An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Menschen bedanken, die dieses Buch ermöglicht haben. Neben den vielen Fotografen und Sportlern, die ihr Fotomaterial und Wissen bereitgestellt haben, gilt dies vor allem für die Landesarbeitsgruppe Parkour in NRW des Westfälischen und Rheinischen Turnerbundes, die bei der Konzeption und der Erstellung der Inhalte entscheidend beteiligt war.
Des Weiteren gilt ein besonderer Dank dem Deutschen Turner-Bund e.V. (DTB), der dieses Werk in die Wege geleitet und finanziell unterstützt hat.
Hinweise
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschlossen, durchgängig die männliche (neutrale) Anredeform zu nutzen, die selbstverständlich die weibliche mit einschließt.
Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch vorgestellten Informationen resultieren, Haftung übernehmen.
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WO SPORT SPASS MACHT
DAS GROSSE THEORIE- UND PRAXISBUCH
MIT VIDEOS
Parkour
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© 2021 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen
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Gesamtherstellung: Print Consult GmbH, München
ISBN 978-3-8403-7754-9
eISBN 978-3-8403-3780-2
E-Mail: verlag@m-m-sports.com
www.dersportverlag.de
Einleitung
Zielsetzung und Selbstverständnis des Buchs
Teil 1: THEORIE
1Geschichte und Definitionen
1.1Die „méthode naturelle“
1.2Aus Wald wird Stadt: Die Familie Belle
1.3Vom Kinderspiel zu Schweiß und Blut
1.4Die Yamakasi
1.5Großbritannien, James Bond und YouTube®: Die Verbreitung von Parkour
1.6Parkour heute
1.7Definitionen
1.7.1L’art du déplacement
1.7.2Parkour
1.7.3FreeRunning
1.7.4Definition für die Lehre
2Philosophie und Werte
2.1Die Werte im Parkour
2.2Ein Wertemodell
2.3Die Werte in der Praxis
3Community und Szene
3.1Parkour: Ein Lebensstil
3.2Die Organisation der Parkour-Szene
3.3Szenetreffen
4Rahmen und Ziele der Parkour-Lehre
4.1Lernziele und Kompetenzbereiche
4.1.1Lernziele im Breiten- und Freizeitsport
4.1.2Lernziele in der therapeutischen Anwendung
4.1.3Parkour im Schulsport
4.2Rahmenbedingungen
4.2.1Der Versicherungsschutz
4.2.2Die Zielgruppe
4.2.3Indoor vs. outdoor
4.2.4Allgemeine Risikobewertung
5Grundlagen des sportlichen Trainings
5.1Die Leistungsfähigkeit
5.2Konditionelle Fähigkeiten
5.2.1Die Kraftfähigkeit
5.2.2Die Ausdauerfähigkeit
5.2.3Die Schnelligkeit
5.2.4Die Beweglichkeit
5.3Koordinative Fähigkeiten
5.4Körperliche Anpassung: Das sportliche Training
5.5Strukturierung einer Trainingseinheit
5.5.1Die Erwärmung
5.5.2Der Hauptteil
5.5.3Der Schluss
6Grundlagen der Bewegungsvermittlung
6.1Die Aufgaben eines Trainers
6.2Grundlagen der Gruppenführung
6.2.1Allgemeine Organisation
6.2.2Kommunikation
6.2.3Rituale
6.2.4Differenzierung
6.3Grundlagen der Bewegungsvermittlung
6.3.1Der Weg zur Zielbewegung: Induktives vs. deduktives Lernen
6.3.2Die Aufbereitung der Zielbewegung: Ganzheits- vs. Teillernmethode
6.3.3Spielen, statt zu üben? Deliberate Practice vs. Deliberate Play
6.3.4Die Aufmerksamkeit steuern: Internaler vs. externaler Fokus
6.3.5Unterstützung ist vielfältig: Lernhilfen
6.3.6Feedback: Regeln der Bewegungskorrektur
7Biomechanik und Bewegungsverständnis
7.1Das Bewegungssehen
7.2Grundlagen der Biomechanik
7.2.1Kräfte
7.2.2Bewegung
7.2.3Der Körperschwerpunkt
7.2.4Biomechanik in der Praxis
8Bevor es losgeht
Teil 2: PRAXIS
9Warm-up: Übungen und Spiele
9.1Der Mobilisationszirkel
9.2Spiele für den Kreislauf
9.3Fokus!
10Hauptteil: Bewegungsfelder und Techniken
10.1Bewegungsfeld 1: Balancieren
10.2Bewegungsfeld 2: Springen und Landen
10.2.1Der Präzisionssprung
10.2.2Die Vier-Punkt-Landung
10.2.3Das Abrollen
10.2.4Das Antesten
10.3Bewegungsfeld 3: Überwindungssprünge
10.3.1Überwindungssprünge: Ein thematischer Einstieg
10.3.2Der Step Vault
10.3.3Der Lazy Vault
10.3.4Die Katze
10.3.5Weitere Überwindungssprünge
10.3.6Kombinationen und Flow
10.3.7Weitere Spiele und Herausforderungen
10.4Bewegungsfeld 4: An der Wand
10.4.1Der Armsprung
10.4.2Der Wallrun
10.4.3Der Tic-Tac
10.4.4Der Wallflip
10.4.5Weitere Bewegungen an der Wand
10.5Bewegungsfeld 5: Hängen und Schwingen
10.5.1Der Schwinger
10.5.2Der Durchbruch
10.5.3Weitere Bewegungen aus dem Hängen
11Spielorientierte Praxisideen
11.1Der Boden ist Lava
11.2Zombies vs. Ninjas
11.3Weitere spielorientierte Praxisideen
12Konzeptorientierte Praxisideen
12.1Der dunkle Hinderniswald
12.2Krankentransport
12.3Handicap
13Krafttraining und Cool-down
13.1Ideen für das Krafttraining
13.2Ideen für das Cool-down
Anhang
1Weiterführende Informationen
2Literaturverzeichnis
3Unterstützer und Freunde
4Zum Autor
5Bildnachweis
Parkour, die einst rebellische Bewegungsform aus den Vororten Frankreichs, ist inzwischen zu einem festen Bestandteil der modernen Sportwelt gereift. Es spielt keine Rolle, ob selbstorganisiert auf der Straße, in der Schule oder im Sportverein: Parkour wird gelebt, geliebt und vermittelt. So ist die Disziplin inzwischen nicht nur fast jedem Teenager ein Begriff aus dem Unterricht oder dem Internet, sondern auch Pädagogen, Therapeuten und Sportwissenschaftlern.
Parkour: Menschen, die allein mithilfe des eigenen Körpers versuchen, Hindernisse zu überwinden. Eine simple Prämisse. Doch genau diese Einfachheit macht diesen Sport zu so einem zugänglichen und anpassungsfähigen Werkzeug in verschiedensten Anwendungsbereichen. Ob Persönlichkeitsentwicklung, Risikobewusstsein, Achtsamkeit, Kreativität oder Fitness – alles ist ein Bestandteil der Disziplin Parkour. Die Zielgruppe bestimmt den Mix.
Aus genau diesem Grund soll das vorliegende Buch als eine Art Werkzeugkasten dienen. Aufgebaut auf Hintergründen zur Geschichte und Philosophie, zu pädagogischen Grundlagen und Basics der Trainings- und Bewegungslehre, bis hin zu konkreten Ideen für die Praxis. Abgezielt auf eine selbstständige Erarbeitung des Themenfeldes für den eigenen Lehrrahmen, sollen auf diese Weise verschiedenste Zugänge ermöglicht werden.
Ob Sie Trainer im Sportverein, Lehrer in der Schule, Sporttherapeut oder „einfach“ Athlet sind. Jeder darf sich seine Bausteine herauspicken und Parkour seinen individuellen Gegebenheiten anpassen können. Denn wenn es im Parkour um eine Sache geht, dann um Anpassungsfähigkeit!
Parkour ist vielfältig; Parkour ist anpassungsfähig; Parkour verändert sich. – Daher soll von vornherein herausgestellt werden, dass sich dieses Buch keinerlei Definitionsmacht zuschreibt. Die hier genannten Begriffe, Methoden oder Einschätzungen sollten daher nicht als allgemeingültig betrachtet werden, sondern als eine von diversen, jedoch bewährte Herangehensweise. Erarbeitet und erprobt wurde sie in vielen Jahren der Lehre und Vermittlung von verschiedensten Trainern in unterschiedlichsten Kontexten.
Basierend auf der Trainer-C-Lizenz „Breitensport Parkour“ des Deutschen Turner-Bundes e.V. (DTB), erarbeitet und geprüft von mehreren Arbeitsgruppen, zusammengesetzt aus Traceuren (d. h. Parkour-Läufern), Pädagogen und Verbandsmitarbeitern, bilden viele der dargestellten Kapitel somit die Quintessenz aus jahrelanger Praxiserfahrung der Szene ab.
Kombiniert mit einem regen Austausch innerhalb der Parkour-Community während des Schreibprozesses, liegt nun also ein Werk vor Ihnen, das vor allem eines sein soll: authentisch – mit viel Wert auf praxisnaher Terminologie, der realistischen Durchführbarkeit von Inhalten und einem hohen sportwissenschaftlichen Anspruch.
Dieses Buch versteht die Sportart Parkour daher besonders als breitensportliche, inklusive und wertorientierte Disziplin. Es soll eine Sportart dargestellt werden, die ihren Kern nicht in der reinen Performance von Bewegungen sieht, sondern ihre Stärken in der Selbstkonfrontation, Persönlichkeitsentwicklung und dem kritischen Umgang mit den eigenen Fähigkeiten erkennt. Parkour soll als Weg dargestellt werden, seinen Sportlern Mittel an die Hand zu geben, sich selbst auszudrücken, neue Wege zu entdecken und mit jeder Herausforderung zu wachsen – einerlei, ob Schüler, Patient oder Profi.
Denn nicht die Bewegungen definieren den Sport. Nein. Es sollte nicht darum gehen, einen vordefinierten Katalog an Moves zu erlernen, sondern vielmehr um das Suchen, Tüfteln und Meistern von Bewegungsaufgaben. Dazu werden zwar Techniken erläutert und vermittelt, um ein grundlegendes Bewegungsrepertoire aufzubauen, diese sollen jedoch nicht im Zentrum der hier vorgestellten Lehrphilosophie stehen. Der eine, wichtigste Zweck von Parkour liegt am Ende nämlich allein in der Freude an der Bewegung.
Folglich ist es der Zweck der folgenden Kapitel, Ihnen Parkour insoweit verständlich aufzubereiten, dass Sie selbst in die Lage gebracht werden, anregende, vielfältige und differenzierte Inhalte zu entwickeln, um genau diese Freude an der Bewegung in Teilnehmern zu wecken.
Damit dies gelingen kann, müssen zwei primäre Kompetenzfelder bearbeitet werden:
1.Wissen und Fähigkeiten eines Trainers sowie
2.Wissen und Fähigkeiten eines Traceurs.
Gemeinsam ergeben diese beiden primären Kompetenzfelder den Parkour-Trainer:
Abb. 1: Die doppelte Expertise eines Parkour-Trainers
Die Wissens- und Fähigkeitsbereiche des Trainers und des Traceurs unterteilen sich zudem in Inhalte aus Theorie und Praxis. Denn so gehört das allgemeine Bewegungsverständnis eines Überwindungssprungs genauso zum Repertoire eines guten Lehrenden, wie auch das Grundverständnis über pädagogische Prinzipien und die allgemeine Gruppenführung. Nichtsdestotrotz kommen alle Beispiele und Szenarien auch in diesem Teil aus dem alltäglichen Parkour-Training.
Zwar muss nicht jeder Coach selbst der beste Athlet sein und nicht jeder Athlet der beste Pädagoge, aber ein grundlegendes Wissen sollte erwartet werden. Und wer weiß, vielleicht ist das eine oder andere ja doch noch neu und hilfreich!
In diesem Sinn: Let’s jump into it!
© Andreas Wöhle
1Geschichte und Definitionen
2Philosophie und Werte
3Community und Szene
4Rahmen und Ziele der Parkour-Lehre
5Grundlagen des sportlichen Trainings
6Grundlagen der Bewegungsvermittlung
7Biomechanik und Bewegungsverständnis
8Bevor es losgeht
„Ich fühle mich […] als Beschützer einer Methode, die ich geerbt habe.“
David Belle im Interview mit Sébastien Foucan (2010)
Oft wird David Belle, von welchem dieses Zitat stammt, als Erfinder oder Begründer von Parkour bezeichnet. Er soll es gewesen sein, der aus kindlichem Spiel heraus seine eigene Sportart entwickelte, die er später Parkour nennen sollte. Doch die oben dargestellte Aussage zeigt, dass es bereits vor ihm etwas gegeben haben muss, das er hätte erben können.
■Wo also liegt der Ursprung?
■War David wirklich alleine?
■Was hat es eigentlich mit FreeRunning auf sich?
■Und welche Rolle spielt James Bond in der Entstehung einer Sportart?
All diese Fragen sollen im folgenden Kapitel beleuchtet und beantwortet werden. Denn eines ist sicher: Die Geschichte der Bewegungskunst ist in sich selbst eine bewegte.
Die „méthode naturelle“ (dt.: natürliche Methode) wurde im frühen 20. Jahrhundert vom französischen Marineoffizier Georges Hébert (1875-1957) entwickelt und gilt heute weitläufig als Startpunkt des modernen Parkour.
Wie der Name bereits vermuten lässt, liegt der Kern der Methode im Training diverser Disziplinen natürlicher Bewegungen. Es spielt keine Rolle, ob Schwimmen, Klettern oder Springen: Der Mensch solle sich bewegen, wie es von der Natur eigentlich vorgesehen ist. Hébert selbst formulierte es so:
Ein ideales Trainingsziel sei es „in der vorgegebenen oder minimalen Zeit den Körper, ohne diesem zu schaden, solcher Dosis an körperlichen Belastungen und Aktivitäten auszusetzen, welche einem Tag in der freien Wildbahn gleichgesetzt werden kann.“
(Hébert, 1925, S. 3)
Hébert war dabei der Überzeugung, dass ein solches Training zu einer optimalen physischen Entwicklung des Menschen beitragen würde, und zudem auch Fähigkeiten wie Intelligenz, Mut oder Empathie positiv beeinflussen könne.
Die Fähigkeiten eines einzelnen Menschen würden somit dem Wohle seiner ganzen Gruppe dienen. Sie sollten nachhaltig sein, gesundheitsfördernd wirken, Stärken vermitteln und letztlich allgemein nützlich erscheinen. Diese altruistische Überzeugung manifestierte er schließlich im Grundsatz „Être fort pour être utile“ (dt.: sei stark, um nützlich zu sein), der bis heute auch im Parkour-Sport noch lebt.
Die drei Grundsätze seiner „méthode naturelle“ definierte Hébert letztlich so:
1.physikalische Komponente: Gehen, Rennen, Springen, Klettern, Tragen, Werfen, Balancieren, Selbstverteidigung, Schwimmen und Bewegung auf allen vieren;
2.moralische Komponente: Mut, Hilfsbereitschaft, Beharrlichkeit, Tapferkeit;
3.energetische Komponente: Ausdauer, Schnelligkeit, Kraft, Resistenz.
Seine Lehre entwickelte Georges Hébert, während er in der Marine diente und auf Schiffswegen verschiedenste Kulturen und Völker kennenlernte. Dabei bewunderte er vor allem die Athletik der Einheimischen und erkannte, dass diese auf natürlichem Wege durch Arbeit und Überlebenssicherung seinen Soldaten physisch überlegen waren.
Als er schließlich 1902 bei einem Vulkanausbruch auf der Insel Martinique allein eine Flucht koordinierte, die 700 Menschen das Leben retten sollte, verfestigten sich seine Sichtweisen zu einer eigenständigen Philosophie. Er studierte daraufhin das heimische Sportsystem und konzipierte seine eigene Trainingsmethode.
Als er in den darauf folgenden Jahren die Gesamtleitung der Körperausbildungen der Marineschule in Lorient, Frankreich, übertragen bekam, begann er, diese zu revolutionieren. Dabei löste seine Lehre die bisherigen wettkampforientierten Disziplinen ab. Nach anfänglichem Widerstand und Schmähungen sprachen die Ergebnisse aber schnell für Héberts „méthode naturelle“.
Zukünftig würde Hébert seine eigenen Hindernisse und Parcours entwerfen, in Reims (Frankreich) lehren und das französische Militärtraining auf Jahre hin prägen. Genau dieses sollte in den 1960er-Jahren dann schließlich einige Schüler dazu inspirieren, seine Gedanken weiterzuspinnen. Unter anderem Raymond Belle, den Vater von David Belle.
Die erste Schlüsselfigur der Familie Belle war Raymond, geboren 1939 in Indochina. Durch den dortigen Krieg von seiner Familie getrennt, lebte er erst bei seinen Onkeln, bis diese ihn mit sieben Jahren schließlich auf eine französische Militärschule schickten. Teil des Trainings dort waren die „parcours du combattant“, welche eine Weiterentwicklung von Héberts „méthode naturelle“ darstellten und auf das Überleben in unwegsamem Gelände im Krieg hin abzielten.
Dieses versuchte Raymond zu perfektionieren, um die eigenen Chancen im Kampf zu verbessern. Er trainierte viel, ausdauernd und hart, bis er die Techniken zur Flucht schließlich perfektionierte. Als 1954 Dien Bien Phu fiel, wurde er zurück nach Frankreich entsandt.
In Europa widmete sich der von Krieg und Misshandlung gezeichnete Raymond der Feuerwehreinheit des Militärs, um mit seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten Leben zu retten, anstatt es zu nehmen. Er gewann zahllose Auszeichnungen im Turnen und athletischen Wettkämpfen und galt als Mann mit herausragenden Fähigkeiten – aber auch als Mensch mit einer harten Schale.
Sein Sohn David sah ihn nur gelegentlich, da dieser mit seinen Großcousins hauptsächlich von den Großeltern aufgezogen wurde. Dennoch verehrte der junge David seinen Vater. Aufgewachsen mit den zahllosen Geschichten und Erzählungen eines superheldenhaften Mannes, saugte er alles Wissen auf, das er in den Besuchen bei Raymond erhaschen konnte.
Dieser nahm die Kinder vor allem gerne mit in den Wald von Sarcelles und forderte deren athletische Fähigkeiten durch vielfältige Bewegungsaufgaben und Spiele heraus. Er ermutigte sie, nicht vor der Angst zurückzuschrecken, sondern ihr mit Vorsicht zu begegnen, alle Untergründe zu ertasten und herauszufinden, wie man jedes Hindernis nutzen könne. Er erzählte ihnen von seinem Training, den „parcours“, und teilte seine Gesinnung mit ihnen.
Diese Grundeinstellung lag vor allem darin, Stärken nützlich einzusetzen, sowie auf eine Art und Weise zu trainieren, dass man jederzeit bereit ist, diese Stärken auch abzurufen. Ob ohne aufzuwärmen, in Alltagskleidung, auf mehreren Metern Höhe oder bei Nässe. Man solle jederzeit in der Lage sein, seine Fertigkeiten anzuwenden. Das Training war hart und schmerzvoll.
David, inspiriert von den Lektionen seines Vaters im Wald, war zu dieser Zeit vor allem in Lisses und Évry, nahe Paris, unterwegs. Dort aber überwog die urbane Architektur.
In Lisses und Évry regierten in den 1980er-Jahren die Gangkulturen und der praktisch orientierte Baustil. Kulturelle Diversität wurde in Sport und Religion kaum zugelassen und die Jugendlichen auf den Straßen beschäftigten sich in Zeiten ohne Internet vor allem mit sich selbst.
Auch der Freundeskreis um David, besonders Yann Hnautra, sein Cousin Châu Belle, Laurent Piemontesi oder Sébastien Foucan. Sie trainierten Kampfkünste, waren Turner oder Leichtathleten. Alle teilten jedoch das Gefühl, dass ihrem Training etwas fehlen würde.
Die Methoden, die sie von Raymond kennengelernt hatten, übertrugen sie anfangs nur auf einige Mutproben oder Spiele, die dem Spiel „Der Boden ist Lava“ ähneln1. Mit der Zeit jedoch wurde aus den Spielen mehr und mehr ein ernst zu nehmendes Training. Angetrieben von Yann Hnautra, einem von Davids engsten Kameraden, begannen sie, die örtlichen Strukturen zu beklettern, sich immer neue Routen zu erarbeiten und Bewegungsmuster zu erfinden und auszutauschen. Allen voran an der Dame du Lac.
© Martin Wille
Abb. 2: Die Dame du Lac in Lisses
Jeder für sich begann, eigene Trainingsschwerpunkte zu finden: Ob inspiriert von den klassischen Fluchttechniken Raymonds, angelehnt an turnerische Fertigkeiten oder als Selbstausdruck. Für alle ging es jedoch letztlich um Herausforderung, Stärke, Mut und Willenskraft.
Sie testeten ihre Grenzen aus, nur um zu sehen, wie weit sie gehen konnten: Sie joggten nach Paris und zurück (ca. 30 km pro Weg), liefen kilometerweise auf allen vieren oder sprangen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf einem Bein, hingen an immer dünneren und höheren Kanten – nur um zu sehen, ob sie es schaffen würden. Sie bluteten, schwitzten und kämpften zusammen.
David selbst sagte später, dass das „parcours“-Training damals ein Training für Kämpfer war; dass man weinen würde. Seinen Wehrdienst im Militär verglich er im Gegensatz zum eigenen „parcours“ mit einem „Freizeitpark“ (Angel, 2011, S. 17).
Sie hatten das Ziel, Lösungen für die härtesten Probleme zu finden: einerlei, ob physisch oder psychisch. Entgegen dem Zeitgeist wandten sie sich dafür nicht Drogen oder Gewalt zu, sondern versuchten, sich durch eisernes Leiden selbst zu stählen – um Superhelden zu werden.
Etwa 10 Jahre, nachdem die Gruppe begonnen hatte, zu trainieren, erlangten sie Mitte der 1990er-Jahre erste Aufmerksamkeit in den lokalen Medien. 1997 schließlich lud Davids Bruder die Freunde nach Paris ein. Dort sollten sie bei einer Demonstration der örtlichen Feuerwehrleute eine kleine Show inszenieren und ihre Fertigkeiten der breiten Öffentlichkeit vorstellen: Sie nannten sich Yamakasi. Übersetzt aus dem Lingala, einem zentralafrikanischen Dialekt, bedeutet das so viel wie: „starker Geist, starker Körper, starke Person“.
Zudem begann Sébastien Foucan in diesem Kontext den Begriff „l’art du déplacement“ – „die Kunst der Fortbewegung“ – als den ersten Namen der Sportart der Freundesgruppe zu nutzen. Erste Filmaufnahmen wurden an das französische Fernsehen gesandt, um auf die Vorstellung aufmerksam zu machen.
Als nun ein weiteres Angebot für eine Show in einem Musical die Gruppe erreichte, gelangte der einstige Freundeskreis an einen Scheidepunkt. Besorgt darum, dass ihr Training in der Öffentlichkeit eher zu einer Akrobatiksensation verkommt, als dass es den wahren kämpferischen Geist der Disziplin darstellt, entschieden sich David Belle und Sébastien Foucan, die Yamakasi zu verlassen und sich individuell eigenen Projekten zu widmen.
Dabei wollte Sébastien Foucan ein Coach werden und die Sportart weiterentwickeln und lehren, wohingegen David den Begriff Parkour, als eine Art Eigenmarke, für sich prägte. Diesen nutzte er, um seine Trainingslehren zu propagieren und zu vermarkten. Dabei hielt er sich strikt an die Lehren seines Vaters und teilte sein Wissen ausschließlich mit wenigen, handverlesenen Schülern. In einer Diskussion mit diesen fiel dann erstmals auch der Begriff Traceur (weiblich: Traceuse). Das bedeutet „der/die eine Linie geht“ und wird bis heute als Fachbegriff für Parkour-Läufer verwendet.
Die übrigen sieben Yamakasi hingegen hielten weiter am Begriff „l’art du déplacement“ fest. Nicht nur, um aus persönlichen Gründen nicht zu stark mit Davids eigenen Plänen vermischt zu werden, sondern vor allem, um sich von dessen familiär in Ungnade gefallenen Vater, Raymond, zu distanzieren. Diesem wurden schwere Vorwürfe in Bezug auf dessen Nichte gemacht. David hielt ihm aber weiter die Treue.
Aber auch eigenständig, ohne David und Sébastian, sollten sie ihre Lehren weiterverbreiten, diese in einem selbstgegründeten Verein unterrichten und sie in Kino- und Dokumentarfilmen festhalten.
Trotzdem, entgegen aller Differenzen und Unterschiede, hatten immerhin ihre Trainingsstile stets etwas gemeinsam: eine Philosophie hinter der Bewegung.
Alle Mitglieder der ursprünglichen Gruppe verfolgten in den nächsten Jahren eigene Ziele, nutzen ihre Fertigkeiten aber vermehrt für Auftritte in Filmen, Fernsehproduktionen oder Werbevideos. Die wohl einflussreichsten Auftritte und Auslöser für den zukünftigen Boom des Parkour-Sports waren aber wohl die im englischen Fernsehsender Channel 4 ausgestrahlten Dokumentationen Jump London (2003) und Jump Britain (2005).
Beide Filme verfolgten Sébastien Foucan als Kopf einer Gruppe von Traceuren, die entweder in London (2003) oder in ganz Großbritannien (2005) ihre noch unbekannten Fähigkeiten an den bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Nation anwandten. Die etwa 60-minütigen Sendungen begleiteten die Gruppen dabei vom Kreieren ihrer Läufe bis hin zum finalen Sprung und beleuchteten in kleinen Interviews auch Hintergründe zum neuen Phänomen. In diesem Kontext übersetzte Sébastien Foucan auch den Begriff des „l’art du déplacement“ frei ins Englische und prägte so fortwährend den Begriff FreeRunning (dt.: freies Laufen).
In Reaktion auf diese in England völlig neuartige Form der Bewegungskunst zog es plötzlich hunderte Jugendliche nach draußen, welche versuchten, Sprünge aus der Dokumentation nachzuahmen und selbst zu comichaften Superhelden zu werden. Der Sport wurde immer populärer und verbreitete sich rasant.
Nur ein Jahr nach Jump Britain (2005) folgte dann der endgültige Durchbruch der französischen Trainingsart. Wieder war es Sébastien Foucan, der die Hauptrolle spielte – wenn auch nur in einer Nebenrolle im Skript.
In Martin Campbells James Bond 007: Casino Royale (2006) wird Foucan vom Filmhelden James Bond persönlich durch eine Baustelle gejagt und entkommt dem Superspion lange mit spektakulären Sprüngen. Parkour erreichte daraufhin seinen vorläufigen Zenit an medialer Aufmerksamkeit und weltweiten Suchanfragen.
Mitgetragen von der 2005 gegründeten Videoplattform YouTube®, auf der nun auch die ersten privaten Parkour-Videos geteilt werden konnten, verbreitete sich der Sport schließlich rasant durch die Welt. Tatsächlich könnte man behaupten, dass Parkour eine der ersten Sportarten überhaupt war, die letztlich durch die (sozialen) Medien aus der Taufe gehoben worden ist. Schnell bildete sich eine erste, kleine Szene aus Begeisterten.
Inzwischen hat sich die einst eiserne Trainingsdisziplin aus Frankreich zu einem weltweiten Phänomen entwickelt. Selbstverständlich haben sich Bewegungsmuster über die Jahre hin verfeinert und etabliert, neue Ideen und Ansätze wurden mit den Ursprüngen vermischt und ganz neue Spielformen sind aus den Ideen der Vergangenheit entwachsen. Dennoch ist die Quintessenz geblieben: Körper und Geist sollen durch Bewegungsherausforderungen gestärkt und in Einklang mit sich selbst und der Umwelt gebracht werden.
Doch anders als noch in den 1980er-Jahren in Lisses oder Évry steht heute nicht mehr ein Kämpfertraining, sondern besonders die kreative Entwicklung und die Selbstverwirklichung im Zeitgeist der Disziplin. Selbstentfaltung und das Entdecken neuer Wege und Möglichkeiten bilden dabei aber bis heute die zentralen Motive.
Inklusivität und Diversität, ungeachtet der sozialen Herkunft, wie sie damals die Yamakasi forderten, Gemeinschaft und Freundschaft, sowie Wettkampflosigkeit und Hilfsbereitschaft, wie Raymond Belle oder Georges Hébert sie lehrten, leben aber noch immer!
© Benni Grams
Abb. 3: Eine Gruppe von Traceuren bei der „Ashigaru Skillz Competition“
Begünstigt durch die sozialen Medien, vereinfachte Reisebedingungen und günstigere Transportmöglichkeiten, hat sich die Parkour-Welt heute zudem zu einer großen, teils globalen Gemeinschaft zusammenfinden können. So teilen Traceure ihre Videos und Bilder weltweit mit Gleichgesinnten, tauschen sich über aktuelle Strömungen aus, organisieren eigene Events und kreieren sich eine fortwährend eigenständige und authentische Kultur der Offenheit und Bewegungsfreude.
Kleidungsmarken2, Filme3 und Wissenschaftskongresse4 – die Athleten engagieren sich und gestalten, wo sie können. Finanziert von eigenen Gewinnen oder gefördert durch Sponsoren, beginnen zudem auch erste Athleten, ihr Hobby zum Beruf zu machen.
Strömungen und Chancen, die sich David Belle und die Yamakasi zu Beginn wohl niemals erträumt hätten. Ungeachtet, ob Parkour, FreeRunning oder l’art du déplacement.
Durch die Geschichte der Sportart – geprägt von Freundschaften, sich trennenden Wegen und eigenen Interpretationen der Gründergeneration – haben sich über die Jahre verschiedene Begriffe und Definitionen um die Bewegungskunst herum gebildet. Zwar mögen diese für einen Außenstehenden quasi identisch oder ihre Unterschiede nur marginal erscheinen, historisch und kulturell ist ihre Differenzierung jedoch von großer Bedeutung.
Aus diesem Grund sollen im folgenden Kapitel die drei ursprünglichsten Begriffe, l’art du déplacement, Parkour und FreeRunning noch einmal differenziert vorgestellt werden. Am Ende wird den dreien schließlich eine vierte Interpretation hinzugefügt, welche als grundlegendes Fundament für die Lehre der Bewegungskunst in diesem Buch betrachtet werden kann und die Kernelemente der traditionellen Definitionen für die Anwendung verständlich herunterbrechen soll.
L’art du déplacement (auch: ADD) ist der ursprünglichste Begriff für die Fortbewegungskunst und wurde von Sébastien Foucan erdacht. Selbst nachdem sich David Belle und Foucan von den Yamakasi abwandten, blieb der Begriff bei den anderen Gründungsmitgliedern haften. Sie entwickelten ihn zum Überbegriff ihrer Lehren und propagierten unter ihm bis heute eine inklusive, mitbestimmte und individualisierte Trainingsart, die weniger radikal war, als David Belle sie anstrebte.
Zentral für ADD steht dabei die Zielsetzung, dass der Athlet nicht nur ein Sportler ist, sondern eine Denkweise entwickelt, die ihn zu einem aktiven Teil der Umwelt werden lässt. Einer Umwelt, die er auf positive Art und Weise für sich und andere nutzen kann. Kurz zusammengefasst, könnte eine Definition also wie folgt lauten:
„L’art du déplacement ist eine Bewegungsform, in der versucht wird, sich der eigenen Umwelt (wieder) anzunähern und sie (wieder) nutzen zu lernen, indem man seinen Körper in Bezug zu ihr, ihrer Natur und ihren Menschen bewegt.“
(frei übersetzt von: Art du Deplacement Academy, 2015)
Bis heute lehren vier Athleten der ersten Yamakasi-Generation die Kunst der Fortbewegung in eigenen Schulen auf der ganzen Welt.
Der Begriff Parkour (auch: PK) beruht auf dem französischen Begriff parcours (dt.: Hindernislauf). Dieser beschrieb zu Anfang lediglich sachlich die Trainingsinhalte aus Georges Héberts „méthode naturelle“ oder den „parcours du combattant“ aus dem französischen Militärtraining. Seine neuartige Schreibweise hingegen wurde erst Ende der 1990er-Jahre von David Belle ins Leben gerufen, nachdem er die Yamakasi verlassen hatte, und beruht auf einer Idee von Hubert Koundés, einem seiner Schauspielerfreunde, bei dem er Unterricht nahm.
Durch die Differenzierung vom bis dato verwendeten Begriff l’art du déplacement versuchte David vor allem, den Geist der Disziplin zu bewahren, welchen er vorrangig bei den Lehren seines Vaters sah.
Hartes, effizientes und auf Nützlichkeit ausgelegtes Training stand im Zentrum seines Parkour-Begriffs. Eine kurze und prägnante Definition des ursprünglichen Parkour könnte also wie folgt lauten:
„Parkour bezeichnet eine ganzheitliche Trainingsmethode, bei der der Traceur (dt.: der, der eine Linie zieht; Parkour-Läufer) nur mithilfe des eigenen Körpers versucht, möglichst effizient von Punkt A nach Punkt B zu gelangen.“
Dabei beschreibt der Begriff Effizienz in diesem Kontext vorrangig ein schnelles und kraftsparendes Handeln des Athleten, während die Ganzheitlichkeit des Trainingsbegriffs sich auf die Komponenten der Physis und der Psyche konzentriert. Zentral in der klassischen Definition steht somit eine gewisse Zielstrebigkeit und das klare Verlangen nach einer disziplinierten Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Umwelt.
Das FreeRunning (auch: FR) ist die aktuellste Interpretation der ursprünglichen Bewegungskunst und wurde 2003 von Sébastien Foucan in der Dokumentation Jump London (2003) erstmalig verwendet. Zu Beginn sollte der Begriff lediglich als freie Übersetzung von l‘art du déplacement