Sina Kongehl-Breddin

Zorn der Vergangenheit

Ein See-Krimi


Rediroma-Verlag


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Alle Rechte beim Autor

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Die folgende Kriminalgeschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten von Namen, Personen und deren Handlungen wären rein zufällig.


Unbenannt-1

 

Quelle: Google Maps

 

In der Stille am See liegt so viel mehr Kraft als in jeder pulsierenden Stadt.

 

Verfasser unbekannt

Prolog
 

Als er die Strandvilla „Erika“ verließ, war der glühend rote Feuerball bereits im See erloschen. Mit der einsetzenden Dämmerung kehrte endlich die ersehnte Ruhe zurück.

Es war der Zeitpunkt, an dem er sich leise davonstahl. Er küsste seine Frau auf die Stirn, ohne zu wissen, dass es sein letzter Kuss sein würde.

Behutsam zog er die Tür hinter sich zu. Ein letztes Mal, für immer.

Danach schritt er zum Bootsanleger hinüber. Am Ende des Stegs, im kleinen Hafen, lag sein Jollenkreuzer. Zu ihm wollte er gehen. Eine Entscheidung, die er spontan getroffen hatte.

Wie so oft in seinem Leben versuchte er die Dinge auf seine Art zu regeln.

Mit seiner zielstrebigen Art hatte er es bislang weit gebracht. Er war nicht der Mensch, der sich hängen ließ oder den ganzen Tag über nur grübelte und jammerte. Er war ein Macher, eine geborene Führungsperson. Und das würde auch heute Abend so sein.

Sollte seine Frau nur ruhig schlafen, dann war sie morgen wenigstens wieder fit, sodass sie einen weiteren schönen Tag am Arendsee verbringen konnten.

Entschlossen und mit aufgerichtetem Haupt schritt er voran und schaute sich nicht ein einziges Mal um. Ihm war es egal, ob seine Nachbarn ihn beobachteten oder nicht. Sollten sie doch schauen, so viel sie wollten. Sein Selbstbewusstsein war groß genug, um sich von niemandem verunsichern zu lassen. Schon gar nicht von diesen spießigen Kleinbürgern.

An diesem Sommerabend herrschte Windstille am Arendsee. Die Luft war stickig und warm. Der kleine Strand war inzwischen menschenleer, die Badenden verschwunden. Aus der Ferne ertönte unbeschwertes Gelächter aus den Bungalows an der Strandpromenade. Lichter blinzelten wie helle Sterne durch die düstere Kiefernreihe mit den langen schlanken Stämmen.

Als er den Bootssteg betrat, hatte er ein gutes Gefühl und fühlte sich stark. Der Anblick der finsteren See gab ihm Hoffnung, am Ende einen grandiosen Erfolg feiern zu können.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Mittlerweile war es gleich dreiundzwanzig Uhr.

Nach seiner Ankunft schlüpfte er in die Kajüte, schaltete die Bootslampe ein und setzte sich ächzend nieder.

Ein leises Glucksen umspülte den Bug seines Jollenkreuzers. Die Sekunden strichen nur langsam vorüber. Dann ließ ihn ein Geräusch aufhorchen. Ein knarzender Laut, ein metallischer Klang. Es war das unverkennbare Geräusch von menschlichen Schritten auf dem Bootssteg.

Sein Herz klopfte schneller.

Die Schritte kamen näher, bis die Person vor ihm stand.

Er wusste nicht, warum oder wieso, doch sein Gefühl sagte ihm, dass er vielleicht einen großen Fehler begehen würde.

      

Zorn der Vergangenheit

 

35 Jahre zuvor ...

Vor allem im Sommer, wenn Werktätige aus der gesamten Republik ins altmärkische Grenzgebiet reisten, um Urlaub am Arendsee zu machen, bedurfte die fünf-Kilometer-Sperrzone der innerdeutschen Grenze einer erhöhten Aufmerksamkeit. Dazu zählte auch das unweit vom Arendsee gelegene Dorf Schrampe.

Dass die Zunahme an Personen zugleich die Gefahr einer Republikflucht steigerte, wusste auch der Volkspolizist und Abschnittsbevollmächtigte Detlef Pöttke.

Der 27-jährige Familienvater eines kleinen Sohnes hatte während seiner kurzen Tätigkeit bereits hervorragende Verdienste geleistet. Doch Pöttkes steile Karriere bei der Polizei kam nicht von ungefähr.

Der große schlanke Mann mit dem schmalen Oberlippenbart und den wachen Augen wurde neben seiner Gewissenhaftigkeit auch von großem Ehrgeiz getrieben.

Gleich zu Beginn seiner Ausbildung hat er seinen Vorgesetzten bewiesen, dass er das Zeug zur Führungsperson besaß. Detlef Pöttke zählte zu den sogenannten „Staatsgetreuen“, einer, der bereit war die Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates zu verteidigen. Er wollte seinem Land dienen, indem er Staatsfeinde aufspürte und deren niedere Machenschaften sofort im Keim erstickte. Dass er damit andersdenkenden Menschen das Leben schwer machte, war ihm nicht nur egal, sondern auch eine Genugtuung.

Doch nicht nur die Urlauber bedurften einer besonderen Aufmerksamkeit. Hin und wieder gab es auch Einheimische, die Anlass zur Beobachtung gaben. So wie der in Zießau wohnhafte Bernd Vogler und seine Familie.

Detlef Pöttke, der stets über alle Geschehnisse im Gebiet informiert war, wusste auch, dass Bernd Vogler eine systemkritische Bemerkung unter den Kollegen der Brigade geäußert hatte.

Voglers Kollege, ebenfalls ein Helfer der Volkspolizei und engster Vertrauter von Detlef Pöttke, hatte ihm von dessen „großer Klappe“ berichtet.

Um dem Hinweis nachzugehen und für Aufklärung zu sorgen, stieg Volkspolizist Pöttke in seinen Wartburg 353 und fuhr von Arendsee nach Schrampe. Die Fahrt dauerte nicht länger als zehn Minuten. Es war Mittwoch, der 12. Juli 1986, um vierzehn Uhr dreißig, als Pöttke sein Ziel erreichte.

Als der Abschnittsbevollmächtigte kurz darauf an Bernd Voglers Haustür klingelte, brachte ihn die heiße Nachmittagssonne in seiner Uniform zum Schwitzen.

Vogler öffnete die Tür und war erstaunt über den Anblick des Volkspolizisten. Obwohl die beiden Männer etwa dasselbe Alter hatten, kannten sie sich nur vom Sehen.

„Schön guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, brummte Vogler misslaunig, als wären seine langen Haare für sein Gegenüber nicht schon provokant genug. Doch der blieb gelassen.

„Ich müsste mich dringend mal mit Ihnen unterhalten. Es geht um den Tatbestand einer abfälligen

Bemerkung in Bezug auf unseren Staat“, ließ Pöttke verlauten.

Mittlerweile rann ihm der Schweiß von den Schläfen. Die Hitze machte es ihm heute fast unmöglich, sich in seiner geliebten Uniform wohlzufühlen. Dennoch blieb er standhaft und riss sich getreu seines Amtes zusammen.

Vogler dagegen warf seine schulterlangen Haare in den Nacken und lachte schallend. „Dann ist Ihnen meine Äußerung also schon zu Ohren gekommen?“

„Mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise! Sie sprechen mit einem Volksvertreter des Staates“, mahnte Pöttke jetzt mit scharfem Ton.

Ob der Zurechtgewiesene nun aus Trotz oder Unüberlegtheit darauf reagierte, blieb fraglich. Auf jeden Fall zog seine Antwort folgenschwere Konsequenzen nach sich.

„Ein toller Staat ist das“, platzte es nun wütend aus Vogler heraus. „Ein Staat, der seinen Leuten das Recht auf ihre persönliche Meinung verbietet und sie obendrein noch einsperrt.“

Detlef Pöttke hatte genug gehört. Er war schweißgebadet. Bernd Vogler war zweifelsohne ein aufrührerisches Subjekt, das dem Staat durch sein provokantes Benehmen gefährlich werden konnte. Der Mann und seine Familie waren nicht tragbar, um weiterhin in dem grenznahen Dorf wohnen zu bleiben.

Detlef Pöttke hatte einen Entschluss gefasst. Er würde umgehend seinen nächsten Vorgesetzten darüber informieren, damit dieser den sofortigen Umzug der Familie in die Wege leiten konnte.

 

1

 

Nach einem typisch mitteleuropäischen Juni schien der Monat Juli dagegen alle bisherigen Temperaturrekorde zu brechen. Mit Spitzenwerten bis zu fünfunddreißig Grad geriet selbst der gelassenste Altmärker ins Schwitzen. Die Freibäder und Seen der Region platzten fast aus allen Nähten. Und so hatte sich der kleine Luftkurort mit seinem gleichnamigen See in den letzten Tagen und Wochen zu einem regelrechten Besuchermagnet gemausert.

Derweil hatten die Leute wieder die Vorzüge eines Inlandurlaubes schätzen gelernt. Während die Altmärker ihr naheliegendes Paradies mit den Jahren schon fast vergessen hatten, glaubten fernere Touristen sogar an die Neuentdeckung eines unbekannten Fleckens Erde.

Einer, der den Arendsee jedoch wie kaum ein anderer kannte, war Marc Boldt. Der gebürtige Arendseer war mit einer älteren Schwester im Ort aufgewachsen. So gesehen hatte der See für den heute 52-jährigen etwas von einem alten Bekannten.

Marc kannte dessen Annehmlichkeiten, aber auch seine Launen und Tücken. Der Anblick und der Geruch des Wassers, sowie die damit verbundenen Erinnerungen waren tief in ihm verwurzelt.

Hier am See hatte er nicht nur schwimmen, sondern auch seine erste große Liebe Kathi kennengelernt. Drei Jahre lang hatte ihre Liebe gehalten. Nichts und niemand hatte sie in jener Zeit auseinanderbringen können. Sie schmiedeten sogar Zukunftspläne, träumten von gemeinsamen Kindern und einem Haus am See.

Doch dann kam der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. Auf einen Schlag änderte sich das ganze Leben. Grenzen fielen und neue Möglichkeiten schossen wie Pommes Buden, Supermärkte oder Autohäuser aus dem Boden. Die neu gewonnene Freiheit zerstörte aber auch Zukunftspläne, wie die von Marc und Kathi.

Die gelernte Verkäuferin wollte weg aus dem Osten, weg aus ihrer alten Heimat, weg aus Arendsee. Die damals 21-jährige hatte sich, ohne Marcs Wissen, auf eine Stellenanzeige in Bremen beworben. Die gewünschte Antwort ließ nicht lange auf sich warten, als Kathi prompt eine Zusage einer großen Warenhauskette bekam.

Dass seine Freundin ihm irgendetwas verschwieg, war Marc anhand ihres Benehmens nicht verborgen geblieben.

Eines Abends als sie eng am See beieinander- saßen, wirkte Kathi abwesend und nachdenklich. Marc stellte seine Freundin zur Rede. Diese gestand sofort und berichtete detailliert von ihrem Vorhaben. Sie sprach vom Beginn eines neuen Lebens, von einer Chance auf Unabhängigkeit, Freiheit und Reisen um die ganze Welt. Ziele, die sie allein und ohne ihn geplant hatte.

Nachdem die Sonne im See versunken war, hatte selbst er es begriffen. Kathi würde ihn für immer verlassen und nach Bremen ziehen. Ihre Zukunft endete im Hier und Jetzt.

Seit jenem Abend waren nunmehr dreißig Jahre vergangen und jeglicher Kontakt zu Kathi war erloschen. Eine lange Zeit, in der Marc seinen damaligen Herzschmerz längst vergessen hatte.

An diesem Samstag hatte er jedoch nur ein Ziel vor Augen. Nach einer harten und hitzigen Arbeitswoche zog es ihn hinaus zum Baden. Da sein Haus nicht weit vom See entfernt lag, ging er zu Fuß dorthin. Und so marschierte Marc in sommerlicher Kleidung mit einem Handtuch über den Schultern, den Professor-Halbfraß-Weg zum See hinab.

Das Gute am Arendsee waren seine uneingeschränkten Bademöglichkeiten. Marc brauchte somit nicht an der überfüllten Badestelle an der Teufelstreppe verweilen. Stattdessen versuchte er sein Glück an einer anderen Stelle des Sees, indem er dem Seeweg Richtung Klosterruine folgte.

Doch selbst dort, unter den schattigen Erlenbäumen, tummelte sich eine Vielzahl von Leuten.

Marc konnte sich nicht daran erinnern, dass der Arendsee schon jemals so stark überlaufen war wie in diesem Jahr. Als Einheimischer schmerzte ihn der Anblick seines getrübten Idylls. Schließlich zeichnete sich der See vor allem durch seine Ruhe und die unberührte Natur aus. Doch das schien derweil nicht das einzige Problem zu sein.

Ein mittiger Einbruch im See und die andauernde Trockenheit hatten in den vergangenen Jahren zu einem niedrigen Wasserstand und ebbeähnlichen Stellen rings um den Arendsee geführt. Selbst die hinausragende Seetribüne am Hauptstrand wurde in diesem Jahr nur noch von wenigen Zentimetern Wasser umspült.

Trotz allem ließ sich Marc die Badelaune nicht verderben. Er setzte sich neben ein junges Liebespaar, stellte seinen Rucksack ab, breitete eine Decke hin und zog sich dann bis auf die Badehose aus. Die Mittagssonne stand derweil senkrecht am Himmel und brannte gnadenlos.

Aufgrund der Hitze wagte er lieber keinen vorschnellen Sprung ins Wasser. Seinem Kreislauf zuliebe akklimatisierte er sich zunächst einen Augenblick.

Er nutzte die Zeit, um sich ein wenig umzusehen. Leute beobachten konnte mitunter ja auch recht unterhaltsam sein. Außer dem jungen Liebespaar hielten sich ebenfalls viele Eltern mit ihren Kindern am Strand auf.

Der steinige Untergrund am flachen Ufer verleitete die Erziehungsberechtigten zu großer Sorge um ihre Sprösslinge. Und so riefen sie stetig die kuriosesten Namen, um ihre Kinder zur Vorsicht zu mahnen: Cinderella-Melodie, Platon, Soley-Valieé usw.

Marc hielt nicht viel von dieser übertriebenen Fürsorge der sogenannten Helikopter-Eltern. Seiner Meinung nach sollten Kinder ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Schließlich hatten ein paar Kratzer und blaue Flecken ihm und seiner Schwester, damals auch nicht geschadet.

Nach etwa einer Viertelstunde ging Marc dann endlich ins Wasser. Der 52-jährige mit den grünen Augen und den grauen Schläfen machte eine ausgesprochen gute Figur in Badehose. Während die meisten Männer in seinem Alter über einen dicken Bauch und erste Wehwehchen klagten, konnte Marc dagegen mit einem athletischen Körper punkten.

Attribute, die bei der Damenwelt gut ankamen und Marc mit den Jahren zahlreiche amouröse Abenteuer beschert hatten. Trotz dessen war ihm bislang die große Liebe verwehrt geblieben. Die meisten seiner Beziehungen hielten nicht länger als ein Jahr, demzufolge war Marc auch nie eine Heirat eingegangen.

Dennoch sehnte er sich mittlerweile mehr denn je nach einer festen Partnerschaft. Doch statt zu jammern, machte er das Beste aus seiner Situation und gab die Hoffnung auf eine mögliche Wendung nicht auf.

Diese positive Art der Lebenseinstellung war vermutlich seinem Beruf als Rettungssanitäter geschuldet. Und so kamen ihm die persönlichen Probleme im Gegensatz zu den Beruflichen oft wie eine Lappalie vor.

Trotz der Arbeitsstelle im Salzwedler Altmark- Klinikum war er seinem Heimatort Arendsee treu geblieben. Seit kurzem war er sogar Hausbesitzer, da seine Eltern, beide Ende achtzig, ins Altenheim umgezogen waren. Nach Klärung mit seiner Schwester ging alles schnell, und Marc übernahm das einstige Elternhaus, inmitten des Stadtzentrums. Zu seinen Eltern pflegte er ein ausgesprochen gutes Verhältnis und besuchte die beiden, so oft es ihm die Zeit erlaubte.

Nun war er gerade ein Stück weit ins Wasser gegangen, als er einen weichen Widerstand im Rücken spürte.

Als er sich umdrehte, um der Ursache nachzugehen, sah er einen kleinen Jungen, der seinem davonrollenden Wasserball nachlief.

Dabei verfing sich Marcs Blick zufällig im naheliegenden Schilfgürtel, wo er einen Mann mit Fernrohr erblickte. Dieser war zirka Mitte dreißig, trug einen Fischerhut sowie kurze Tarnkleidung und blickte gebannt über den See.

Seine Beobachtungen endeten vorerst, als eine besorgte junge Frau im Bikini auf ihn zukam, um sich für das Verhalten ihres Sohnes zu entschuldigen. „Es tut mir leid, dass mein Jason Patrick Sie mit seinem Ball getroffen hat. Entschuldigung!“ Marc lächelte gelassen.

„Nichts für ungut, es ist ja nichts passiert“, entgegnete er mit abwinkender Handbewegung. Die Mutter schien darüber erleichtert und zog sich zurück, nachdem sie ihren Sohn an die Hand genommen hatte.

Bevor Marc seinen Gang ins Wasser fortsetzte, sah er nochmals zu dem Mann im Schilf herüber. Doch der war längst verschwunden.

 

2

 

Ein paar hundert Meter weiter, in nordwestlicher Richtung, am sogenannten Schramper Eck, weilte das Ehepaar Detlef und Margitta Pöttke in ihrer Strandvilla „Erika“.

Das 1912 errichtete Ferienhaus mit Seeblick stach den meisten Besuchern anhand seines prachtvollen Aussehens sofort ins Auge. Detlef Pöttke hatte die Villa im Frühjahr dieses Jahres für eine stattliche Summe erworben. Doch die Immobilie war ihr Geld wert.

Detlef und seine Frau Margitta waren jetzt beide zweiundsechzig Jahre alt, sodass ihr Ruhestand zum Greifen nah lag. Schon heute spielten sie mit dem Gedanken, nicht nur an den Wochenenden, sondern womöglich für immer in ihre alte Heimat zurückzukehren.

Ihre einstige Überzeugung, dem Arbeiter- und Bauernstaat mit vollem Einsatz zu dienen, war längst passé. Zudem hatten sie großes Glück, dass die Vergangenheit schnell vergessen wurde. Vielen Leuten, denen Detlef Pöttke früher das Leben schwer gemacht hatte, waren entweder fortgezogen oder bereits verstorben.

Trotz seiner erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung war Pöttke auch in seinem neuen Umfeld nicht sonderlich beliebt. Sein vorlautes Verhalten erzeugte nicht nur Ärger mit den Nachbarn, sondern auch bei den Kameraden seines neuen Vereins, dem Arendseer Segelbootverein.

Als Neumitglied und Besitzer eines 30erJollenkreuzers stellte sich Detlef Pöttke gern und ständig in den Vordergrund. Erst letzte Woche hatte es Streit um die Wahl zum Vorsitzenden gegeben. Pöttke hatte sich vorgenommen, den jungen Vereinschef Thorsten Singer zu stürzen, um dessen Amt für sich einzunehmen.

Da Singer jedoch bei den langjährigen Vereinsmitgliedern äußerst beliebt war, standen Pöttkes Chancen im Moment denkbar schlecht. Mit seiner Ankündigung hatte der Hannoveraner nicht nur für gewaltig Wirbel im Verein gesorgt, sondern auch ein unwiderrufliches Chaos hervorgerufen. Getreu nach dem Motto, Konkurrenz belebt das Geschäft.

Und so war Pöttke trotz aller negativen Vorzeichen zuversichtlich, dass er dennoch bald zum Vorsitzenden gewählt werden würde.

An jenem Samstag war er jedoch frei von derartigem Wunschdenken. Denn dieses Wochenende stand ganz im Zeichen der Entspannung, wobei das Ehepaar Pöttke eine gemütliche Rundfahrt in trauter Zweisamkeit auf dem Arendsee geplant hatte. Sonnenschein und gute Laune sollten sie begleiten.

Mit diesen guten Vorsätzen schritt das Ehepaar gelassen von ihrem Anwesen zum Bootsanleger hinüber, wo ihr Jollenkreuzer mit dem Namen „Primadonna“ vor Ort lag.

Margitta Pöttke, ehemals Sekretärin in der Salzwedler Kreisverwaltung, hatte gleich nach ihrem Umzug, mitten in der City von Hannover, eine Boutique eröffnet. Es war die Erfüllung eines lang ersehnten Mädchentraums, denn Margitta interessierte sich schon seit jeher für ausgefallene Kleidung und teuren Schmuck.

Für ihr Alter hatte sie sich erstaunlich gut gehalten und strahlte trotz ihrer Reife noch immer eine große Attraktivität aus. Dementsprechend gern und oft zeigte sich ihr Ehemann mit ihr. Er selbst war dagegen mit den Jahren etwas außer Form geraten; hatte seine einst schlanke Taille gegen einen kleinen Bauchansatz und grauem Haar eingebüßt. Nur seinen markanten Oberlippenbart trug er noch immer.

Diese kleine Typveränderung störte seine Frau nicht im Geringsten, da ihre Ehe neben ihrer anfänglichen Zuneigung vor allem auf den Fundamenten Geld und Sicherheit errichtet worden war. Starke Fundamente, aus denen nicht nur achtunddreißig Ehejahre, sondern auch ihr gemeinsamer Sohn Oliver hervorgegangen war.

 

Auf den schmalen Rasenflächen, direkt vor dem Bootshafen, lagen die Badenden heute wie dicht gedrängte Heringe beieinander. Der Platzmangel hatte drei junge Männer dazu veranlasst ihre Decke bis vor den Aufgang des Bootsstegs auszubreiten.

Von Bierflaschen umzingelt, kampierten sie dort rauchend und hörten laute Musik.

Pöttke war entsetzt darüber, dass diese Kerle nicht einmal Platz machten, als seine Frau und er herantraten.

In seinen Augen waren diese jungen Männer nur Nichtsnutze, sogenannte Rowdys, die dem Staat und seinen Bürgern auf der Tasche lagen. Damals hatte er solchen Menschen harte Strafen aufgebrummt. Doch auch bei seiner heutigen Tätigkeit als Jobvermittler erteilte er denen, die seiner Aufforderung nicht nachkamen, noch immer entsprechende Sanktionen.

Als seine Frau Margitta durch das rüpelhafte Verhalten der jungen Männer fast ins Straucheln geriet, platzte Pöttke der Kragen.

„Wie wäre es, wenn ihr euch ganz schnell beiseite macht, damit meine Frau und ich ungehindert den Bootssteg betreten können?“, duzte er die Männer eigenmächtig.

Seine Haltung hätte keinesfalls provozierender sein können, als er sich mit verschränkten Armen vor den Männern aufbaute.

Doch der Rädelsführer wusste sich mit gekonnten Worten dagegen zur Wehr zu setzen.

„Sag mal, Alter, wo liegt dein Problem? Ihr beide kommt doch gut an uns vorbei! Stellt euch verdammt nochmal nicht so pissig an!“

Pöttke, außer sich vor Wut, kam dem Mann jetzt gefährlich nah. „Pissig? Sag mal, Freundchen, wie redest du denn mit mir? Haben dir deine Eltern keine Manieren und Respekt beigebracht?“

Margitta befürchtete eine Eskalation und versuchte, ihren Mann zu beruhigen, indem sie ihn am Arm zerrte und ein Stück zurückzog. Doch der hatte nicht vor klein beizugeben und riss sich bockig los. Ein ehemaliger Volkspolizist wie er ließ sich nicht einschüchtern, schon gar nicht von so einem ungehobelten Bürschchen.

Allerdings schien sein Gegner ebenso furchtlos zu sein, sodass man dessen Angriffslust förmlich spürte. „Willst du Keile, oder was?“, brüllte er wütend.

Um eine Schlägerei zu verhindern, griffen jetzt die beiden älteren Kumpels des jungen Mannes mit der Rastalockenfrisur ein.

Die lautstarken Auseinandersetzungen hatten mittlerweile auch das Interesse der umliegenden Badegäste geweckt. Neugierig verfolgten sie das Geplänkel, blieben aber in sicherer Entfernung stehen und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen.

„Komm, lass gut sein! Sonst ruft der noch die Bullen“, rief nun plötzlich einer seiner Kumpels.

Dessen Worte zeigten Wirkung, woraufhin der Rädelsführer offenbar zur Vernunft kam und von Pöttke abließ.

„Du hast Recht, was rege ich mich auf?“, sagte er und bahnte dem Ehepaar mit einer tiefen demonstrativen Verbeugung den Weg. „Aber bitte, kommen Sie, meine Herrschaften, kommen

Sie!“

Nachdem sich die Situation entschärft hatte, verflog auch die Neugier der Badegäste.

Detlef Pöttke, der sich durch den Rückzieher des Mannes in seinem Recht bestätigt fühlte, grinste zufrieden und ließ seiner Frau Margitta höflich den Vortritt.

Bevor er ihr nachging, rutschte ihm jedoch noch eine letzte abfällige Bemerkung im Vorbeigehen heraus. „Na bitte, geht doch, Freundchen! Warum nicht gleich so?“

Mit vor Wut geballten Fäusten, hielt sich der junge Mann diesmal schweigend zurück. Derweil stolzierte Pöttke zufrieden mit seiner Frau über den Bootssteg.

Nachdem die beiden das Deck der „Primadonna“ betreten hatten, band der Hannoveraner die Leinen los, spannte das Segel und stach in See.

Margitta hatte es sich indes mit einem Glas Champagner auf dem Bug gemütlich gemacht. Ein großer Strohhut und Sonnenbrille schützen sie vor der starken Sonneneinstrahlung.

Während das Ehepaar auf den See hinaus segelte, packten auch die Männer ihre Sachen und verließen die Badestelle am Schramper Eck.

      

3

 

Im Nachbardorf Zießau herrschte reges Treiben in der Arendseer Fischerei. An den Wochenenden war der Kundenandrang besonders stark. Frisch geräucherter Fisch gehörte für viele Besucher schlichtweg zu einem Ausflug am Arendsee dazu.