Über die Autorin
Marleen S. Meri, geboren 1998, schreibt schon Geschichten, seit sie die ersten Buchstaben zu Papier bringen kann. Aufgewachsen in einer malerischen Kleinstadt im Herzen Westfalens, war sie seither zum Träumen aufgelegt und behielt ihre kindliche Fantasie auch zu Studiumszeiten noch im Herzen.
Seit 2017 studiert sie Germanistik und Geschichtswissenschaften an der (entgegen anderer Behauptungen existierenden) Universität Bielefeld, wo sie stets zwischen traditionellen Dramen und aktueller Belletristik zu finden ist. In ihrer Freizeit lektoriert sie Bücher, liest Korrektur und erlernt spannende, wenn auch nicht immer nützliche Fremdsprachen. Oft kann man sie auch mit dem Stift in der Hand vorfinden, eine neue Idee oder ihre Lieblingsfiguren auf Papier bannend.
Nach langen Jahren auf mehreren Autorenplattformen, einigen Preisen, zahlreichen bestärkenden Testlesern und auch sonst guten Vorzeichen greift sie nun nach den Sternen und veröffentlicht ihr erstes Buch.
WREADERS E-BOOK
Band 109
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-book-Ausgabe
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2021 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Umschlaggestaltung: Jasmin Kreilmann
Illustrationen: Marleen S. Meri
Karte: Jasmin Kreilmann,
Seitenzierden: Dena Taherianfar
Lektorat: Solia Carmen, Johanna Struck
Satz: Leoni Triltsch
www.wreaders.de
ISBN: 978-3-96733-213-1
Für Valentin.
Ich liebe dich.
Ohne dich wäre das Buch ganz mies.
Rückkehr
»Jermaine!«
Ich beugte mich dicht über die Tischplatte, geradewegs auf Augenhöhe mit der Flasche, die ich neben der entzündeten Petroleumlampe platziert hatte. Mit einer Pinzette drückte ich das kleine, rotbesegelte Schiff gegen das Harz. Ich biss mir auf die Unterlippe, während ich mein Bestes gab, die Hand ruhigzuhalten. Ein bisschen Ruckeln bestätigte, dass es festsaß.
Kurz hielt ich inne und holte Luft, neigte den Kopf. Ich zog die Pinzette aus dem Flaschenhals hervor und ergriff die Bindfäden, die aus der Öffnung herausschauten. Die Augenbrauen konzentriert zusammengeschoben, zog ich an den Fäden und richtete die weinroten Segel auf.
»Ha!«, sagte ich mit triumphierendem Lächeln.
»Jermaine!«, hörte ich Mutter erneut von unten. »Jeanne, Aimée! Kommt ihr zum Essen?«
»Ich bin gleich da!«, rief ich und konzentrierte mich weiter auf das Schiff. Ich wickelte die Bindfäden um den Flaschenhals und verknotete sie mit spitzen Fingern, ehe ich den Korken aufsetzte. Zufrieden hob ich die Flasche auf Augenhöhe und begutachtete mein Werk. Die kleine Galeone stand seinem Original wahrlich in wenig nach – wenn man davon absah, dass sie viel kleiner war. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie sich die Segel an den drei Masten im Wind blähten, wie die Galionsfigur mit dem perlweißen Haar mit Gischt benetzt wurde. Beinahe konnte ich die Rufe der Matrosen und das Singen der Takelage in den Ohren klingen hören.
Ich stand auf und stellte das Schiff behutsam zurück zu den anderen ins Regal. Noch einmal strich ich mit dem Daumen über das goldene Plättchen, auf dem der Name der Galeone eingraviert war: Rote Ruby. Sie war mein liebstes Stück in der Sammlung. Vater und ich hatten sie damals besonders aufwendig bemalt, sodass sie nun das beeindruckendste und detaillierteste aller Flaschenschiffe in meinem Regal war. Sie war wirklich schön. Und in erster Linie war sie unser Schiff.
»Kinder!«, rief Mutter nicht ohne Ungeduld.
»Ich komme!« Im Bad wusch ich mir rasch die Hände in einer Wasserschale, um den Harz abzubekommen. Mit einem eiligen Blick in den Spiegel fasste ich meine roten Locken zusammen, um den Sonnenbrand im Nacken zu untersuchen, den ich mir bei der spätsommerlichen Hitze zugezogen hatte. Sorgsam zupfte ich das weiße Hemd zurecht, strich über die neue, geschmeidige Lederhose, die ich vor kurzem bei der Schneiderin abgeholt hatte. Ha! Bei meinem Anblick fühlte ich mich wie die Seefahrerin, die ich bald sein würde. Ich funkelte mein eigenes Selbst im Spiegel an, es sollte sich gefälligst ranhalten.
Die Locken band ich mir mit wenigen Griffen zurück, bevor ich mich auf den Weg die Treppe hinab machte. Der verführerische Duft von geräuchertem Fisch stieg mir in die Nase und ich bedachte das Tablett Grauforellen mit einem sehnsüchtigen Blick, als ich die Küche betrat.
Lou knallte gerade schlecht gelaunt die Teller auf den Tisch, die Plätze der Zwillinge waren noch leer. Mutter werkelte an der Arbeitsplatte und summte ein mernausches Volkslied. Aus dem geöffneten Fenster wehte eine frühabendliche Brise in die Stube und gab den Blick auf das glitzernde Meer draußen frei.
Koralle erhob sich gerade vom Fensterbrett. In der Hoffnung, etwas vom Essen abzubekommen, nahm die Katze vor dem Tisch Platz und miaute.
»Ah, Jermaine«, sagte Mutter und bedachte mich mit einem amüsierten Lächeln. »Es ist schön zu sehen, dass du noch da bist. Ich hatte angenommen, du seist aus dem Fenster gestiegen und hättest auf der Fregatte angeheuert, die ich heute Morgen am Pier gesehen habe.«
»Was für eine Fregatte?«, fragte ich und trat an die Arbeitsplatte, um ihr zu helfen. »Eine von hier? War sie schön?«
»Sie stammt aus Ada, glaube ich«, erläuterte sie, woraufhin ich aufgeregt zu gestikulieren begann.
»Meinst du, die Matrosen würden sich mit mir unterhalten? Vater hat gesagt, die nächste Reise der Ruby wird nach Ada gehen und …«
»Ich weiß, ich weiß«, fiel Mutter mir ins Wort und lachte, als ich verlegen die Zeigefinger gegeneinander tippte. »Und nächstes Mal darfst du mitfahren, hat er gesagt. Dann wirst du endlich Matrosin und reist auf der Ruby.« Sie wuschelte mir durchs Haar, als wäre ich acht und nicht achtzehn.
Unwillkürlich biss ich mir auf die Unterlippe, weil die Neuigkeiten eine süße Aufregung in mir geweckt hatten. Ich versuchte, mir die ewige Nacht Adas vorzustellen, die Polarlichter und die geheimnisvollen Fjorde – und allem voran das Reisen auf der Ruby, die uns dorthin tragen würde. Nicht mehr lang!
Wir hatten gerade alles Geschirr auf dem Tisch abgestellt, als die Zwillinge in die Küche gestürmt kamen.
»Erste! Erste!«, rief Jeanne, die eine Hand auf die Tischplatte sausen ließ und einen Freudentanz aufführte. Aimée kam von der anderen Seite angelaufen.
»Das ist ungerecht, du hast mich geschubst!«, beschwerte sie sich.
»Hab ich gar nicht!«
»Hast du wo-ohl!«
»Hab ich gar nicht!«
»Hast du …«
»Ihr habt beide gewonnen«, mischte sich Mutter ein, die nach ihrem Stock gegriffen hatte und nun auf dem Stuhl am Kopfende Platz nahm. Dabei entwich ihr ein leises Ächzen. »Kommt, setzt euch hin, wir wollen zu Abend essen.«
»Ist es schlimmer geworden mit deiner Hüfte?« Ich hatte nach der Gabel gegriffen, hielt sie jedoch zunächst nur fest.
Mutter atmete langsam aus, ehe sie mich ansah. »Es geht schon, Jermaine. Keine Sorge.«
»Willst du nicht lieber ein paar Bedienstete einstellen?«, fragte ich. »Es scheitert doch nicht am Geld.«
Sie wedelte abwehrend mit einer Hand. »Nichts da, hier kommt mir niemand Fremdes ins Haus.«
»Aber wenn ich bald mit Vater unterwegs bin …«
»Dann habe ich noch immer drei weitere Töchter, die mir zur Hand gehen können«, sagte sie. Jeanne erwiderte ihr Lächeln, während Lou desinteressiert ihre Nägel betrachtete und Aimée das Gesicht aufstützte.
»Können wir anfangen? Ich hab Riesenhunger«, quengelte sie. Es gelang ihr noch, Mutters Tischgebet auszuhalten, ehe sie nach dem Brotkorb griff.
»Ich habe das Flaschenschiff fertig repariert«, berichtete ich, während ich mir Wasser eingoss.
»Und? Wieder wie neu?«, fragte Mutter.
»Als wäre nichts geschehen. Der Sockel war zum Glück noch heil, deswegen hat es gereicht, die Flasche zu ersetzen.«
»Wirklich merkwürdig, wie es einfach so aus dem Regal fallen konnte«, meinte Mutter und legte ein Stück Fisch auf Jeannes Teller.
Lou stocherte in ihrem Essen. »Vielleicht ja ein schlechtes Omen.« Auf Mutters fragenden Blick hin zuckte sie mit den Schultern. »Ich meine ja nur. Das Schiff ist schon fast zwei Wochen zu lang weg. Sie könnten in einen Sturm geraten oder von Piraten überfallen worden sein … man kann nie wissen.«
»Lou«, sagte Mutter tadelnd. »So etwas wollen wir nicht denken.«
»Ist doch wahr«, murmelte meine Schwester und wandte sich wieder dem Fisch zu.
Ich schluckte, während ich ein Stück Forelle abtrennte. Es stimmte: Die Ruby war nun schon mindestens zehn Tage länger fort als geplant. Zwei Wochen waren eigentlich für eine Strecke geplant, was kombiniert mit dem Rückweg und zwei Nächten in Gladys bedeutete, dass die Ruby ziemlich exakt einen Monat für den Weg benötigte.
Ich verbot mir solche Gedanken, doch auch ich kam nicht umhin, ein wenig Sorge zu empfinden. Immer wieder erinnerte ich mich, wie seltsam Vater bei unserem Abschied gewesen war. Er hatte meine Stirn geküsst und mich in die Arme genommen, so wie jedes Mal, aber er war so … fahrig gewesen. So zerstreut, so gedankenlos. Was, wenn das heruntergefallene Schiff doch ein Zeichen gewesen war? Ein schlechtes Omen von Saesora?
Mutter schien das Thema wechseln zu wollen. Sie wandte sich an Lou und wackelte mit den Augenbrauen. »Ines hat morgen Geburtstag. Ich dachte, wir könnten gemeinsam unser weltbekanntes Walnuss-Roggenbrot backen.«
»Hm«, brummte Lou.
Mutter fuhr unbeirrt fort: »Würde es dir etwas ausmachen, wenn du zumindest die Einkäufe für mich erledigst, bevor der Markt schließt? Ich wollte heute noch anfangen, damit der Teig über Nacht gehen kann. Die Liste habe ich schon geschrieben.«
Jetzt sah meine Schwester hoch und stöhnte auf. »Ich bin verabredet, Mutter.« Ihr Blick huschte in meine Richtung und kreuzte meinen etwas länger als notwendig.
»Ich kann das übernehmen«, warf ich rasch ein.
»Das wäre sehr lieb«, sagte Mutter.
Ich winkte ab und spießte etwas Fisch auf die Gabel. »Dank mir nicht, ich will nur diese adrische Fregatte sehen!«
»Dennoch.« Mutter warf Lou einen Blick zu und griff sich mit einem leisen Laut an die Hüfte, nun beinahe ein wenig theatralisch. »Es ist schön, dass ich auch hilfsbereite Töchter habe.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte Jeanne und baumelte mit den Beinen.
Ich nahm ihr Gesicht in eine Hand und strich mit dem Daumen über ihre Wange. »Du natürlich immer. Aimée, willst du auch mit?«
»Nein, keine Lust«, sagte die Kleine und griff nach einer weiteren Scheibe Brot.
»Nehmt das Geld aus der Anrichte«, meinte Mutter, als sie sah, dass wir beide fertig waren. »Ich beginne dann schon mit den Vorbereitungen.«
»Ich muss auch los.« Lou ließ ihren halb leergegessenen Teller stehen und schob den Stuhl zurück.
»Wann kann ich denn wieder mit dir rechnen?«, fragte Mutter.
»Weiß noch nicht«, antwortete meine Schwester. »Wahrscheinlich schläfst du schon. Wir sehen uns morgen, denk ich.« Sie bedachte mich mit einem raschen Blick, dann griff sie nach ihrem dunkelblauen Tuch und verließ das Haus.
Mutter unterbrach das zurückbleibende Schweigen mit einem Seufzen. Man musste kein Experte sein, um zu sehen, dass Lous Verhalten sie unglücklich stimmte. »Fünfzehn ist ein kompliziertes Alter«, murmelte sie und ich konnte ihr nur beipflichten. Und dabei hatte sie nicht mal eine Ahnung, was es mit dieser Verabredung meiner Schwester tatsächlich auf sich hatte.
Ich stand ebenfalls auf, ließ mir von Mutter die Liste geben und holte ein paar Münzen. Jeanne küsste sie zum Abschied auf die Wange, dann nahm ich ihre kleine Hand in meine und trat vor die Tür.
Das Kapitänshaus lag auf einer kleinen Hügelkuppe in der Nähe des Stadtzentrums und des Hafens. Die Luft war abgekühlt, wenngleich die Sonne noch keine Anstalten machte, hinter dem Horizont zu verschwinden. Die Fischer kehrten von ihrem Tagewerk in den Hafen zurück, spielende Kinder auf dem Kaiserplatz wurden zum Abendessen gerufen, während in den Tavernen die ersten Lichter entzündet wurden. Unten am Strand ließ jemand einen Drachen steigen.
St. Flaeme war einst klein und beschaulich gewesen und hatte seinen alten Charme auch mit dem florierenden Handelsgeschäft nicht verloren. Es hatte sich zu einer angesehenen und wohlhabenden Stadt entwickelt und wurde als Knotenpunkt von Händlern aus aller Welt genutzt. Obst und Gemüse, Salz oder Baumwolle, Fisch und Edelmetalle wurden aus den nördlichen Kolonien und der Adarer Union eingeschifft. Nicht zuletzt war das meiner Familie zu verdanken – die Ruby besegelte die Meere schon seit langem und stärkte nicht nur die Handelsbeziehungen, sondern auch den guten Ruf von St. Flaeme.
Und irgendwann, ja, irgendwann würde ich auch meinen Beitrag dazu leisten.
Lou einzuholen erwies sich als nicht besonders schwierig. Sie marschierte die Anhöhe hinab und band ihr geliebtes Piratentuch am Hinterkopf über dem kastanienfarbenen Haar zusammen.
»Sie soll sich ihr Brot sonstwo hinstecken«, murmelte sie zu sich selbst, obwohl sie wusste, dass wir sie eingeholt hatten. »Backen hat mir eh nie Spaß gemacht, verdammt.«
»Lou …«, setzte ich an.
»Was?«
»Triffst du dich mit Gideon?«
Sie zögerte kurz, ehe sie nickte. »Sag es ja nicht Mutter!«, schärfte sie mir mit erhobenem Finger ein. »Du auch nicht, Jeanne.«
»Wer ist Gideon?«, fragte Jeanne verwirrt.
»Er ist der Sohn eines ehemaligen Matrosen der Ruby«, erklärte ich, »aber sein Vater ist gestorben, als das Schiff in einen Sturm geriet. Seine Mutter war furchtbar wütend auf Vater – es gab da dieses Hafenfest, auf dem sie ihn vor aller Augen angeschrien hat. Wenig später hat man Mutters Schmuck gestohlen, erinnerst du dich noch daran?«
Sie wog den Kopf. »Ich glaube schon.«
»Alle haben angenommen, dass Gideons Familie das gewesen sind. Die Robinsons hatten nie besonders viel Geld – und immerhin waren sie furchtbar wütend auf uns. Die Familie geriet deswegen in Verruf, Gideons Mutter verlor ihre Arbeit und sie mussten ins Armenhaus am Stadtrand ziehen.«
»Aber waren sie es in echt?«, fragte die Kleine. »Haben sie den Schmuck gestohlen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß man nicht. Es wurde behauptet, sie hätten die Sachen versteckt.«
Lou ballte die Hände zu Fäusten. »Gideon hat nichts damit zu tun und der Rest seiner Familie auch nicht. Die Leute tun ihnen Unrecht!«
»Und dennoch musst du Mutter erzählen, dass ihr euch mögt. Früher oder später wird sie es ohnehin erfahren«, beharrte ich.
»Dann lieber später«, knurrte sie. Sie blieb an einer Straßenkreuzung stehen und deutete nach links. »Ich muss da lang.« Da Jeanne und ich in die entgegengesetzte Richtung mussten, verabschiedeten wir uns von ihr und schlenderten zu zweit weiter Richtung Marktplatz.
Die Geschichte mit Lou und Gideon beschäftigte mich zugegebenermaßen schon seit einer Weile. Es war schon mehrere Wochen her, dass ich das Geheimnis aufgedeckt und meine Schwester mich angefleht hatte, es niemandem zu verraten. Eigentlich mochte ich Gideon auch und obwohl es schien, als würde er oft in Schwierigkeiten geraten, glaubte ich nicht, dass er etwas mit dem Raub zu tun hatte.
»Warum war Lou so … so …« Jeanne suchte nach einem passenden Wort. »So grummelig?«
»Wenn du in ihrem Alter bist, wirst du das verstehen.«
Ich musste lachen, als sie ein unwilliges Gesicht aufsetzte. »Tut mir leid, Kleine. Aber verliebt zu sein, kann ganz schön kompliziert sein. Mach dir nichts draus.«
»Warst du schon mal verliebt?«, fragte Jeanne.
»Nein«, sagte ich. »Also kann ich es dir sowieso nicht so gut erklären.«
Sie schnaubte unzufrieden, doch es dauerte nicht mehr als zehn Sekunden, bis sie wieder zu einem hüpfenden Bündel geworden war und mir beinahe den Arm ausrenkte. Gemeinsam spazierten wir zwischen den weiß und blau getünchten Fassaden hindurch, während die Möwen über unseren Köpfen kreisten. »Wir kaufen Ei-er, wir kaufen But-ter …« Ich rechnete damit, dass sie gleich stolpern und sich wehtun würde, als sie mit einem Mal wie angewurzelt stehen blieb.
»Ähm … was ist?«, fragte ich irritiert.
»Da! Jermaine, sieh doch!« Aufgeregt deutete sie zwischen den Gebäuden hindurch, geradewegs zum Hafen, und als ich ihrem Blick folgte, stockte auch mir der Atem.
Zwischen den gestrichenen Holzblockhäusern konnte ich das glitzernde Meer ausmachen, und weit in der Ferne, gerade mit bloßem Auge erkennbar, zeichnete sich ein roter Punkt ab. Segel. Ein Schiff.
Lautes Glockengeläut zerschnitt die Luft und eine kräftige Stimme rief vom Wachturm: »SIE KOMMEN! DIE ROTE RUBY KEHRT ZURÜCK!«
»Sind sie das wirklich?«, fragte Jeanne aufgeregt und sprang an meiner Hand auf und ab. »Kommt Papa zurück? Ja? Ist das unser Schiff?«
»Ja, sicher!« Das Herz klopfte mir bis zum Hals – am liebsten wäre ich auch auf und ab gehüpft. »Komm!«
Mit meiner Schwester im Schlepptau sprintete ich zwischen den Häusern hindurch zum Hafen. Die Ruby näherte sich zügig vom Horizont aus und war schon ein gutes Stück auf uns zugekommen, als wir die Docks erreichten. Die altbekannte, warme Aufregung erfasste mich. Alles war gutgegangen! Vater war wohlauf, die Ruby noch heil! Ada wartete auf mich!
Am Pier hatte sich bereits ein Pulk gebildet, über den sich wildes Stimmengewirr erhob. Da waren Frauen, die ihre Kinder auf den Arm hoben, aufgeregt herumlaufende Jungen, ältere Männer, die ihre Karren stehen ließen und die Brille richteten. Viele St. Flaemer hatten Angehörige, die mit zur See fuhren, und sahen der Rückkehr ihrer Liebsten ebenso erwartungsvoll entgegen wie wir.
»Ich kann gar nichts sehen!«, beschwerte sie sich, als wir uns ein Stück durch die Menge geschoben hatten, und sprang auf und ab. »Jermaine!« Sie schob mit großen Augen die Unterlippe vor.
»Komm her.« Ich streckte ihr die Hand hin, um sie auf den Arm zu nehmen. Da erklang eine Stimme: »Hey, ich könnte das übernehmen.«
Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf einen jungen Mann – und Lou, die hinter ihm hervorgrinste. Die dunkelblonden, ohne jedwede Ordnung geschnittenen Haare hatte er im Nacken zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Sommersprossen waren auf seiner spitzen Nase verteilt – weit weniger als bei mir, aber genug, um seinem Gesicht etwas Freches, Ungeniertes zu verleihen. Das schiefe Lächeln war das eines Jungen, der schon eine Menge Unsinn angestellt hatte. Mit seinen fünfzehn Jahren war er drei Jahre jünger und ein wenig kleiner als ich. Lou dagegen überragte er um einen halben Kopf.
»Oh, hallo«, sagte ich überrascht.
»Bist du Gideon?«, fragte Jeanne, die meine Hand umklammert hielt und mit großen Augen zu ihm aufschaute.
Gideon nickte. »Du bist Jeanne, aye?« Seine Stimme war rau – er schien noch nicht ganz aus dem Stimmbruch raus zu sein. »Darf ich so frei sein?« Als er ihr zuzwinkerte, schien es um Jeanne geschehen zu sein. Nur wenige konnten sie von Aimée unterscheiden. Ich nahm an, dass Lou ihm erzählt hatte, dass ich nur mit Jeanne unterwegs war – meine kleine Schwester ahnte davon natürlich nichts.
Lou bemerkte, dass ich ihr einen nachdenklichen Blick zuwarf, und legte die Stirn in Falten. »Was? Du guckst so merkwürdig.«
»Hast du keine Angst, dass Mutter dich sehen könnte?«, fragte ich.
Sie winkte ab und verdrehte die Augen. »Die bereitet doch ihr tolles Brot vor.«
Ehe ich etwas erwidern konnte, streckte sie die Hand aus und deutete auf die Ruby. »Guck mal, da ist Sammy!«
Ich wandte mich um. Das Schiff war inzwischen so nah, dass man die Seeleute oben auf dem Hauptdeck voneinander unterscheiden konnte. Ein kühler Wind war aufgekommen und brachte den imposanten Dreimaster sicher in den Hafen. Zwischen den anderen Matrosen erkannte ich einen jungen Mann mit dunklem lockigem Haar – Sammy.
»Gut«, sagte ich nur.
Lou hob die Brauen. »Sag nicht, du bist noch immer beleidigt.«
»Beleidigt?«
»Na, weil er schon vor drei Jahren Matrose geworden ist und du deine Schulbildung abschließen musstest«, sagte Lou und rollte mit den Augen.
»Ich war deshalb nie … beleidigt«, sagte ich beleidigt. »Sammy ist mein bester Freund.«
»Ist?«, hakte Lou nach. »War? Und bester Freund?«
»Aye«, sagte ich. »Sag mal, spreche ich Adrisch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, schon gut. Wollte nur sichergehen.«
Ich pustete mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie mochte mir nicht glauben, aber mit beleidigt hatte das wahrlich nichts zu tun. Ich erinnerte mich noch, wie Sammy und ich am Abend seiner Ernennung zum Matrosen miteinander getanzt hatten. Am nächsten Tag war er auf das Schiff gestiegen, ohne mich nochmal anzusehen. Er hatte das sicher nicht böse gemeint, dafür war er viel zu gutherzig. Womöglich hatte er den Kopf einfach woanders gehabt … genau wie all die anderen Male, die er mir in den drei folgenden Jahren mit distanzierter Höflichkeit begegnet war. Ich war nicht beleidigt, doch ich vermisste ihn ziemlich, das traf es viel besser.
Aber jetzt war ich alt genug und konnte meinen Eid ablegen. Und womöglich würde ich damit auch meinen besten Freund zurückerhalten.
»Da sind sie!«, rief Jeanne und drehte mich wieder um. Auf den Zehenspitzen balancierend suchte ich die Rote Ruby, die jetzt nur noch wenige Schritte vom Pier entfernt war, nach Vaters Gesicht ab. Doch in dem allgemeinen Aufruhr, der oben herrschte, konnte ich ihn nicht ausmachen. Womöglich war er noch unter Deck?
Und mit einem Mal machte mein Herz einen unangenehmen Satz. Bei Saesora, etwas stimmte nicht. Es war viel zu still. Die Ankunft der Seefahrer war für gewöhnlich mit einer unsagbaren Lautstärke verbunden – freudiges Johlen und Seefahrerlieder erfüllten dann die Luft, Hüte wurden in die Höhe geworfen und der Offizier Willibald Quall ließ sein geliebtes Schiffshorn erschallen. Heute wurde nicht mal gewunken. Stumm, routiniert holten die Matrosen die Segel ein, warfen Taue aus, sicherten einander mit geisterhafter Routine.
Ich dachte daran, dass mein Flaschenschiff wie von Geisterhand bewegt aus dem Regal gefallen und zerbrochen war. Wie merkwürdig sich Vater bei unserem Abschied verhalten hatte, wie zerstreut und unaufmerksam, und mit einem Mal wurde mir ganz schlecht. Götter – dies alles fühlte sich an wie ein unwirklicher, fürchterlicher Traum.
Unter dem Jubel der Schaulustigen kam die Galeone zum Stehen und die Hafenarbeiter vertäuten das Schiff. Das Fallreep wurde ausgelegt und einer nach dem anderen traten die Seeleute herab auf den Steg. Überall waren bloß müde Gesichter zu sehen, erschöpfte Schritte trugen die Matrosen die letzten Schritte zu ihren Familien. Über die Menge, die sich bei den Docks versammelt hatte, hatte sich betretenes Schweigen gelegt.
Vater verließ die Ruby immer zuletzt, ehe er sich von uns in die Arme schließen ließ. Dutzende von Malen hatte ich diesen Augenblick erlebt und doch war es, als stünde ich zum ersten Mal hier.
»Jen«, flüsterte Lou und griff nach meinem Arm. »Irgendwas ist hier faul.«
»Ruhig«, sagte ich, wenngleich ich ihr beipflichten musste. Gerade verließ Sammy das Schiff und ich löste Lous Hand von meinem Arm, während ich ihn beobachtete.
Ich erinnerte mich kaum an einen Moment, in dem ich meinen einstigen besten Freund nicht hatte lachen sehen. Nun beobachtete ich, wie er zu seiner Mutter und seiner Schwester Channa trat und mit ernster Miene das Wort an sie wandte. Seine Mutter machte ein betroffenes Gesicht, Channa hob überrascht die Brauen, während die Möwenfedern, die in ihrem dunklen Haar eingeflochten waren, vom Wind bewegt wurden.
Als Sammy den Blick hob, bemerkte er, dass ich ihn ansah. Wir zögerten. Dann setzten wir uns gleichzeitig in Bewegung, ich bahnte mir einen Weg durch die Menge auf ihn zu, die Distanz zwischen uns beiseiteschiebend.
»Jermaine«, sagte Sammy, als wir voreinander stehenblieben. Für einen Augenblick war es wie damals und ich konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch – sah die Sorgen und die Unruhe, die seine Augen dunkler zu färben schienen.
»Was ist passiert?«, fragte ich und versuchte, meine Stimme am Beben zu hindern. »Es ist was passiert, oder?«
»Hör zu«, sagte Sammy und hob beschwichtigend die Hände. »Das ist eine längere Geschichte, die …«
»Ich bitte um eure Aufmerksamkeit!«
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Sammy verstummte und wir wandten uns der Person zu, die soeben vom Schiff herabgekommen und auf eine Kiste gestiegen war. Es handelte sich um Leonard Bai, Steuermann der Ruby und Vaters Freund aus Kindertagen. Der ältere Seemann nahm respektvoll den Dreispitz ab. »Ich wünschte, es wäre anders«, sagte er und der Wind trug seine Stimme über den Pier, klang in meiner Brust wider, »aber wir bringen eine furchtbare Nachricht. Einige von euch werden heute keine Familienmitglieder in die Arme schließen können, weil nicht alle von unserer Reise nach Gladys zurückgekehrt sind. Die Mannschaft der Ruby hat einen schlimmen Fehler gemacht. Unsere Rückreise führte uns durch die Darcosgewässer.« Ein Raunen ging durch die Menge und das Herz hämmerte in meiner Brust, dröhnte in meinem Kopf. »Und jeder, der heute nicht hier ist, ist dort gefallen oder wurde von den Bewohnern der Insel verschleppt.«
Mit einem Mal war mir schrecklich kalt. Meine Knie fühlten sich so weich an, als würden sie gleich unter mir nachgeben. Während Furcht meine Kehle verschloss, suchte ich die Gesichter der Matrosen nach den vertrauten Zügen meines Vaters ab. Dass ich nach Sammys Arm gegriffen hatte, um meine Hände am Beben zu hindern, war mir gar nicht gewahr.
Ich suchte, suchte nach Vater, doch ich suchte gänzlich vergeblich. Denn er war nicht hier. Er war nicht hier.
Leonard war der Letzte gewesen, der das Schiff verlassen hatte.
Schiff ohne Kapitän
Alles war still. Die Welt war still. Sekunden dehnten sich zu Stunden, Tagen, Ewigkeiten. Ein kleines, starres Für immer verstrich, ehe ein Laut die Ruhe zerriss und ich wieder in der Lage war, mich zu rühren.
Eine Frau schrie. Schluchzen erfüllte die Luft und es bedurfte nicht Lous Reaktion, die Jeanne hastig von Gideons Schultern pflückte, damit ich erkannte, dass es sich um Mutter handelte. Der Stock war ihr aus der Hand gerutscht, sie selbst sackte zu Boden. Sie weinte so bitterlich, dass Aimée ängstlich zurückwich, geradewegs zu Lou und Jeanne, die näher bei ihnen standen als ich.
Ich wandte mich ab und bemerkte erst jetzt, dass ich Sammys Arm festhielt. Tränen standen in meinen Augen, als ich ihn losließ und wir einen betroffenen Blick miteinander tauschten. Meine Brust war fest verschnürt. Nie zuvor hatte ich Mutter so weinen gehört – nie zuvor war ich mir so hilflos vorgekommen.
Aber war Vater wirklich nicht mehr am Leben? Oder war er fort?
Während Lou Mutter zu beruhigen versuchte, erhob ich die Stimme. »Was ist mit Vater?«, fragte ich Leonard. Mir war furchtbar kalt. »Ist er gestorben? Ist er tot?«
»Er ist nicht tot«, sagte Leonard, der meinem Blick ruhig begegnete. Kurz war er nicht Steuermann der Ruby, sondern Onkel Leonard, der mich bei meiner Seetaufe als Neugeborenes im Arm gehalten hatte, der meinen kleinen Schwestern Süßigkeiten aus fremden Ländern mitbrachte und bei dem selbst Lou ihre schlechte Laune vergaß.
»Er ist nicht tot, aber er ist auch nicht bei uns«, fuhr Leonard sachte fort. »Dein Vater befindet sich unter den Entführungsopfern.«
Entführt. Stumm bewegte ich die Lippen, ungläubig. Ich wollte etwas antworten, doch meine Kehle brachte nichts hervor. Hinter mir erklangen weitere Ausrufe der Bestürzung.
»Und wo ist meine Tante?«, rief eine Stimme aus der Menge.
»Und mein Bruder!«, rief eine andere.
»Mein Onkel!«
Es wurde weiter gerufen, bevor sich wieder das beklommene Schweigen über die Menge legte. Zurück blieb nichts als kalter Wind und meine Seele fror.
»Jermaine?«, fragte Sammy leise.
»Mir geht’s gut«, murmelte ich. Mein Körper bebte, die Welt schien verschwommen – ich konnte es nicht begreifen.
Leonard, noch immer bemerkenswert gefasst im Angesicht der fürchterlichen Situation, fuhr fort: »Siebzehn Matrosen und Matrosinnen sind von uns gegangen und weilen im Seelenmeer. Dreiundzwanzig sind wie vom Erdboden verschluckt gewesen, darunter nicht nur Kapitän Gabriel Loreley, sondern auch der erste Offizier, Lucian Seelöw. Der Mannschaft ist es nicht gelungen, sie zu retten, und wir waren gezwungen, sie schweren Herzens zurückzulassen. Ich weiß, dass es eine Menge Fragen gibt«, ergänzte er, »dass ihr wissen möchtet, was genau geschehen ist und wie es jetzt weitergehen soll.« Er holte tief Luft. »Das können wir selbst noch nicht sagen. Sicher ist, dass wir die Verschleppten nicht im Stich lassen werden. Wir machen uns auf die Suche nach Hilfe und holen sie zurück. Das verspricht die Mannschaft der Ruby euch im Angesicht der Götter.«
Zögerndes Murmeln war die Antwort auf seine Worte. Es wollte nicht in meinen Kopf, was Leonard meinte – wie wollten sie die Entführten befreien? Wie konnten sie sicher sein, dass Vater und die anderen noch lebten? Was war dort in den Darcosgewässern geschehen? Und welcher Mensch war überhaupt so unsagbar bescheuert, dorthin zu segeln? So viele Legenden von geheimnisvollen Stürmen, mörderischen Seeschlangen und tückischen Riffen rankten sich um die Gewässer. Jeder Seefahrer wusste, dass man sie umschiffen sollte!
»Ich danke euch für die Aufmerksamkeit. Wer einen Sohn vermisst, einen Vater, eine Tochter oder eine Gemahlin, darf sich an einen der Offiziere wenden.«
Unruhe brach aus, Menschen murmelten und jemand schluchzte. Stimmen wurden laut, während ich zu Sammy blickte, der sich mit betroffener Miene durch die Locken fuhr.
»Ich versteh das nicht«, sagte ich. »Wieso Darcos? Was hat sich Vater dabei gedacht? Ich … warst du dabei?«
»Nicht direkt«, sagte er. »Alles war so durcheinander und dein Vater war so …«
»Ja?«, fragte ich und spürte Tränen in meinen Augen brennen.
»Ebenfalls durcheinander.« Sammy sah aus, als wollte er mich am liebsten umarmen, tat aber nichts dergleichen. »Tut mir leid«, sagte er nur.
»Was?«, sagte ich. »Du konntest doch nichts dafür.«
Leonard trat durch die Menge auf uns zu. Stumm breitete er die Arme aus, als Jeanne näher eilte, und hob meine kleine Schwester auf den Arm. »Wo ist Papa?«, fragte sie mit klammer Stimme.
»Schh, hey. Es wird alles gut«, sagte Leonard.
»Rettet ihr ihn?«, fragte meine kleine Schwester unter einem Schluchzer und auch ich musste mit den Tränen kämpfen. Lou bahnte sich einen Weg zu uns, Mutter und Aimée im Schlepptau. »Ihr rettet ihn, oder?«
»Wir tun unser Bestes. Ich verspreche es.« Leonard verlagerte ihr Gewicht auf seinem Arm und strich ihr tröstend über den Rücken, ehe sich sein Blick auf den Rest meiner Familie legte und er sich an Mutter wandte. Die Stimme des Steuermanns war beherrscht, sein Gesicht aber noch fahl und grau von allem, was hinter ihm lag. »Sobald sich der Aufruhr gelegt hat, treffen sich die Offiziere in der Geschuppten Jungfer. Es wäre mir lieb, wenn ihr Loreleys dabei wärt, Winona«, sagte er. »Du und Jermaine, oder wie ihr wollt.«
»Aye«, sagte ich rasch. Auf keinen Fall wollte ich mir entgehen lassen, die ganze Geschichte zu hören.
»Ich möchte auch dabei sein«, sagte Lou.
»Ich auch«, sagte Aimée, die leicht an ihrer Hand zog.
Obwohl Mutter noch immer mit den Tränen kämpfte, war sie so geistesgegenwärtig, ihnen zu widersprechen. »Kommt nicht infrage, ihr beide geht nach Hause. Lou, Jermaine – eine von euch bringt die Kleinen ins Bett.«
Ich tauschte einen Blick mit Lou, wohl wissend, dass sie dazu ebenso wenig bereit war wie ich.
»Wenn ihr wollt, kann ich die beiden auch mitnehmen«, erklärte Sammy sich da bereit. »Channa und ich können auf sie aufpassen.« Er wies auf seine Schwester hinter ihm, die ungläubig die Augenbrauen hob.
»Wirklich?«, fragte ich.
Sammy nickte. »Ich kann den beiden erzählen, was passiert ist – ohne die Details. Bestimmt haben wir auch noch was zu essen da.« Er warf den beiden ein ermunterndes Lächeln zu, das zumindest von Aimée erwidert wurde.
Mutter wischte sich über die Augen. »Das wäre sehr lieb.«
»Dann sollten wir keine Zeit verschwenden«, meinte Leonard und setzte Jeanne auf dem Boden ab, strich ihr nochmal über den Kopf. Bevor ich ihm und den anderen durch das Gedränge folgte, sah ich Sammy an. Wir versuchten uns beide an einem Lächeln.
»Mögt ihr Kakao?«, fragte er die Kleinen.
»Ja«, sagte Aimée, während Jeanne einwarf: »Aber Mama sagt, wir dürfen keinen vor dem Schlafengehen.«
»Ich glaube, damit können wir heute eine Ausnahme machen«, sagte Sammy, während er beide an die Hand nahm und sie in der Menge verschwanden.
Die Geschuppte Jungfer, die beliebteste Schenke St. Flaemes, erfreute sich wie immer guten Besuchs. Es handelte sich um ein altes, ausrangiertes Segelschiff – eine Brigg – welches man im Hafen fest vertäut und zu einer Taverne umgebaut hatte. Verglichen mit der Ruby, die ganz in der Nähe vor Anker lag, war die Jungfer winzig, doch wenn die Taverne so voll wie heute war, fasste sie gut und gern hundert Personen. Man hatte einige Wände und einen Teil des Oberdecks herausgeschlagen, sodass man sich unter Dach zurückziehen oder unter klarem Sternenhimmel trinken konnte, wenn es beliebte.
Jetzt, als die Sonne den Himmel bereits rot zu färben begann, fanden besonders viele den Weg hierher. Der Geruch von schwerem Alkohol und altem Holz erfüllte meine Nase. Lachen, Johlen und scherzhafte Pöbeleien lagen in der Luft und hallten bis zu den ersten Häuserreihen jenseits der Docks hinüber. Womöglich mochten die Seeleute die Jungfer deshalb so gern, weil sie ebenso auf den Wellen tanzte wie die Ruby. Aus diesem Grund stand in der ehemaligen Kapitänskammer der Brigg ein Konferenztisch für die Offiziersversammlungen, an dem regelmäßig getagt wurde.
Ich betrat einen von Laternen hell erleuchteten Raum. Die Decke war niedrig – einige der Offiziere hatten sich beim Eintreten sicher bücken müssen. Alkoholgeruch drängte in meine Nase, obwohl die Fenster an der Galerie geöffnet worden waren. In der Mitte des Raums stand ein runder, von Stühlen umgebener Tisch.
Während ich mir etwas zu trinken geholt hatte, hatten sich alle Teilnehmer der Konferenz am Tisch versammelt. Die sieben Offiziere der Ruby mitsamt Leonard waren zugegen, außerdem Vince, ein jüngerer, blasser Matrose, und Vaters Berater Negro. Lou und ich hatten Mutter an einen Platz gesetzt und ihren Stock an die rückwärtige Wand gelehnt. Mutters Hände waren gefaltet, die Augen vom langen Weinen geschwollen. Ihr Haar, so rot wie mein eigenes, hatte sich größtenteils aus dem Knoten gelöst.
Leonard erhob sich und am Tisch kehrte Stille ein.
»Männer – und Frauen«, sagte der Steuermann mit rauer Stimme. »Ich möchte euch zu dieser durch einen Missstand notwendig gewordenen Versammlung begrüßen. Die heutige Konferenz halten wir ab, um unser weiteres Vorgehen zu diskutieren. Obwohl die Geschehnisse der letzten Wochen an unser aller Gemüter zerren, dürfen wir nicht zögern oder gar aufgeben. Da ich als Steuermann vorübergehend das Amt des Kapitäns übernommen habe, obliegt mir das erste Wort.« Er hob die Hand. »Des Weiteren sind Gäste zugegen, die die heutige Versammlung verfolgen werden. Vince, der Zeuge des Kampfes war, wird an unserer Sitzung teilnehmen, um mich wenn nötig zu korrigieren. Außerdem hat sich die Familie Loreley eingefunden, die ich bei dieser Besprechung nicht außenvorlassen will. Wenn es keine Einwände gibt, wäre die Konferenz damit eröffnet.«
Die Offiziere klopften auf den Tisch und Bertram Luv, ein Mann mit freundlichem Gesicht und ausladendem Backenbart, hob seinen Krug zum Gruß. Mir fiel auf, dass sich zwei neue Personen in der Runde befanden – die Notsituation hatte wohl gefordert, dass neue Offiziere nachrückten.
Leonard als Kapitän und zwei neue Offiziere. Das bedeutete, dass drei fehlen mussten. Und tatsächlich erkannte ich, dass auch Vaters zweiter Offizier Alessio Ariel nicht zugegen war.
»Ich schlage vor, wir beginnen die Versammlung damit, die Geschehnisse für die Loreleys zu rekapitulieren«, sagte Leonard. »Wir bitten selbstredend um Diskretion, um keine unnötige Unruhe in der Stadt zu erregen.« Wir nickten und Leonard setzte sich zurück an seinen Platz, um zu erzählen.
»Wir hatten den Hafen von St. Flaeme gerade einige Stunden hinter uns gelassen. Nichts schien unserer Reise nach Gladys im Wege zu stehen … bis Kapitän Gabriel die Offiziere zu einer wichtigen Versammlung zusammenrief. Kaum waren wir alle beisammen, legte er diese Seekarte vor uns hin.« Leonard rollte ein Dokument auf, das er auf dem Tisch abgelegt hatte. Ich reckte das Kinn, als er auf eine Stelle auf der Seekarte wies. Es war ein Punkt mitten auf dem Meer, nicht weit entfernt von Kap Allmacht und damit Gladys, um den jemand ein gradliniges Symbol gezeichnet hatte – das allsehende Auge des Sonnengotts Eralys, wie ich erkannte. Es hätte eine willkürlich gewählte Stelle mitten im Ozean sein können, doch ich kannte die Geheimnisse dieses Gebiets allzu gut.
»Da liegen die Darcosgewässer«, sagte Lou, die ebenfalls darüber Bescheid wusste.
Ich bekam eine Gänsehaut, als Leonard nickte.
»Gabriel wollte sie mit eigenen Augen sehen. Er hatte nachgeforscht und war der Meinung, es gäbe passierbare Routen durch die tückischen Gewässer. Die Schiffe seien verschieden nah ans Zentrum der Gewässer gekommen, bevor sie in Strudel gerieten oder aufliefen und sanken. Anhand ihrer Fundorte konstruierte er das Eralysauge um die Insel. Er sagte, man müsse nur einer der Linien folgen und würde womöglich auf eine unentdeckte Insel stoßen.« Leonard seufzte. »Natürlich protestierte ich. Es war ein unmögliches Unterfangen – so viele Schiffe sind in den Gewässern verunglückt und niemals zurückgekehrt. Und die meisten auf der Ruby haben Familien, die auf sie warten. Aber Kapitän Gabriels Neugierde und Mut … und sein Leichtsinn überwogen – er duldete keinen Widerspruch. Und nicht nur Lucian, mit dem Gabriel die Route entdeckt hatte, stand hinter ihm. Die Mehrheit der Offiziere schlug sich auf seine Seite.«
Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen, von denen einige beschämt wegschauten.
»Aber … warum?«, entwich es mir. Ich konnte nicht begreifen, wie sich solch intelligente Menschen zu so etwas verleiten lassen konnten.
Bertram, der gutmütige Offizier mit dem Backenbart, sah mich aus traurigen Augen an. »Wenn wa das erklären könnten.«
»Hos Lumi, wir wussten nicht, wie uns geschieht«, sagte die blonde Frau, die neben ihm saß. Freydis Havdottír war die einzige Offizierin in der Runde und eigentlich bekannt für ihr lautes Organ und ihr herrisches Sein. Heute war selbst sie kleinlaut. Ihr adrischer Akzent trat deutlicher hervor, als sie sprach: »Was der Kapitän sagte, klang so verlockend. Der Gedanke daran, was sich in den Gewässern verbergen mochte, war wie … vanvidd? Wie sagt man auf Thaleanisch?«
»Wie ein Rausch«, kam Leonard ihr zur Hilfe.
Freydis nickte. »Aye. Wir sagen in Adara …«
»Abenteuer zeichnen sich durch Verkennen aus«, sagte eine Stimme von dem Teil des Tisches, der im Schatten lag. Negro richtete sich in seinem Stuhl auf und hob das narbige Gesicht, das unter der Hutkrempe im Schatten gelegen hatte, ins Licht der Öllampen.
»Ahhr ja. Noch immer so beschämt darüber«, brummte er. »Tröstet euch. Ihr konntet nichts dafür. Nur die wenigsten sind stark genug, sich gegen die Macht von Darcos zu behaupten. Es zieht Seefahrer seit Hektoden in seinen Bann und verschlingt sie im Ganzen. Auch unser guter Kapitän ist nicht davon verschont geblieben. Man muss große Macht besitzen oder die Wahrheit über die Gewässer kennen, um dem Bann widerstehen zu können.«
Die Offiziere schwiegen betreten. Einst hatte Negro als Erster Maat meines Großvaters Christopher gedient, ehe er bei einem Piratenangriff verschleppt worden war. Erst nach Großvaters Tod war er wiederaufgetaucht – geschunden, gezeichnet, aber ungebrochen. Was er erlebt hatte, musste schrecklich gewesen sein, denn es hatte ihn nicht nur wertvolle Lebenszeit, sondern auch einige weitere Körperteile einbüßen lassen. Das Glasauge, dessen gräuliche Farbe sich sichtbar vom Goldbraun unterschied, das seine Augen eigentlich hatten, trug er, seit ich ihn kannte. Seine linke Hand fehlte ihm ebenso lang. Negro war keine körperliche Bereicherung mehr für das Schiff, doch sein Wort übte noch immer Macht auf die Offiziere aus.
Leonard ergriff wieder das Wort. »Letztlich steuerten wir die Darcosgewässer also an. Ich erinnere mich gut an die bedrohliche Stille, die in diesen Gewässern herrschte … als würde etwas unter Wasser lauern und nur warten, dass wir vom Kurs abkommen. Doch der Kapitän behielt recht: Solange wir die Route nicht verließen, geschah uns nichts. Auf diese Weise erreichten wir sicher die Insel.«
Ich verlagerte unruhig mein Gewicht. Wieso hatte Vater der Anziehungskraft der Gewässer nicht widerstehen können? Wie sehr mochten sie ihn verändert haben, wenn er Leonards Einwände ignoriert hatte?
»Das Land tauchte am Horizont auf, majestätisch, strahlend. Lockend, als hätte es auf uns gewartet«, sagte Leonard. »Darcos – so nennen wir diesen Ort mittlerweile – war nicht beängstigend. Grün bewaldet, ruhig … es schien beinahe friedlich. Als Gabriel die Insel sah, war er unheimlich glücklich. Götter, seine Augen leuchteten … und fast wäre auch ich auf den trügenden Schein hereingefallen.« Er schluckte. »Doch etwas stimmte nicht mit dieser Insel. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Es war … die Ruhe, die herrscht, wenn sich ein Raubtier seiner Beute nähert. Doch Gabriel schien das nicht zu bemerken – oder es war ihm egal.
Er wählte ein paar Männer aus – Lucian, Alessio, Vince, einige andere. Als wir an der Insel andockten, begannen sie, den Strand und die Wälder zu erforschen. Wir anderen bewachten die Ruby.« Leonard schüttelte den Kopf, als würde die Erinnerung ihm Schmerzen bereiten.
»Vince kehrte nach einer Weile zurück. Er brachte kaum ein Wort hervor, doch wir begriffen, dass die anderen in Gefahr waren. Gabriel hatte Vince gebeten, Hilfe beim Schiff zu holen. Vince berichtete von einem fremden Volk, das Darcos bewohnte – von Kriegern mit Hummerhänden, mit Haut, die glitschig wie Algen war, und tödlichen Kiefern. Und es waren viele, unzählig viele, sagte er uns – selbst mit Unterstützung wäre es Gabriels Männern nur mit Glück möglich gewesen, zu entkommen.«
Eine Stille breitete sich am Tisch aus, die lauter dröhnte als alles, was ich kannte.
»Wäre ich schneller gewesen, hätten wir sie vielleicht noch …« Vince brach ab, seine Worte versiegten. Mitgefühl stieg in mir auf. Als kleiner Junge hatte Vince beide Eltern an das Margaritenfeuer verloren, eine Krankheit, die bis heute nicht besiegt worden war. Die Betreiberin des Waisenhauses hatte sich einige Wochen später bittend an Vater gewandt. Vince sei zu sensibel – das Waisenhaus zermürbe ihn immer mehr. Vater hatte den kleinen, schmächtigen Jungen auf die Ruby geholt – zunächst als Schiffsjungen, später als Matrosen. Wenige Wochen nach seiner Aufnahme hatte er zufrieden berichtet, wie gut sich Vince mache. Vater hatte ihm ein neues Zuhause gegeben, als das Ende für den Jungen nahe gewesen war. Und nun war Vater nicht mehr hier und Vince hatte ihn nicht retten können.
Leonard ergriff erneut das Wort. »Als wir ankamen, wo Vince die anderen zurückgelassen hatte, waren nur Leichen übrig. Seeleute und Gardisten waren grausam niedergemetzelt worden. Als wir die Männer und Frauen untersuchten und identifizierten, wurde uns aber klar, dass einige fehlten – darunter auch der Kapitän und die beiden Offiziere, Lucian und Alessio.
Die Mannschaft war außer sich. Wir hatten vierzig Matrosen und Matrosinnen verloren, tot oder verschleppt, unser Kapitän einer davon. Es erschien unmöglich, die Insel zu verlassen, auch wenn Negro darauf pochte, dass wir flüchten sollten, ehe man die Ruby in der Bucht aufspürte. In der verzweifelten Hoffnung, dass wir sie noch finden würden, sandten wir einen Suchtrupp aus. Bei Morgengrauen fanden wir den gepfählten Alessio.«
Das Herz schlug mir bis zum Hals und meine Kehle fühlte sich an, als wäre sie mit etwas verstopft, das mich am Schlucken hinderte. Mutter atmete zitternd aus.
»Wir wussten, was mit uns geschehen würde, wenn wir blieben. Negro drängte, jemand sollte das Kommando übernehmen und die Ruby von Darcos wegsteuern, ehe uns alle dasselbe Schicksal ereilte.« Unwillen klang in seiner Stimme, als Leonard dahintersetzte: »Die Mannschaft wählte mich als stellvertretenden Kapitän. So setzten wir schweren Herzens die Segel und kehrten heim.«
wirimmer
Ich nickte. Jetzt, da Negro es sagte, war es mir so klar wie nichts. »Ja«, sagte ich. »Und ich will euch begleiten.«
Negro lehnte sich in seinem Stuhl zurück, hob mit einem zufriedenen Grinsen seinen Krug. »Na dann. Ein Hoch auf die neue Matrosin«, brummte er. »Jermaine Loreley.«