ungeachtet der Trennung 1922 übt Wien als wirtschaftliches, kulturelles und politisches Zentrum weiterhin eine beträchtliche Sogwirkung auf sein Umland aus. SchülerInnen, Studierende, Wirtschaftstreibende, Kulturschaffende und Arbeitssuchende zieht es vom Land in die Großstadt. Umgekehrt strahlt Wien auf Niederösterreich aus.
Die Kräfteverhältnisse zwischen den drei politischen Lagern sind bis 1932 relativ stabil. Die Christlichsozialen dominieren und erreichen bei Landtagswahlen stets die absolute Mehrheit. Die Sozialdemokraten kommen immer auf mehr als ein Drittel der gültigen Stimmen, die Parteien der betont Deutschnationalen erreichen zusammen etwa 15 Prozent. Die politische Kultur im Land ist durchtränkt von Antisemitismus. Alle bürgerlichen Parteien haben die Judenfeindlichkeit in ihren Programmen verankert; im politischen Tageskampf bedienen sich bisweilen auch die Sozialdemokraten antisemitischer Stereotypen.
Die Landtagswahl im April 1932 deutet Veränderungen an. Die Christlichsozialen verlieren zwar nur leicht, büßen aber ihre absolute Mehrheit ein. Sie kommen jetzt auf 28 Mandate. Das ist genau die Hälfte aller Sitze. Auch die Sozialdemokraten müssen kleinere Verluste hinnehmen (20 Mandate). Starke Veränderungen spielen sich innerhalb des betont deutschnationalen Segments ab. Hier gelingt es der NSDAP, fast alle Stimmen aufzusaugen. Die Nationalsozialisten erreichen 14 Prozent und acht Mandate, während die Großdeutsche Volkspartei auf 2 Prozent abstürzt und aus dem Landtag ausscheidet. Im Vergleich zu Wien und Salzburg, wo gleichzeitig ebenfalls Landtagswahlen stattfinden, ist der Sieg der Nationalsozialisten in Niederösterreich weniger deutlich ausgefallen. In Wien kommt die NSDAP auf 17 Prozent, in Salzburg auf 21 Prozent der gültigen Stimmen.
Obwohl im Landtag eher ein Klima der Zusammenarbeit herrscht, sind Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern auf lokaler Ebene häufig. Private Wehrverbände heizen diese Konflikte an.8 Aus den „Bürgerwehren“ der unmittelbaren Nachkriegszeit entstehen auch in Niederösterreich militante „Heimatschutz“-Formationen. Die Sozialdemokratie gründet 1923 den „Republikanischen Schutzbund“, der ihre Veranstaltungen schützen sollte. Es ist eines der größten politischen Versäumnisse der Ersten Republik, dass es nie zu einer Abrüstung dieser Wehrverbände kommt. Aus parteipolitischem Kalkül unterlassen es die bürgerlichen Regierungen, das Gewaltmonopol des Staates zu schützen.
Die Auseinandersetzungen beim Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 mit 89 Toten markieren einen dramatischen Einschnitt in der Geschichte der Wehrverbände. Die strikt antisozialdemokratischen und zunehmend antidemokratischen Heimwehren erleben jetzt einen spektakulären Aufschwung. Doch sie sind zerstritten. Betont deutschnational orientierte Formationen stehen gegen eher christlichsozial orientierte Gruppen um Julius Raab und dem Bauernbund. Der letzte gemeinsame Akt ist die Ableistung des antidemokratischen „Korneuburger Eides“ am 18. Mai 1930. Der Skandal ist perfekt, denn neben Raab leisten auch Landeshauptmannstellvertreter und Bauernbundobmann Josef Reither sowie andere christlichsoziale und großdeutsche Mitglieder des Landtages den Schwur. Kurz darauf bricht die Heimwehr in Niederösterreich auseinander. Ihre große Zeit ist zwar vorüber, doch hat sie antidemokratische, teils auch faschistische Einstellungen weit über ihre Anhänger hinaus verbreitet, die Militarisierung der Bevölkerung vorangetrieben und als Sammelbecken für ehemalige und zukünftige Nationalsozialisten eine wichtige Rolle gespielt. Insbesondere Heimwehrleute der betont deutschnationalen Richtung landen in den frühen 1930er Jahren bei der NSDAP; allen voran der spätere NS-Gauleiter und Reichsstatthalter in Niederdonau, Hugo Jury.
Die Wurzeln der NSDAP reichen zurück in die Nationalitätenkämpfe der Habsburgermonarchie in den deutschsprachigen Gebieten Böhmens.9 In einer Turnhalle in Aussig (Ústí nad Labem) schließen deutschvölkisch gesinnte Männer 1903 mehrere deutsche Arbeitervereine zusammen und gründen die „Deutsche Arbeiterpartei“ (DAP). Sie wenden sich gegen Kapitalismus, Klerikalismus und den „Internationalismus“ der sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaftsbewegung.
Die Partei hat ihren Rückhalt in Deutsch-Böhmen, kann ihren Einfluss vereinzelt aber auch auf deutschnationale Gewerkschaften in Niederösterreich ausdehnen. Sie trifft auf die erbitterte Gegnerschaft der Sozialdemokraten, die der DAP vorwerfen, die Interessen der ArbeiterInnen zu verraten und mit Industriellen zu kooperieren.10 Im Frühjahr 1918 benennt sie sich um in „Deutsche nationalsozialistische Arbeiterpartei“ (DNSAP).
Die DNSAP spricht vor allem Handlungsgehilfen und kleine Angestellte der Post- und Bahnverwaltung an.11 Bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 erreicht sie in Niederösterreich (ohne Wien) magere 2.695 Stimmen (0,4 Prozent). Die Partei ist am ehesten im Waldviertel erfolgreich, wo sich wirtschaftliche Rückständigkeit mit der antisemitisch-deutschvölkischen Tradition eines Georg Ritter von Schönerer verbindet. Bei den Nationalratswahlen 1920 erreichen die Nationalsozialisten in Niederösterreich 9.934 Stimmen (1,5 Prozent). Im Waldviertel holen sie die Hälfte aller Stimmen, in Gmünd werden sie nach den Sozialdemokraten sogar zweitstärkste Partei.
In Deutschland hat sich unterdessen 1919 eine „Deutsche Arbeiterpartei“ gegründet, die sich ab 1920 NSDAP nennt und bald Adolf Hitler untersteht. Es kommt zu engen Kontakten mit der österreichischen DNSAP. In den frühen 1920er Jahren tritt Hitler bei Versammlungen in Niederösterreich auf, etwa in St. Pölten, Krems und Gmünd.
Nach internen Streitigkeiten tritt der Wiener Postgewerkschafter Karl Schulz an die Spitze der österreichischen NS-Partei, die man in der Folge auch als „Schulz-Gruppe“ bezeichnet. Sie kandidiert 1924 in Niederösterreich bei den Gemeinderatswahlen und kann in 49 der insgesamt etwa 1.700 Gemeinden Mandate erringen. Die deutsche NSDAP unter Adolf Hitler nimmt immer mehr Einfluss auf die österreichischen Nationalsozialisten, deren Partei sich bald ebenfalls NSDAP nennt. Es kommt zur Abspaltung einer noch radikaleren, hitlertreuen „Kremser Clique“, die eine kompromisslose, putschistische Strategie verfolgt und Wahlbündnisse mit anderen Parteien strikt ablehnt. Sie nimmt 1926 den Zusatz „Hitlerbewegung“ in ihren Parteinamen auf und wirbt mit zunehmendem Erfolg in den eher demokratisch, sozial-national orientierten Ortsgruppen der „Schulz-Gruppe“.
Bei den Nationalrats- und Landtagswahlen im April 1927 kandidiert die Hitlerbewegung auf einer eigenen Liste als „Völkisch-sozialer Block“ (im Weinviertel als NSDAP), während die „Schulz-Gruppe“ ein Wahlbündnis mit der „Einheitsliste“ der Christlichsozialen und Großdeutschen eingeht und bald von der politischen Bildfläche verschwindet. Die Hitlerbewegung erreicht bei den Nationalratswahlen in Niederösterreich 8.620 Stimmen (1,1 Prozent). Deutlich überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt sie in den politischen Bezirken Krems und Gmünd. Im August ernennt Hitler den vormaligen NS-Kreisleiter des Waldviertels und Hauptmann des Bundesheeres, Josef Leopold, zum „Gauleiter für Niederösterreich“.
Bei den Nationalratswahlen 1930 kann die NSDAP in Niederösterreich mit 34.307 Stimmen (4 Prozent) ihre Wähleranzahl gegenüber 1927 nahezu vervierfachen. Der rasante Aufstieg der NSDAP in Deutschland wirkt stimulierend. Mit radikalem Antisemitismus, aggressiven Werbemethoden und durch gewaltsame Zusammenstöße mit politischen Gegnern macht die NSDAP auf sich aufmerksam. Entscheidend ist, dass die NS-Propaganda nun immer mehr auch von Persönlichkeiten verbreitet wird, die in den Städten, Märkten und Dörfern über einiges Ansehen verfügen, wie etwa Akademiker, Lehrer oder wohlhabendere Gewerbetreibende.
Das zeigt sich eindrucksvoll bei den niederösterreichischen Landtagswahlen vom April 1932. Mit 110.808 Stimmen (14 Prozent) schafft die NSDAP den Sprung von der Klein- zur Mittelpartei. Die Nationalsozialisten holen acht Mandate und stellen mit ihrem Anführer Josef Leopold nun auch einen Landesrat in der Landesregierung. Die NSDAP gewinnt große Teile des deutschnationalen Wählerpotentials (Großdeutsche, Landbund, Heimatblock). Nach wie vor findet sie in der christlichsozial orientierten Bauernschaft und in der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft wenig Unterstützung. Auch bei den nachfolgenden Gemeinderatswahlen, die noch bis Mai 1933 abgehalten werden, kann die NSDAP kräftig zulegen. In Stein, Krems, Zwettl, Gmünd und einigen kleineren Gemeinden des Waldviertels stellt sie sogar den Bürgermeister.
Im Landtag machen die Nationalsozialisten kein Hehl aus ihren Absichten. Ihr Landesrat und „Gauleiter“ Josef Leopold lehnt das demokratische Gremium ab und erklärt umgehend: „Wir kämpfen nicht um Parlamentssitze, die Mandate sind für uns das Mittel zur Eroberung der deutschen Freiheit, die ihr System in den 13 Jahren der Nachkriegszeit Stück für Stück dem überstaatlichen, jüdischen Weltbankkapital ausgeliefert hat. (…) Das Haus selbst lehnen wir grundsätzlich ab (…).“12
Nach der Ausschaltung des Parlaments durch Kanzler Engelbert Dollfuß Anfang März 1933 intensiviert die NSDAP ihre Aktivitäten auf der Straße. Als in Krems am 19. Juni 1933 Mitglieder der SA einen Handgranatenüberfall auf christlich-deutsche Turner verüben, bei dem es einen Toten und 17 Schwerverletzte gibt, wird die NSDAP verboten. Sie verliert auch alle Mandate in der Landesregierung, im Landtag und in den Gemeinderäten.
Auf die härtere Gangart des Dollfuß-Regimes reagiert die illegale NSDAP mit einer beispiellosen Terror- und Propagandawelle. Bis Mitte 1934 verüben NS-Aktivisten unzählige Anschläge auf Bahnlinien, Telegrafenmasten, Häuser und Anschlagkästen der christlichsozialen und der sozialdemokratischen Partei. Eine Flut von NS-Flugblättern überschwemmt das Land, auf die Straßen werden aus Papier gestanzte Hakenkreuze gestreut, Häuser, Plakatwände, Fabriksschlote und Züge mit Parolen beschmiert. Es sind meist Angehörige der Hitler-Jugend sowie arbeitslose Aktivisten der SA, die oft mit Wissen der deutschvölkisch eingestellten Honoratioren in den Ortschaften jenen NS-Terror verbreiten, der parteiintern den Zusammenhalt der illegalen Organisation stärken und nach außen die Botschaft platzieren soll: Wir sind die kommende Macht. Den entscheidenden Umschwung zugunsten der Nationalsozialisten bringt Schuschniggs außenpolitische Kursänderung durch das Juliabkommen 1936. Da dieser die Unterstützung Italiens verloren hat, muss er sich um ein besseres Verhältnis zu Hitler-Deutschland bemühen und den heimischen Nationalsozialisten Zugeständnisse machen. Auch in Niederösterreich soll mit vermeintlich „gemäßigten“ Nationalsozialisten ein „Ausgleich“ erfolgen.
Auf diese Weise gewinnen Nationalsozialisten an Bedeutung, die beim „Anschluss“ 1938 und zum Teil auch danach zentrale Rollen im NS-Regime spielen werden: etwa Julius Kampitsch, der 1934 als Mitglied des Heimatschutzes in die Landesregierung aufgenommen wird und bald zur NSDAP wechselt; der Gauleiter der NSDAP Niederösterreichs, Roman Jäger, der St. Pöltner Lungenfacharzt Hugo Jury, der ab Mai 1938 Gauleiter der NSDAP und Reichsstatthalter werden soll, oder der spätere NS-Bürgermeister von St. Pölten Emmo Langer. Schrittweise kaltgestellt wird hingegen Josef Leopold, der an der revolutionär-putschistischen Strategie festhält.
Am 4. März 1933 nutzt Kanzler Engelbert Dollfuß, ein Agrarfunktionär aus Niederösterreich, eine Geschäftsordnungspanne des Nationalrates und schaltet das Parlament aus.13 Seine niederösterreichischen Parteifreunde tragen diesen Schritt mit. Im Haus von Landeshauptmann Karl Buresch in Groß-Enzersdorf, gleichzeitig Klubobmann der Christlichsozialen Partei, vereinbart die Regierungsspitze am 5. März 1933, „daß nunmehr für einige Zeit autoritär regiert werden müßte, (…)“.14
Die Bundesregierung handelt in der Folge auf der Grundlage einer Notverordnung und setzt klare Schritte in Richtung Diktatur: Vorzensur oppositioneller Zeitungen, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote, Einschränkung des Streikrechts, Auflösung des Republikanischen Schutzbundes, Verbot der KPÖ, dann der NSDAP. Im Herbst eröffnet die Regierung das Anhaltelager Wöllersdorf, in dem bis 1938 Tausende Regimegegner aus ganz Österreich festgehalten werden.15
Im Landtag bleibt das kompromissorientierte Klima zwischen den christlichsozialen Bauernbündlern und den Sozialdemokraten zwar erhalten, dennoch wird am 12. Februar 1934 auch in Niederösterreich gekämpft.16 Obwohl die Parteispitze der niederösterreichischen Sozialdemokratie buchstäblich bis zur letzten Sekunde versucht, Gewalt zu vermeiden, schließen sich Teile der Parteibasis dem Aufstand des illegalen Republikanischen Schutzbundes an. In Mödling und Neunkirchen, im Traisen-, Ybbs- und Gölsental sowie in St. Pölten kommt es zu teils heftigen Kämpfen. Der Aufstand bricht bald zusammen, zurück bleiben in Niederösterreich 15 Tote. Dollfuß demonstriert Härte. Die Sozialdemokratische Partei und alle ihre Vereine werden aufgelöst, sämtliche Mandate der Sozialdemokraten auf Landes- und Gemeindeebene aberkannt. In St. Pölten verurteilt ein Standgericht die Schutzbündler Alois Rauchensteiner und Johann Hoys zum Tod. Die beiden werden am 16. Februar hingerichtet.
Die Gräben in der niederösterreichischen Gesellschaft vertiefen sich. Den Kampf gegen drei in die Illegalität gedrängte politische Gruppierungen (SDAP, KPÖ, NSDAP), die zusammen gut die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren, kann das Regime nicht gewinnen.
Antisemitismus heißt in der öffentlichen Debatte ganz allgemein Feindschaft gegenüber Juden und Jüdinnen.17 Der Begriff umfasst sämtliche Formen von Hass und Vorurteilen gegen Juden, unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext. In den Geschichtswissenschaften hingegen wird der Begriff von der älteren Judenfeindschaft abgegrenzt. Antisemitismus steht für die moderne Judenfeindlichkeit, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Rassismus verbindet. Dennoch hat dieser moderne Antisemitismus weit in die Vergangenheit zurückreichende Wurzeln. Er knüpft an die jahrhundertealte Judenfeindlichkeit der christlichen Kirchen an, geht aber über diese hinaus. Denn der Antisemitismus argumentiert rassistisch. Jude oder Jüdin zu sein, ist nicht mehr bloß eine Frage der Religion, also von Kultur, sondern eine Angelegenheit von Herkunft und Biologie, also von Natur. Antisemiten schreiben Juden und Jüdinnen pauschal bestimmte körperliche Eigenschaften wie auch spezifische Verhaltens- und Denkweisen zu und behaupten, dass diese „den Juden“ angeboren seien.
Hintergrund des rassistischen Antisemitismus sind neue Probleme in der Mehrheitsgesellschaft. Diese lösen Unsicherheiten und Ängste aus, die von Antisemiten benützt werden, um Juden und Jüdinnen als Schuldige und deren Beseitigung als Lösung der Probleme zu präsentieren. Komplexe Entwicklungen und Sachverhalte werden auf diese Weise vereinfacht und auf eine vermeintliche Ursache zurückgeführt.
Der moderne, rassistische Antisemitismus tritt auch in Niederösterreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt in Erscheinung. Er wendet sich insbesondere gegen die 1867 in den Staatsgrundgesetzen der Habsburgermonarchie erlassene Gleichstellung von Juden mit Nichtjuden und macht „die Juden“ für alle negativen Begleiterscheinungen der Modernisierung verantwortlich. Die Bankiersfamilie Rothschild, die auch in Wien eine Niederlassung betreibt, wird zur bevorzugten Projektionsfläche antisemitischer Mythen. Nach dem Massensterben im Ersten Weltkrieg, das völkische Ideologen als lebensbedrohlichen Aderlass am deutschen „Volkskörper“ deuten, nimmt der Antisemitismus an Schärfe zu.
Der Antisemitismus findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen in fast allen politischen Parteien und in deren Vorfeldorganisationen. Die Ausgrenzung von Juden und Jüdinnen durch einen latenten, in der Gesellschaft und im Alltag gepflegten Antisemitismus wird lange vor dem „Anschluss“ 1938 möglich gemacht.
Träger und Sprachrohr des modernen Antisemitismus ist in Niederösterreich zunächst die so genannte deutschvölkische Bewegung.18 Sie besteht vor allem aus akademischen, deutschnationalen Burschenschaften und Turnvereinen und findet in Georg Ritter von Schönerer einen einflussreichen Agitator. Kennzeichen dieser Bewegung ist ein radikaler, antiklerikaler, antisemitisch-rassistischer, später auch antimarxistischer Deutschnationalismus, der „das Volk“ als Nation nach biologischen Merkmalen zu definieren sucht.
Der 1842 in Wien geborene Schönerer lebt seit 1869 im Schloss Rosenau im Waldviertler Kamptal. Er erwirbt sich dort den Ruf eines leutseligen, freigiebigen Gutsherrn, der Feuerwehren, Volksbüchereien und zahlreiche soziale Projekte unterstützt. Grundpfeiler seiner politischen Agitation ist schon bald der Antisemitismus. Er tritt gegen die Einwanderung russischer Juden auf, die vor Pogromen auf der Flucht sind, und will „die Juden“ in Gettos sperren. Den Antisemitismus feiert er als „die größte nationale Errungenschaft dieses Jahrhunderts“. Nachdrücklich betont er den rassistischen Charakter seiner Judenfeindschaft: „Unser Antisemitismus richtet sich nicht gegen die Religion, sondern gegen die Rasseeigentümlichkeiten der Juden, die sich weder unter dem früheren Drucke, noch unter der jetzigen Freiheit geändert haben (…).“19
Wenn auch Schönerers Anhängerschaft außerhalb des Waldviertels überschaubar bleibt, so hat seine rassistisch-antisemitische Agitation dennoch großen Einfluss auf die deutschnationale Presse und auf das Vereinswesen. Der von ihm geförderte „Bote aus dem Waldviertel“ (1878–1922) bringt in jeder Ausgabe antisemitische Artikel, die der späteren nationalsozialistischen Agitation um nichts nachstehen. Unterstützung findet Schönerer auch in der von seinem glühenden Anhänger Josef Faber seit 1883 in Krems herausgebrachten „Österreichischen Land-Zeitung“. Diese heißt seit 1939 „Donauwacht“. Als offizielles Nachrichtenorgan der NSDAP ist die „Donauwacht“ ein direktes Bindeglied zwischen dem Rassismus Schönerers und der NS-Ideologie.
Der rassistische Antisemitismus durchzieht in unterschiedlicher Ausprägung sämtliche Vereine, die sich zum völkischen Deutschnationalismus bekennen. In den kleinen Provinzstädten Niederösterreichs sind es überwiegend Teile des Mittelstandes, die in diesen Organisationen ihr antisemitisches Gedankengut pflegen. Während die deutschvölkischen Turnvereine mehrheitlich bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts keine Juden aufnehmen, führen die Männergesangsvereine von Amstetten und St. Pölten den „Arierparagraphen“ seit Anfang der 1920er Jahre in ihren Statuten.
Rassistisch-antisemitische Tendenzen treten seit der Jahrhundertwende auch im entstehenden katholisch-christlichsozialen Lager in Erscheinung. Sie knüpfen an den Antisemitismus des populären christlichsozialen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger an und gewinnen zu Beginn der Ersten Republik an Gewicht. Bereits 1904 veröffentlicht das „Deutsch-christlichsociale Organ zur Vertretung der Interessen des politischen Bezirkes Mödling“ einen Leitartikel, der viel von der späteren nationalsozialistischen Agitation vorwegnimmt: „Die Merkmale der jüdischen Rasse sind doch so offenkundige, dass es wahrlich keines besonderen Scharfblickes bedarf, einen Juden auf seine Rassenabstammung zu erkennen; wer jedoch trotz dieser durch das Auge vermittelten Erkennbarkeit nicht zu dem richtigen Begriff kommt, der möge seiner Nase vertrauen, sie wird ihm den in seiner Nähe befindlichen Juden mit ziemlicher Bestimmtheit verraten und wenn auch dieser Sinn im Stich lassen sollte, der wird aus dem frechen Benehmen der betreffenden Person, das eben so frech ist, dass es ebenfalls ein besonderes Merkmal der jüdischen Rasse bildet, mit unfehlbarer Sicherheit auf die jüdische Abstammung schließen können.“20
Insbesondere vor Wahlen verknüpfen die Christlichsozialen Angriffe auf die Sozialdemokratie mit antisemitischen Parolen. So rufen sie 1919 zur Mobilisierung für den „schärfsten Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr“ auf,21 und im „Bauernbündler“, der meistgelesenen Zeitung Niederösterreichs und offizielles Organ des Bauernbundes, wird die Sozialdemokratie als „Judenschutztruppe“ dargestellt: „Unter Patronanz der Sozialdemokraten schreitet die Verjudung auch der öffentlichen Ämter unheimlich vorwärts. Die Führer sind grossteils jüdischer Nation. Die Redakteure sind Juden. Das macht jeden Einsichtsvollen kopfscheu.“22