Viele Dichter wurden von wahren Geschichten zu ihren Gedichten inspiriert, meist von historischen oder sensationellen Begebenheiten, manchmal von eigenen Erlebnissen, und dabei ging’s fast immer um Liebe – wie zum Beispiel bei Heinrich Heine.
»Ein Jüngling liebt ein Mädchen« – so beginnt eines seiner bekanntesten Gedichte. Viele können es auswendig aufsagen, doch kaum einer weiß: Heinrich Heine ist der Jüngling im Gedicht, das Mädchen seine geliebte Kusine Amalie, und die war tatsächlich in eine Liebelei mit drei Männern verstrickt! Auf der Strecke blieb der Dichter. Eine traurige Geschichte, ein trauriges Gedicht, erfrischend daran ist nur, dass sich Heinrich Heine deswegen eine flotte Prügelei geliefert hat auf dem Jungfernstieg in Hamburg. Das allerdings ist nicht im Gedicht zu lesen, wohl aber in der Geschichte dazu.
Hier noch zwei weitere Beispiele im Zeitraffer:
Der Tyrannenmord auf Sylt: Henning Pogwisch, der Tyrann, hat tatsächlich gelebt, hat die Fischer auf der Insel ausgeplündert, gedemütigt, gehenkt. Detlev von Liliencron dichtete dazu seine Ballade »Pidder Lüng« und bot im Showdown das wohl bizarrste Mord-Szenario der deutschen Literatur.
Die Baderstochter Agnes Bernauer wurde von Bayernherzog Albrecht III. geliebt, geheiratet, von ihrem Schwiegervater als Hexe verurteilt und im Jahre 1435 ertränkt. Ein unbekannter Dichter schrieb darüber eine der schönsten Volksballaden, die lange Zeit auf Jahrmärkten vorgetragen wurde.
In jedem der 26 Kapitel dieses Buchs wird zuerst die Geschichte erzählt und dann das dazugehörige Gedicht gegenübergestellt.
Dank der unmittelbaren Verbindung von Wahrheit und Dichtung gewinnen wir Einblicke in die Ideenwelt der Dichter. Wir können beobachten, wie Dichter sich von einer wahren Geschichte inspirieren lassen, wie sie die Fakten schöpferisch verarbeiten, wie sie sich den gegebenen Tatsachen mehr oder weniger anschmiegen, wie sie aber auch mit dem Recht der dichterischen Freiheit von der Wirklichkeit abweichen und damit ihr Werk dynamisieren, pointieren, nach eigener Meinung interpretieren.
Ein berühmtes Beispiel dichterischer Freiheit bot Theodor Fontane in »John Maynard«, seiner Ballade vom Wettrennen mit dem Tod. Er hielt sich weitgehend an die in alten Zeitungsberichten überlieferte Story, verdrehte aber eine Tatsache glattweg ins Gegenteil. Ein Geniestreich – wie gleich im nächsten Kapitel zu lesen ist. Viel Spaß dabei!
Walter Hansen