Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Quicksand House

erschien 2013 im Verlag Eraserhead Press.

Copyright © 2013 by Carlton Mellick III

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-952-7

www.Festa-Verlag.de

Vorwort des Autors

Seit meiner Kindheit geistert mir diese Geschichte durch den Kopf. Irgendetwas hat diese Idee an sich, das mir keine Ruhe lassen wollte: Zwei Kinder sind ihren eigenen Eltern nie begegnet, obwohl sie zusammen im selben Haus leben. Sie wissen, dass ihre Eltern sich irgendwo in diesem Haus aufhalten, aber sie wissen nicht, wo. Sie wissen nicht, wie sie aussehen oder warum sie sich weigern, sie zu sehen. Manchmal hören die Kinder fernes Lachen auf der anderen Seite des Hauses, riechen die Rückstände von Parfüm in einem Zimmer oder finden eine noch glimmende Zigarette in einem Aschenbecher, aber noch nie haben sie ihre Mutter oder ihren Vater tatsächlich gesehen. Es ist fast wie eine Gespenstergeschichte, nur dass in dem Haus, in dem die Kinder wohnen, Leute spuken, die noch am Leben sind.

Quicksand House ist eine der persönlichsten Geschichten, die ich je geschrieben habe. Die meisten Menschen blicken auf ihre Kindheit zurück als etwas, das behütet, fröhlich und unbeschwert war, aber in meiner Erinnerung ist sie etwas Erschreckendes und Verwirrendes. Meine Welt fühlte sich immer so an, als könnte sie mir jeden Moment unter den Füßen weggezogen werden und ich würde mit einer unsicheren und einsamen Zukunft zurückbleiben. Dieses Buch ist mein Versuch, diese Emotionen in einer Geschichte zu verarbeiten.

Ich hoffe, sie gefällt euch. Es ist eine Geschichte, die ich schon so lange im Kopf habe, dass ich froh bin, sie endlich zu veröffentlichen. Es ist eine meiner Lieblingsgeschichten.

– Carlton Mellick III, 17.6.2013, 3:05 Uhr

1

Polly ist zu groß geworden für den Hort.

Ihre Arme und Beine quellen über die Seiten ihres kleinen rosa Bettchens, wenn sie schläft, und liegen auf dem kalten Boden wie weiche Schlangen, die sich um einen Baumstamm ringeln. Ihre Bettdecke verhüllt nur ein Viertel ihres mächtigen Körpers und das Kissen ist gerade groß genug für eine Hälfte ihrer Wange.

Wenn Polly im Spielzimmer steht, muss sie den Kopf einziehen, weil sie sonst gegen die Decke stößt. Wenn sie in der Teestube am Tisch sitzt, kann sie kaum ihren Hintern in die winzigen Holzstühlchen quetschen, ohne sie in Stücke zu brechen. Es ist zum Verrücktwerden.

»Warum schrumpft nur alles?«, fragt Polly Nanny Warburough, die gerade versucht, die Rückseite ihres Kleides zu schließen.

Alle ihre Kleider haben ihr früher bis zu den Knöcheln gereicht, aber jetzt bedecken sie nicht einmal mehr ihre Knie.

»Nichts schrumpft«, sagt die Nanny und befestigt zusätzliche Schnüre am Kleid, um es zusammenzuhalten. »Es liegt nur daran, dass du wächst. Du wirst eine Frau.«

Polly betrachtet sich im Spiegel. Ihr gesamter Rücken liegt frei, man kann ihre blasse, leicht sommersprossige Haut sehen. Nur so passt sie überhaupt noch in die Kleider in Kindergröße.

»Das gefällt mir nicht«, sagt Polly. Das sagt sie in diesen Tagen immer. »Könnte ich doch neue Kleider bekommen …«

Als Polly sich eine Schleife ins Haar bindet, sticht sie sich ihr Handgelenk an einem der spitzen Knochen, die aus ihrem Kopf wachsen.

»Au!«, ruft sie und drückt mit dem Daumen auf das Handgelenk, um die Blutung zu stoppen. »Ich hasse diese blöden Dinger!«

Nanny Warburough wischt das Blut von der Spitze des Horns. »Du musst lernen, vorsichtiger zu sein. Dein Geweih wird im Laufe der Zeit noch größer werden.«

»Ich würde es am liebsten abreißen!«, schimpft Polly. Sie legt ihre Finger um die spitzen Knochen und zieht daran. »Ich sehe damit so dämlich aus.«

Die Nanny nimmt die Hand des Mädchens von seinem Geweih und rückt die Schleife zurecht. »Dein Geweih ist ein Symbol deiner Weiblichkeit. Du solltest stolz darauf sein. Je größer es ist, desto anziehender wird es auf einen zukünftigen Ehemann wirken.«

»Ich will keinen Mann. Ich hasse Jungs. So wie Zecke. Er ist so nervig.«

»Ich rede nicht von Jungen wie deinem kleinen Bruder.« Die Nanny bemüht sich, Pollys leuchtend grünes Haar zu zwei Pferdeschwänzen zu binden. »Ich rede von erwachsenen Männern. Eines Tages wirst du den Hort verlassen. Dort draußen wird es mehr Männer geben, als du zählen kannst, und du wirst besonders hübsch für sie sein wollen. Du wirst wollen, dass dein Geweih groß und majestätisch ist.«

Polly grinst ihr Spiegelbild nur höhnisch an. Schon ihr ganzes Leben lang erzählt die Nanny, dass sie eines Tages den Hort verlassen wird, aber dieser Tag scheint nie zu kommen. Polly ist jetzt praktisch schon eine erwachsene Frau und immer noch hier. Eigentlich müsste sie schon seit Ewigkeiten alt genug sein, um fortzugehen.

»Du musst nur warten, bis deine Eltern dich holen kommen«, sagt die Nanny. »Es kann jetzt jeden Tag so weit sein. Ich bin sicher, dass sie überglücklich sind, die schöne junge Frau zu sehen, zu der du geworden bist.«

Die Nanny lächelt Polly mit ihren faltigen Lippen an.

Polly hasst es, wenn die Nanny solche Sachen sagt. Schon seit Jahren bekommt sie zu hören, dass es jetzt jeden Tag so weit sein kann und ihre Eltern sie holen kommen. Als die Nanny ihr den Rücken zuwendet, malt Polly sich mit violettem Bonbongeschmack-Lippenstift Kreise übers ganze Gesicht, nur um sie zu ärgern. Mit hässlichen Knochen, die aus ihrem Kopf wachsen, und zu kleinen, zerrissenen Kleidern sieht sie keinen Sinn darin, hübsch aussehen zu wollen.

Zecke beobachtet seine Schwester und Nanny Warburough durch einen Riss in der Wand. In seinem Versteck im Lüftungsschacht können sie ihn nicht sehen. Dies ist sein Territorium. Als Polly jünger war, haben sie sich beide oft in diesen Geheimtunneln vor der Nanny versteckt, aber inzwischen ist seine Schwester zu groß geworden, um noch hineinzupassen. Jetzt gehört dies alles ihm.

»Ich kann dich atmen hören, Zecke«, sagt Polly.

Zecke hält die Luft an.

»Hör auf, mich auszuspionieren, du kleiner Perversling«, sagt sie.

»Ich bin kein Perversling«, erwidert Zecke. »Ich wollte nur sehen, was ihr beide gerade macht.«

»Ich will nicht, dass du siehst, was ich mache. Darum habe ich die Tür abgeschlossen.«

»Aber es ist so einsam da draußen.«

»Willst du, dass ich dich umbringe?«, fragt Polly.

Nanny Warburough geht zur Wand und schlägt mit ihren harten runden Fingerknöcheln dreimal gegen den Putz. »Geh sofort aus den Wänden raus, Kind. Die Lüftungsschächte sind verboten.«

»Aber es gefällt mir hier.«

»Sie sind nicht vor den Kriechern geschützt«, sagt die Nanny. »Willst du, dass die Kriecher dich holen?«

Zecke sieht sich um. Der Lüftungsschacht ist dunkel und voller Staub und Spinnweben, aber er ist sich sicher, dass außer ihm niemand hier ist.

»Ich hab hier noch nie einen Kriecher gesehen«, sagt er.

»Du kannst die Kriecher nicht sehen. Sie verstecken sich im Dunkeln und holen dich, wenn du nicht hinsiehst.«

»Nein, tun sie nicht.«

»Komm jetzt da raus und mach dich für die Schule fertig«, befiehlt die Nanny.

Zecke kriecht fort von dem Loch im Zimmer seiner Schwester. Der Schacht ist dunkel, beleuchtet nur von den schwachen Lichtstreifen, die durch Belüftungsschlitze und Risse in der Wand hereinfallen. Auch wenn es viele dunkle Ecken gibt, in die das Licht nie gelangt, glaubt Zecke nicht, dass sich hier irgendwelche Kriecher verstecken könnten. Am Anfang waren ihm die Lüftungsschächte Furcht einflößend und gefährlich erschienen, aber inzwischen war er schon so häufig hier, dass er sich genauso sicher fühlt wie im Rest des Horts. Außerdem glaubt er sowieso nicht daran, dass die Kriecher existieren.

»Zieh dich um«, sagt Nanny Warburough zu Zecke, als er aus dem Lüftungsschacht in sein Zimmer kriecht.

»Warum?« Sein Gesicht ist bedeckt mit Staub und Ruß. Seine schwarzen Haare sind zerzaust und seit Wochen nicht gekämmt worden.

»Du bist ganz schmutzig«, schimpft die Nanny und kommt mit ihrem runden, zwergenhaften Körper auf ihn zugewackelt.

Er zuckt mit den Achseln. »Na und? Niemanden in der Schule interessiert das.«

»Mich interessiert es«, sagt die Nanny auf ihrem Weg zur Tür hinaus. »Und jetzt beeil dich, sonst musst du ohne Frühstück zur Schule.«

Zecke zieht sein T-Shirt aus. Im Kleiderschrank hängen 25 identische Schuluniformen, fünf in jeder Größe. Er ist jetzt bei der größten Größe angelangt, die anderen 20 sind ihm zu klein geworden. Genau wie Polly wird er diese Uniformen wahrscheinlich noch eine lange Zeit tragen, nachdem er aus ihnen herausgewachsen ist. Aber das stört Zecke nicht. Wenn er so groß ist wie Polly, will er sich seine eigenen Klamotten aus Vorhängen und alten Schlafanzügen machen.

»Das Frühstück wartet«, ruft die Nanny aus der Teestube.

Zecke zieht die sauberste Uniform an – oder die am wenigsten schmutzige – und geht durch den Flur zur Teestube. Der Tisch ist für zwei Personen gedeckt. In der Mitte des Tisches sind verschiedene Früchte, Joghurt, Croissants, Bacon, Marmelade und weich gekochte Eier angerichtet. Es ist eins der sechs verschiedenen Frühstücke, die ihnen regelmäßig serviert werden. Es gibt auch drei verschiedene Säfte: Orange, Grapefruit und Tomate. Und zwei Softdrinks: Dr. Pepper und Coca-Cola.

Zecke schnappt sich ein Stück Bacon von der Servierplatte und beißt davon ab. Er liebt den leckeren Geschmack nach geräuchertem Gummi.

»Iss ordentlich«, mahnt Nanny Warburough und zeigt im Hinausgehen auf seinen Stuhl.

Die Nanny isst nie mit ihnen zusammen. Sie nutzt die Zeit, um ihre Betten zu machen und ihre Zimmer aufzuräumen. Sie nennt Zecke und Polly immer ihre ›kleinen Ferkelchen‹, weil sie so unordentlich sind.

Zecke füllt sich einen Teller und setzt sich Polly gegenüber an den Tisch. Der Teenager wirkt wie eine Riesin an dem Teetisch, der für Fünfjährige entworfen wurde. Ihre Knie ragen über den Rand des Tisches hinaus. Sie ist wie die riesenhaft gewachsene Alice aus den alten Wunderland-Büchern, nur mit einem Geweih auf ihrem grünen Kopf.

»Du bist genervt«, sagt Zecke zu seiner großen Schwester.

»Nein, bin ich nicht.« Polly starrt nur auf ihren Teller, als wollte sie gleich ihr Gesicht in den Joghurt klatschen.

»Ich kann es immer erkennen, wenn du genervt bist.«

»Halt die Klappe, Zecke.«

Zecke ist nicht sein richtiger Name. Eigentlich heißt er Zachary, aber seine Schwester nennt ihn Zecke, um ihn zu ärgern. Sie sagt immer, dass er sie an ein Insekt erinnert. Aber statt sich wegen des Spitznamens gekränkt zu fühlen, hat Zecke festgestellt, dass er ihm gefällt. Jetzt will er, dass ihn alle immer Zecke nennen, sogar die Kinder in der Schule.

»Ist es, weil Nanny gesagt hat, dass Mom und Dad dich bald holen kommen?«, fragt Zecke.

Polly macht ein finsteres Gesicht und hält ihr Miniaturbesteck über ihren Miniaturteller und ihre Miniaturteetasse.

»Ich bin es so leid, auf sie zu warten«, sagt sie.

»Dann hör auf zu warten.« Zecke sticht mit der Gabel in sein weich gekochtes Ei und verursacht eine Explosion aus weißem und gelbem Glibber auf seinem Teller. »Geh zu ihnen. Verlass den Hort und geh sie suchen.«

Polly seufzt. »Bist du verrückt? Ich würde sie da draußen niemals finden.«

»Sie leben irgendwo in diesem Haus. Wenn du sie suchen gehst, findest du sie irgendwann.«

»Nanny sagt, dass das Haus viel zu groß ist, um sie jemals zu finden, egal wie lange wir suchen. Sie leben ganz am anderen Ende des Hauses.«

»Na und?«, meint Zecke. »Immer noch besser als für den Rest deines Lebens hier zu warten.«

»Ich werde nicht für den Rest meines Lebens warten«, widerspricht Polly. »Irgendwann kommen sie mich holen.«

»Und was ist, wenn sie dich vergessen haben?«

Polly schweigt.

»Wenn ich zu groß für den Hort bin und sie mich vergessen, dann gehe ich sie suchen«, sagt Zecke. »Ich will hier nicht für immer festsitzen. Ich will den Rest des Hauses sehen, vielleicht sogar das Haus verlassen, um den Rest der Welt zu sehen.«

»Ich werde den Hort nicht verlassen, bis sie kommen.«

»Warum nicht?«

»Weil es nicht erlaubt ist.«

»Du hast Angst vor den Kriechern«, sagt Zecke.

Wieder schweigt Polly. Sie spricht nicht gern über die Kriecher.

»Hast du schon jemals einen Kriecher gesehen?«, fragt Zecke. »Ich glaube, dass es sie gar nicht gibt.«

»Natürlich gibt es sie. Das ganze Haus ist voll mit ihnen. Nur der Hort ist geschützt.«

»Sie sind nicht real«, behauptet Zecke. »Nanny sagt uns nur immer, dass die Kriecher da draußen sind, damit wir unsere Zimmer nicht verlassen.«

»Du weißt nicht, wovon du redest. Nur weil du sie nie gesehen hast, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.«

»Hast du sie gesehen?«

»Ja …«

»Lügnerin.«

Zecke tunkt eine Ecke seines Croissants in das flüssige Ei und schaufelt es sich damit in den Mund.

Als es Zeit für die Schule ist, treffen Zecke und Polly sich im Teleportzimmer.

»Habt ihr eure Hausaufgaben?«, fragt Nanny Warburough.

Die Kinder geben ihre Speicherkarten der Nanny, die sie in das Teleportsystem einsteckt, um die Dateien an die Schulcomputer zu schicken.

»Heute darf ich neben Darcy sitzen«, sagt Zecke mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

»Wer ist Darcy?«, fragt die Nanny.

»Ich habe dir schon Millionen Mal von ihr erzählt!« Zecke versteht nicht, warum die Nanny immer wieder seine Freundin vergisst. Sie vergisst in letzter Zeit häufig Dinge.

»Das ist das Mädchen in seiner Klasse, in das er verknallt ist«, sagt Polly und schnallt sich ihren Teleporthelm um die Stirn. »Das ist so kindisch!«

»Es ist nicht kindisch«, sagt Zecke. »Sie ist meine Freundin.«

»Du bist ein Idiot.«

»Komm schon, Polly«, sagt die Nanny. »Ich kann mich erinnern, dass du auch in einen Jungen aus deiner Klasse verschossen warst, als du in seinem Alter warst.«

Polly verdreht die Augen und legt sich auf die Teleportpritsche. »Damals war ich auch eine Idiotin.«

Als beide Kinder in Position sind, bedient die Nanny die Teleportkontrollen und ihre Körper werden schlaff. Ihre Bewusstseine werden weit fortgeschickt.

»Bitte geht auf eure Plätze«, sagt der Lehrer, als Zecke in seinem Klassenzimmer materialisiert.

Andere Kinder materialisieren in den gegenüberliegenden Ecken des Klassenraumes, eines nach dem anderen. Alle tragen die gleichen schwarzen Schuluniformen wie Zecke und alle haben ähnliche Frisuren und Hauttöne. Wie immer sprechen alle leise und befolgen brav die Anweisungen des Lehrers. Mr. Robertson ist nicht sehr nachsichtig mit Schülern, die den Unterricht stören.

»Dies ist kein Ort zum Schwatzen«, sagt Mr. Robertson zu niemandem im Besonderen und rückt seine Drahtgestellbrille zurecht. »Dies ist ein Ort des Lernens.«

Zecke setzt sich an seinen Tisch und wartet darauf, dass Darcy kommt. Sie wird direkt neben ihm sitzen, am gleichen Tisch. Es gibt drei Reihen Tische und jeder Tisch ist groß genug für zwei Schüler – einen Jungen und ein Mädchen. So war es schon immer, seit dem Kindergarten. Jungen und Mädchen arbeiten in Zweierteams zusammen, um sie auf ihr Leben als verheiratete Paare vorzubereiten, wenn sie einmal erwachsen sind. Natürlich möchten die Jungen und Mädchen gern mit denen zusammen in einem Team sein, die sie am meisten mögen. Dies ist das erste Mal, dass Zecke mit Darcy zusammenarbeiten wird – mit dem Mädchen, in das er seit der dritten Klasse verliebt ist.

Während sich der Klassenraum zusehends füllt, bleibt der Platz neben ihm leer.

»Ist Darcy schon da?«, fragt er das Paar, das vor ihm sitzt.

Der Junge und das Mädchen zucken beide nur mit den Achseln.

Zecke wartet und hält in den Ecken des Raumes nach ihrem Erscheinen Ausschau.

Darcy ist nicht das hübscheste Mädchen in der Schule, wie alle außer Zecke finden, der schon immer in sie verknallt war. Sie hat kurze pepsi-blaue Haare und einen langen Pony, der ihr über ein Auge hängt. Ihre Haut hat einen leicht dunkleren Ton als die aller anderen Kinder, ist aber auch glatter, glänzender. Sie ist ein bisschen klein und etwas zu mager, aber ihre dunklen schwarzen Augen schimmern, wenn sie Zecke ansieht. Sie lächelt nur selten, aber wenn, dann ist ihr Lächeln strahlender als das aller anderen.

Zecke hat immer davon geträumt, neben ihr zu sitzen. Gestern hat Darcy ihm gesagt, dass er ihre Hand während des Unterrichts halten dürfe, vielleicht sogar die ganze Zeit, solange Mr. Robertson sie nicht dabei erwischt. Und jetzt sitzt Zecke an seinem Tisch und zittert vor Aufregung. Aber Darcy ist immer noch nicht da.

»Ich will, dass du mit mir den Platz tauschst«, sagt eine Stimme hinter ihm.

Zecke dreht sich um. Es ist Mike, der größte Junge in der Klasse. Zecke hat ihn noch nie gemocht. Schon seit der ersten Klasse benimmt dieser Typ sich wie ein Vollidiot.

»Was?«, fragt Zecke.

»Ich will neben Darcy sitzen«, sagt Mike. »Geh und setz dich zu Tori.«

»Vergiss es. Ich werde neben Darcy sitzen.«

Mike packt die Lehne von Zeckes Stuhl und zieht ihn von seinem Tisch weg.

»Sei nicht so egoistisch«, sagt Mike. »Ich verdiene es, neben ihr zu sitzen. Sie hat gesagt, dass sie mich mag.«

»Nein, hat sie nicht.«

Zecke weiß, dass Mike lügt. Er glaubt nicht einmal, dass Mike sie mag, ganz zu schweigen davon, dass sie ihn mögen könnte. Es hat vorher nie einen Wettstreit um Darcys Zuneigung gegeben. Sie ist schon immer Zeckes Mädchen gewesen.

»Woher willst du das wissen?«, meint Mike. »Wir passen perfekt zusammen. Jeder weiß das.«

»Sie ist meine Freundin!«

Mike ignoriert das und drückt gegen die Lehne von Zeckes Stuhl, um ihn hinunterzukippen. »Weg von dem Platz!«, sagt Mike und versucht, Zecke zu Boden zu stoßen.

Alle starren sie an.

»Michael, geh zurück auf deinen Platz«, sagt Mr. Robertson.

»Das ist mein Platz«, protestiert Mike. »Er hat ihn mir geklaut.«

»Nein, hab ich nicht!«

»Setz dich bitte hin«, sagt der Lehrer.

Mike lässt den Stuhl los und geht zurück in den hinteren Teil des Klassenraumes zu seinem Platz neben dem pummeligen Mädchen mit den Zöpfen. Als Zecke zu ihm nach hinten schaut, flüstert der große Junge quer durch den Raum: »Du bist tot.«

Zecke macht ein Fratzengesicht, indem er seine Zeigefinger in die Nasenlöcher steckt und Mike die Zunge zeigt.

Als der Unterricht beginnt, ist Darcy immer noch nicht aufgetaucht. Zecke fängt an, sich Sorgen zu machen.

»Mr. Robertson?«, fragt er den Lehrer. »Wo ist Darcy?«

Der Lehrer hält inne. Er ist es nicht gewohnt, von seinen Schülern unterbrochen zu werden.

»Sie fehlt heute«, sagt der Lehrer.

»Aber sie fehlt sonst nie«, sagt Zecke.

»Keine Unterbrechungen«, sagt der Lehrer.

Zecke schaut auf den Computermonitor auf seinem Tisch, kann sich aber nicht auf den Unterricht konzentrieren. Er macht sich Sorgen um Darcy. Die meisten Schüler kommen zur Schule, selbst wenn sie verletzt sind oder sich nicht wohlfühlen. Es muss schon etwas Ernstes sein, damit sie nicht zum Unterricht kommt. Und dann fällt Zecke auf, dass auch noch ein paar andere Schüler fehlen. Das ist seltsam. Vorher haben nie mehr als zwei Schüler am gleichen Tag gefehlt, und auch das passiert höchstens ein Mal im Jahr. Vielleicht gab es irgendwelche Störungen im Teleportsystem.

Als die Pause beginnt, beschließt Zecke, dass es am besten ist, sich erst einmal keine Sorgen um Darcy zu machen. Bestimmt ist sie morgen wieder in der Schule. Dann kann er sie fragen, warum sie heute nicht da war.

»Lust auf Basketball?«, fragt Justin ihn auf dem Schulhof.

Justin ist Zeckes bester Freund in der Schule. Er ist ein schlaksiger, unbeholfener Junge mit Brille und langen Haaren. Alle nennen ihn Frosch, weil er viel herumhüpft. Vor allem wenn er Basketball spielt, hüpft er viel, und im Spiel Mann gegen Mann ist er so gut wie unschlagbar. Sie beide sind schon seit zwei Jahren befreundet, hauptsächlich deshalb, weil Zecke der Einzige ist, der sich traut, gegen Justin anzutreten.

»Klar«, sagt Zecke.

Normalerweise sieht Darcy ihnen von der Schaukel aus zu. Das ist in letzter Zeit das, was Zecke am Basketballspielen am meisten mag. Sie sitzt immer auf der Schaukel und feuert ihn an. Es erscheint ihm fast sinnlos zu spielen, ohne dass sie dabei zusieht.

»Keine Dreipunktewürfe heute«, sagt Justin.

»Okay.«

Justin lässt den Ball auf der kleinen Betonfläche aufprallen und passt ihn zu Zecke. Der Schulhof ist nicht sehr groß. Er ist genauso groß wie das Klassenzimmer, nur draußen, und besteht zur Hälfte aus Sand und zur Hälfte aus Beton. Auf der Sandseite stehen zwei Rutschen, drei Schaukeln, ein Drehkarussell und ein Klettergerüst. Auf der Betonseite gibt es zwei Tetherball-Pfähle, einen Basketballkorb an der Wand des Schulgebäudes und eine freie Fläche für Himmel und Hölle, Gummitwist und Four Square. Eine fünf Meter hohe Mauer umgibt den Schulhof. Dahinter sieht man nur den wolkenlosen blauen Himmel.

»Ich bin in Froschs Team.« Mike kommt quer über den Schulhof zu ihnen.

Zecke sieht den wütenden Blick in Mikes Augen. Der große Junge ist immer noch sauer wegen vorhin.

»Du kannst nicht mitspielen«, sagt Zecke. »Wir spielen einer gegen einen.«

»Nein, es ist zwei gegen zwei.« Mike reißt Zecke den Ball aus der Hand. »Ich spiele mit, wann es mir passt.«

Mike lässt den Ball vom Boden zurückprallen. Zecke hechtet nach dem Ball, aber Mike dribbelt ihn von ihm fort.

»Gib ihn zurück«, sagt Zecke. »Du kannst nicht mitspielen.«

»Was denn? Willst du’s dem Lehrer petzen wie ein kleines Baby?«, fragt Mike, ganz aufs Dribbeln konzentriert.

Justin schreitet ein. »Du kannst mitspielen, wenn du noch einen Spieler findest. Ich würde gerne zwei gegen zwei spielen.«

Zecke funkelt Justin böse an. Sein Freund weiß nicht, was er tut. Mike will nicht zum Spaß spielen. Er will nur spielen, damit er Zecke schubsen und stoßen und ihm ein Bein stellen kann, um dann so zu tun, als wäre es keine Absicht gewesen.

»Wenn du zwei gegen zwei mitspielen willst, dann solltest du dir besser einen für dein Team suchen«, sagt Mike zu Zecke.

Justin und Zecke sehen sich auf dem Schulhof um. Alle sind mit Seilspringen oder dem Klettergerüst beschäftigt.

»Keiner sonst spielt Basketball«, sagt Zecke.

»Was ist mit Simon?«, fragt Justin. »Er spielt manchmal mit.«

Zecke erstarrt, als er den Namen Simon hört. Den Namen hat schon seit einer ganzen Weile keiner mehr erwähnt.

»Simon?«, fragt Zecke mit einem Blick zur Tür des Klassenzimmers. »Machst du Witze?«

»Geh und frag ihn«, sagt Mike.

Simon ist das ganze Jahr noch nicht raus in die Pause gegangen. Er hat überhaupt seit der vierten Klasse kein einziges Wort mehr gesagt. Er sitzt nur immer hinten in der Klasse, starrt nach vorn, spricht kein Wort. Er beteiligt sich nicht am Unterricht und steht nie von seinem Platz auf. Alles, was er macht, ist, auf seinem Stuhl zu sitzen und zu zucken und unkontrolliert zu zittern.

»Den frag ich nicht«, sagt Zecke. »Er ist gruselig.«

Die drei Jungen schauen durch das Fenster zu Simon hinein. Der Junge zittert immer noch, seine Zähne klappern. Es ist, als hätte er irgendein schreckliches psychisches Trauma durchlebt und könnte sich nicht daraus losreißen. Zecke war früher mal mit dem Jungen befreundet, als sie beide noch jünger waren. Er hat keine Ahnung, was dazu geführt hat, dass er sich so verändert hat.

»Was stimmt nur nicht mit ihm?«, fragt Zecke.

»Fragst du ihn jetzt oder nicht?«, fragt Mike.

»Ich bin sicher, dass er mitspielt, wenn du ihn fragst«, sagt Justin.

Das Komischste an Simon ist, dass nie jemand über ihn spricht. Nicht der Lehrer und auch nicht die anderen Schüler. Er ist wie ein Geist, den nur Zecke sehen kann und der hinten in der Klasse herumspukt. Niemand hat je etwas dazu gesagt, warum er immer nur zitternd dasitzt. Mike und Justin sind die Ersten, die seit Langem Simons Namen erwähnt haben, und auch sie scheinen sein gruseliges Verhalten gar nicht zu bemerken.

»Frag ihn selber«, sagt Zecke. »Ich geh nicht in die Nähe von dem Typen.«

»Dann heißt es wohl zwei gegen einen«, sagt Mike und hält den Ball so hoch über seinen Kopf, dass Justin ihn nicht erreichen kann. »Ich und Frosch gegen dich.«

»Zwei gegen einen ist unfair«, sagt Justin. »Es muss zwei gegen zwei sein oder einer gegen einen.«

»Wie wär’s mit keiner gegen keinen?« Mike wirft den Basketball mit aller Kraft und schleudert ihn über die Mauer in den blauen Himmel.

»He!«, ruft Justin, als sein Ball verschwindet.

»Du bist so ein Idiot, Mike«, sagt Zecke.

Im Weggehen versetzt Mike Zecke einen kräftigen Stoß.

»Morgen sitze ich auf deinem Platz!«, sagt er. »Wenn ich dich da sitzen sehe, wenn ich in die Klasse komme, dann wird es dein Kopf sein, den ich über die Mauer werfe.«

Und dann stößt er ein anderes Kind von der Schaukel, nur um zu sehen, wie es mit dem Gesicht voran in den Sand fällt.

»Was machen wir jetzt?«, fragt Justin.

Er ist den Tränen nahe. Er liebt Basketball so sehr und das war der einzige Ball, den sie in der Schule hatten.

»Wir sollten ihn holen gehen«, sagt Zecke.

»Wie denn?«

Zecke weiß, dass es einen Weg geben muss, um den Ball zurückzubekommen. Er muss nur auf die andere Seite der Mauer gelangen. Aber er hat keine Ahnung, wie er das anstellen soll. Es gibt keine Türen, die auf die andere Seite führen. Der Schulhof ist komplett ummauert. Die einzige Tür führt in den Klassenraum, und der Klassenraum hat keine Ausgänge. Die Schule besteht nur aus einem Raum und einem Schulhof mit einer Tür, die beides verbindet. Die Kinder teleportieren rein und raus, wenn sie kommen und gehen. Das einzige Anzeichen für eine Welt außerhalb der Schule ist der leuchtend blaue Himmel.

»Wir könnten versuchen, über die Mauer zu klettern«, schlägt Zecke vor.

»Das dürfen wir nicht«, sagt Justin.

»Hilf mir, auf den Basketballkorb zu klettern.«

Justin seufzt und gibt nach. Er macht eine Räuberleiter, damit Zecke sich hoch auf den Ring des Basketballkorbs ziehen und ein Bein durch das Netz hängen kann. Die anderen Kinder auf dem Schulhof unterbrechen das, was sie gerade tun, um zuzusehen.

»Du solltest nicht über die Mauer klettern«, sagt Justin.

Zecke steht langsam auf und hält sich dabei an der Rückwand des Korbes fest. In dieser Höhe ist sein Kopf auf gleicher Höhe mit der Oberkante der Mauer. Noch kann er nichts dahinter sehen.

»Es ist mir egal, ob ich Ärger kriege«, meint Zecke.

»Aber es ist gefährlich«, sagt Justin.

»Warum? Gibt es da draußen Kriecher?«

»Was sind Kriecher?«, fragt Justin.

Zecke schaut zu ihm hinunter. »Kennst du keine Kriecher?«

Justin zuckt mit den Achseln.

»Du weißt schon – diese Biester, die sich in den Schatten verstecken«, sagt Zecke. »Habt ihr bei euch denn keine Kriecher in den Korridoren außerhalb eures Horts?«

Justin hat keine Ahnung, wovon er redet. »Ich habe unseren Hort noch nie verlassen. Ich weiß nicht, was außerhalb davon ist.«

Zecke klettert vom Basketballkorb hinunter, bevor der Lehrer sieht, was er da macht. Er will von Angesicht zu Angesicht mit Justin reden.

»Du hast wirklich noch nie von den Kriechern gehört?«, fragt er.

Justin zuckt mit den Achseln. »Noch nie.«

Zecke fragt sich, ob er wohl recht hat mit seiner Vermutung, dass es die Kriecher tatsächlich gar nicht gibt und sie nur etwas sind, das Nanny Warburough erfunden hat, damit sie nie den Hort verlassen.

»Sind das Monster?«, fragt Justin.

»Weiß ich nicht. Meine Nanny sagt, dass sie gefährlich sind.«

Justin macht ein komisches Gesicht, als ob Zecke sich wie ein Verrückter anhören würde.

»Vergiss es«, sagt Zecke. »Wahrscheinlich gibt es sie gar nicht.«

2

Seit Jahren versucht Zecke sich vorzustellen, wie seine Eltern eigentlich aussehen. Er verbringt unzählige Stunden damit, am Tisch in der Teestube zu sitzen und Hunderte von Bildern von ihnen zu malen. Konzentriert bemüht er sich, ihr Aussehen einzufangen.

Er glaubt, dass er irgendwo in seinem Unterbewusstsein genau weiß, wie sie aussehen, und wenn er nur oft genug Bilder von Moms und Dads malt, dann wird irgendwann eines dieser Bilder dieses verborgene Wissen zum Vorschein bringen.

Die primitiven Zeichnungen sind über alle Zimmer verstreut, aufgehängt an Wänden und Decken, unter Möbel gestopft, versteckt in den Lüftungsschächten, gestapelt auf allen Bücherregalen in der Bibliothek. Zecke ist sich immer noch nicht ganz darüber im Klaren, wie seine Eltern denn nun aussehen, obwohl er schon so viele Bilder gemalt hat, aber er ist sich ziemlich sicher, dass sein Vater kurze schwarze Haare hat und eine Brille trägt wie ein Lehrer. Und seine Mutter hat sehr wahrscheinlich grüne Haare, so wie seine Schwester.

Er stellt sich vor, dass seine Mutter Polly ähnlich sieht, nur größer, klüger, stärker, hübscher, und ihr Geweih reicht wahrscheinlich bis zur Decke. Und sie wäre immer fröhlich und würde nie meckern oder ihn schlagen, nur weil er ihr Zimmer betreten hat. Sie würde die ganze Zeit nett zu ihm sein, immer.

Polly sagt oft zu Zecke, dass ihre Mom wahrscheinlich alt ist, so wie Nanny Warburough, aber Zecke kann sich nicht vorstellen, dass sie wie die alte Frau aussieht. Die Nanny ist klein, dick und hässlich und hat nicht einmal mehr ein Geweih. Sie ist das genaue Gegenteil davon, wie er sich seine richtige Mom vorstellt.

Weil die Nanny zu alt ist und Polly zu jung, stellt Zecke sich vor, dass seine Mutter mehr wie die Frauen in der Bibliothek aussieht. Viele der Bücher, die er gelesen hat – oder versucht hat zu lesen –, sind voll mit Bildern von erwachsenen Frauen. Keine von ihnen hat ein Geweih oder grüne Haare – Nanny Warburough sagt, dass die Bücher in der Bibliothek aus einer sehr viel früheren Zeit stammen, bevor die Frauen Geweihe hatten –, aber er könnte sich jede von ihnen gut als seine Mutter vorstellen.

Früher hat er immer in diesen Büchern gemalt, er hat den Bildern von erwachsenen Frauen grüne Haare und Geweihe gemalt. Nanny Warburough war immer ganz aufgebracht, wenn er das machte. Sie sagte ihm, dass Bücher zu wichtig seien, um darin herumzukritzeln. Zecke hat nie verstanden, warum, aber er hat aufgehört, in die Bücher zu malen. Jetzt benutzt er die Bilder nur als Anregung für seine eigenen Zeichnungen.

Hätten seine Eltern doch nur Bilder von sich selbst bei Nanny Warburough gelassen, dann wäre Zecke nicht so besessen davon. Aber so bekommt er sie nicht mehr aus dem Kopf.

»Wer sind die Menschen, die mich gemacht haben?«, fragt er ständig. »Wie sehen sie aus? Warum können sie uns nicht besuchen?«

Und die Nanny antwortet immer: »Sie sind sehr wichtige Personen. Sie sind viel zu beschäftigt, um euch zu besuchen.«

»Nicht mal für ein paar Minuten?«

»Nicht mal für ein paar Minuten.«

»Aber was machen sie die ganze Zeit auf der anderen Seite des Hauses? Was ist denn so wichtig, dass wir keinen Platz in ihrem Leben haben, bis wir erwachsen sind?«

»So sind Eltern heutzutage nun einmal«, sagt die Nanny dann, »vor allem eure Eltern.«

»Aber ich will wissen, wie sie sind. Ich muss es wissen.«

»Dies ist ein sehr großes Haus. Es wäre viel zu viel Mühe, den ganzen langen Weg hierherzukommen, nur um die Neugier eines Kindes zu befriedigen.« Und dann sagt die Nanny immer: »Du wirst sie eines Tages sehen, wenn du älter bist. Dann werden sie für dich bereit sein. Und von dem Tag an wirst du ein bedeutender Teil ihres Lebens sein.«

Weiter diskutiert Zecke dann nie mit ihr, aber es reicht trotzdem nicht, um ihn zufriedenzustellen. Er hat immer noch das Gefühl, dass er andauernd Bilder von seinen Eltern malen muss. Das ist das, was einem Zusammensein mit ihnen am nächsten kommt.

Zecke drückt einen Schalter auf dem Tisch in der Teestube. Die Mitte der Tischplatte öffnet sich und Platten und Schüsseln mit heißem Essen steigen nach oben. Es gibt Schinken, Senf, Nudeln mit Käsesoße, Erbsen und Möhren, Früchtecocktails, Milch und Coca Cola Classic. Es ist eins der elf Abendessen, die ihnen serviert werden.

»Wo kommt das ganze Essen her?«, fragt Zecke und starrt in die Öffnung im Tisch, während das Essen serviert wird.

»Aus dem Tisch«, sagt Polly. »Dumme Frage.«

»Aber wer macht es?«

»Niemand macht es.«

»Na ja, irgendjemand muss es machen.«

Nanny Warburough betritt die Teestube und wischt Zecke mit einer feuchten Serviette Schmutz aus dem Gesicht.

»Nanny, wo kommt das Essen her?«, fragt Zecke sie.

»Die Maschinen unten bereiten es zu«, antwortet die Nanny. »Es ist alles voll automatisiert.«

»Du meinst solche Maschinen wie die Waschmaschine?«

»Genau, wie die Waschmaschine. Nur statt Wäsche zu waschen, bereiten diese Maschinen das Essen zu. Sie wurden schon vor langer Zeit programmiert.«

Zecke beißt von einer Schinkenscheibe ab. »Ich mag die Kochmaschinen«, meint er lächelnd. »Sie sind nett.«

Die Nanny rubbelt Zecke über die Haare und verlässt das Zimmer.

»Eine Kochmaschine ist nicht nett«, sagt Polly. »Es ist nur eine Maschine.«

»Ich finde sie nett. Sie macht uns jede Menge zu essen.«

»Du findest alle Maschinen nett.«

»Die meisten«, sagt Zecke. »Außer der Babymaschine. Die mag ich nicht. Die Babymaschine ist fies.«

»Sie ist fies?« Polly kichert.

»Sie ist ein Idiot.«

»Warum ist sie ein Idiot?« Polly lacht über das ernste Gesicht, das ihr Bruder macht.

»Sie macht mir Angst.«

»Woher weißt du überhaupt, wie die Babymaschine aussieht? Du darfst doch gar nicht ins Babyzimmer.«

»Ich kann sie vom Lüftungsschacht aus sehen. Ich glaube, der Teufel hat diese Maschine gemacht.«

»Du solltest dich vom Babyzimmer fernhalten«, meint Polly. »Kriecher könnten durch den Babytunnel hereinkommen.«

»Ich hab nie einen Kriecher gesehen.«

»Aber sie könnten dich gesehen haben.«

»Kriecher gibt es in Wirklichkeit gar nicht. In der Schule habe ich mit Justin über Kriecher gesprochen, aber er hat noch nie davon gehört.«

»Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest. Natürlich gibt es sie!«

»Ich glaube nicht an sie.«

»Und warum nicht?«

»Glaubst du daran? Ich hab nie welche gesehen. Wie kann ich an etwas glauben, das ich noch nie gesehen habe?«

»Auch Mom und Dad hast du noch nie gesehen«, sagt Polly. »Glaubst du auch nicht an sie?«

»Natürlich glaube ich an Mom und Dad.«

»Aber nicht an die Kriecher?«

»Nein.«

»Wenn du nicht an sie glaubst, dann geh raus in den Korridor und sieh, was passiert.«

Zecke sagt nichts. Er senkt den Blick. Er ist noch nie raus in den Korridor gegangen.

»Hast du Angst?«, fragt Polly. »Wenn du nicht an die Kriecher glaubst, wovor hast du dann Angst?«

»Vor nichts«, sagt Zecke. »Es ist nur so dunkel da draußen.«

»Dann nimm ein Licht mit. Wenn es die Kriecher nicht gibt, wird dir nichts passieren.«

»Es gibt sie nicht.«

»Beweis es.«

»Das tu ich!«

»Dann geh raus in den Korridor.«

»Das tu ich!«

»Jetzt gleich?«

»Jetzt gleich.«

Zecke hat erst zweimal in seinem Leben einen Blick in den Korridor vor dem Hort geworfen. Beim ersten Mal hatte Polly eine ihrer Puppen angezündet und Nanny Warburough musste den Qualm aus dem Hort lüften. Draußen im Korridor gab es kein Licht, aber Zecke hätte schwören können, dass er dort Gesichter sah, Dinge, die sich im Dunkeln bewegten. Nanny Warburough konnte ihn überzeugen, dass es nur der Qualm war, der in den Schatten waberte und ihn furchterregende Dinge sehen ließ, die gar nicht da waren.

»Da ist die Tür«, sagt Polly und zeigt auf den Ausgang. »Geh raus, wenn du beweisen willst, dass es keine Kriecher gibt.«

Zecke starrt die Ausgangstür an. Die Tür ist größer als alle anderen Türen im Hort. Sie ist aus Holz, aber verstärkt mit schweren Eisenbeschlägen. Eine Reihe von Metallriegeln und -schlössern reicht vom Boden bis zur Decke.

»Ich werde es beweisen«, sagt Zecke und geht langsam zur Tür.