Caro Stein
Die Schildkröte meiner Großmutter
Wie ein einfaches Satzzeichen mein Leben veränderte
Family Secrets 1
Roman
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
Copyright © 2021 dieser Ausgabe by Ashera Verlag
Ashera Verlag GbR
Alisha Bionda & Annika Dick
Hauptstr. 9
55592 Desloch
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www.ashera-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.
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Innengrafiken: iStock, adobeStock
Szenentrenner: adobeStock
Coverlayout: Atelier Bonzai
Redaktion: Alisha Bionda
Lektorat & Satz: TTT
Vermittelt über die Agentur Ashera
(www.agentur-ashera.net)
Inhalt
Falsche Satzzeichen und seltsame Erbstücke
1. Kapitel Die Beerdigung
2. Kapitel WG-Leben
3. Kapitel Das Erbe
Briefe, Fotos und Schildrköten
4. Kapitel Oskar
5. Kapitel Die Lüge
6. Kapitel Das Foto
Gute und schlechte Nachrichten
7. Kapitel Krisensitzung
8. Kapitel Überraschung
9. Kapitel Umbruch
10. Kapitel Recherche
London, neue Bekanntschaften und ein Plan
11. Kapitel Liam
12. Kapitel Chaos
13. Kapitel Abschied
Entscheidende Hinweise und letzte Briefe
14. Kapitel Erkenntnisse
15. Kapitel Die Nachricht
16. Kapitel Die Wahrheit
17. Kapitel Neuanfang
Danksagung
Die Autorin
1. Kapitel
Die Beerdigung
Als Lektorin legte ich Wert auf eine korrekte Rechtschreibung. Grammatik und Zeichensetzung waren mir in Fleisch und Blut übergegangen. Jedes Satzzeichen, jedes Wort überprüfte ich stets auf die richtige Schreibweise. Schließlich konnte ein falsch gesetztes Komma über Gedeih und Verderb entscheiden. Der Satz »Komm, wir essen Oma!« machte nur allzu deutlich, wie wichtig die Beherrschung der deutschen Grammatik war. Doch der Fehler, der mir seit Tagen wie eine grelle Leuchtreklame ins Auge stach, stellte jede falsche Schreibweise, die ich jemals gesehen hatte, in den Schatten.
»Was ist denn los mit dir? Hör auf, so herumzuzappeln«, flüsterte mir Ralf zu. Bevor ich etwas erwidern konnte, richtete er seinen Blick wieder auf den Pfarrer, der die letzten Gebete sprach. Dieser Anblick lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf das eigentliche Geschehen.
Oma Elisabeth war im Alter von dreiundneunzig Jahren friedlich zuhause eingeschlafen. In den Wochen zuvor hatte ihr bereits die Kraft gefehlt aufzustehen. Daher sind wir, so oft es ging, zu ihr gefahren und haben möglichst viel Zeit bei ihr verbracht. Wir fühlten uns dafür verantwortlich, dass Oma nicht alleine starb. Meine jüngste Schwester Kimberly schaffte es erst wenige Tage zuvor, aus London herzukommen.
Daher war es auch Kim, die nun die meisten Tränen vergoss. Um sie zumindest ein wenig zu trösten, durfte sie die letzte Abschiedsrede halten, bevor der Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Bei ihren Worten trieb es mir die Tränen in die Augen.
»Oma ist eine wundervolle Frau gewesen. Sie hat Ralf, Vanessa, Mia und mich immer dazu ermutigt, unserem Herzen zu folgen und nichts auf die gewöhnlichen Konventionen zu geben. Als unsere Eltern ihr Küchenstudio eröffneten und sie wenig Zeit für uns hatten, hat sie sich jeden Tag um uns gekümmert …« Kim schniefte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie uns jeden Freitagnachmittag ihren Apfelkuchen auf den Tisch stellte und wir uns um die besten Stücke gestritten haben.«
Ich lächelte unwillkürlich. Ralf zwinkerte mir mit einem Grinsen zu. Manchmal hatte er Vanessa ein Stück Kuchen vor der Nase weggeschnappt, um es dann mir zu geben. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Vanessa bei dieser Anekdote lediglich ein sauertöpfisches Lächeln zustande brachte und starr nach vorne zu Kim schaute.
»Es ist unmöglich, Omas Liebe, Verständnis und ihre Fürsorge in die richtigen Worte zu fassen«, setzte Kim währenddessen ihre Rede fort. »Sie hat uns aufgefangen, wenn es uns schlecht ging und trieb uns an, wenn wir nicht in die Gänge kamen.«
Ein zögerliches Lachen ging durch die Trauergemeinschaft. Oma Elisabeth war tatsächlich sehr energisch gewesen, wenn es die Umstände erfordert hatten. Dabei hatte sie keine Rücksicht darauf genommen, ob sie ihre Enkel, ihren Sohn, ihre Schwiegertochter oder ihren Ehemann zurechtwies.
»Und auch, wenn ihr Tod eine große Lücke in unserem Leben hinterlässt, finde ich den Gedanken tröstlich, dass sie wieder mit Großvater vereint ist. Die beiden waren seit 1947 verheiratet und bis zu Großvaters Tod vor fünf Jahren unzertrennlich gewesen. Jetzt können sie hier auf dem Friedhof wieder zusammen sein.« Kim nickte dem Pfarrer am Ende ihrer Rede zu.
Ihre Worte über die lang anhaltende Liebe zwischen unseren Großeltern ließ meinen Blick wieder zu dem Blatt Papier schweifen, das ich fest umklammert hielt. Es war ein Nachruf, der vor wenigen Tagen in der Sächsischen Zeitung erschienen war. Im Grunde gab es nichts daran auszusetzen, bis auf eine Kleinigkeit:
In Liebe und Dankbarkeit nehmen wir Abschied von
Elisabeth Schäfer
Geliebte, Ehefrau und Mutter
Geboren 25.04.1923 - Gestorben 03.07.2016
Mich machte dieses Komma zu viel so nervös, dass ich mich kaum auf meine Umgebung konzentrieren konnte.
Ich sah zu, wie der Sarg in das vorbereitete Grab hinabgelassen wurde, trotzdem bekam ich die Szene nur am Rande mit. Ich musste unbedingt herausfinden, wer für diese Anzeige verantwortlich war und einen Neudruck in Auftrag geben. Es konnte auf keinen Fall so stehen bleiben, dass meine liebe, fürsorgliche und verantwortungsbewusste Oma eine Geliebte gewesen sein soll.
»Na los, du bist an der Reihe«, hörte ich Vanessa neben mir sagen. Ich verstand nicht sofort, was sie damit meinte, und schaute sie daher verwirrt an. Vanessa zog eine Augenbraue hoch und deutete mit dem Kopf in Richtung Grab. »Leg die verdammte Blume endlich auf den Sarg, damit wir gehen können … ich hasse Beerdigungen«, fügte sie hinzu. Um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen, gab sie mir einen kleinen Schubs. Verdattert blieb ich direkt vor dem Grab stehen. In Gedanken war ich noch bei dem Nachruf, weshalb ich mehrere Sekunden die aufgehäufte Erde anstarrte. Widerwillig drängte sich mir eine neue Überlegung auf, die mir nicht gefiel: Was wäre, wenn die Anzeige bewusst so gedruckt worden war?
Ich ging in die Hocke und sah auf den Sarg hinunter, der inzwischen in das Grab eingelassen worden war. In der Aufregung hatte ich die weiße Rose in meiner Hand völlig vergessen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mich krampfhaft an deren Stiel festklammerte. Es bedurfte einiger Willensanstrengung, um meinen Griff zu lockern und die Rose loszulassen.
»Du hast uns hoffentlich nichts verschwiegen, oder?«, flüsterte ich zum Abschied.
Mit wackeligen Knien kehrte ich an meinen Platz zurück. Ich wechselte einen Blick mit Kim, die sich an Ralfs Schulter lehnte. Ihr Make-up war verwischt und ihre Augen gerötet vom Weinen, dennoch hatte sie etwas Wunderschönes an sich, das mich neidisch werden ließ.
»Können wir gehen?« Vanessa hatte ebenfalls eine Rose auf den Sarg gelegt und war wieder zu uns gekommen. »Ich habe irrsinnige Kopfschmerzen, und wenn ich hier noch länger in der Sonne rumstehen muss, falle ich in Ohnmacht.« Sie rieb sich mit der Hand über ihre hohe Stirn und gab ein theatralisches Seufzen von sich. Wie auf Kommando erschien Lars, um ihr einen Arm um die Hüfte zu legen und ihr beruhigende Worte zuzuflüstern. Um ehrlich zu sein, ich bewunderte meinen Schwager für sein Verständnis und seine Geduld, die er Vanessa entgegenbrachte, selbst wenn sie unausstehlich war.
Ralf warf einen letzten Blick auf das Grab und zuckte dann mit den Schultern. »Ich denke, für uns gibt es hier nichts mehr zu tun. Lasst uns ins Restaurant gehen, bevor die besten Plätze weg sind.« Er hielt mir und Kim beide Arme so hin, dass wir uns bei ihm unterhaken konnten. »Kommt, meine schönen Schwestern … lasset uns zur Tafel schreiten, um den Leichenschmaus einzunehmen.«
Kim kicherte und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. »Welchen Film hast du dir diesmal angesehen?«
Ralf war ein Filmfan und vermutlich einer der wenigen Menschen, die Videotheken nutzten. In seiner Wohnung hatte er sich einen eigenen Filmraum eingerichtet, mit Beamer und Leinwand. Er hatte sich sogar eine kleine Popcornmaschine zugelegt, die er an seinen legendären Filmabenden jedes Mal voller Stolz in Gang setzte.
»Macbeth, geschrieben von William Shakespeare, verfilmt von Justin Kurzel. Mein Fazit: Das Buch ist wie immer besser als der Film.«
»Macbeth ist ein Theaterstück«, korrigierte ich ihn automatisch. Ich hing weiterhin bei diesem verfluchten Satzzeichen und fragte mich, ob es eine Daseinsberechtigung hatte oder nicht.
»Ach, sei nicht immer so überkorrekt.« Er knuffte mich in die Seite. »Dadurch hast du übersehen, dass ich euch ein Kompliment gemacht habe.«
»Entschuldige«, murmelte ich verlegen. Er hatte recht. Warum konnte ich nicht einmal fünf gerade sein lassen? Kein Wunder, dass ich das schwarze Schaf der Familie war.
Ich fand es makaber, nach einer Beerdigung essen zu gehen. Davon abgesehen war mir ohnehin der Appetit vergangen. Meine Geschwister, Lars und ich trafen als Erste im Restaurant ein, sodass wir uns in der reservierten Stube den besten Tisch aussuchten und uns etwas zu trinken bestellten. Mit dem Essen wollten wir anstandshalber warten.
Es dauerte nicht lange, bis unsere Eltern mit dem Rest der Trauergäste eintrafen. In der Stube wurde es lauter und die durcheinanderredenden Stimmen verursachten ein unangenehmes Gewirr an Worten, die man nicht mehr auseinanderhalten, geschweige denn verstehen konnte. Abgesehen von meiner Familie kannte ich kaum jemanden der Gäste. Ein, zwei Freundinnen meiner Großmutter befanden sich darunter, sowie Martha, ihre Haushälterin, die sich in den letzten Jahren vermehrt um das Häuschen und den Garten meiner Oma gekümmert hatte.
»Was machen deine Kopfschmerzen, Schatz?«, hörte ich Lars fragen.
Vanessa verzog das Gesicht, als würde ein Schlaghammer in ihrem Kopf wüten. »Es ist schon besser«, antwortete sie in einem Tonfall, der das genaue Gegenteil behauptete. »Mir wäre es trotzdem lieber, wenn wir bald nachhause fahren würden.«
Es war durchaus möglich, dass Vanessa ihre Kopfschmerzen vortäuschte, um eine Ausrede dafür zu haben, schnell wieder zu verschwinden. Ich hatte mit meiner älteren Schwester wenig gemeinsam, aber die Abneigung gegen Gesellschaften, die mehr als fünf Personen zählten, teilten wir uns seit Kindertagen. Diese Taktik musste ich mir für das nächste Familientreffen unbedingt merken.
»Ich hab dir noch gar nicht gesagt, wie gut dir der kurze Bob steht.« Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass Kim mit mir gesprochen hatte. »Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, hattest du die Haare ja bis hier.« Sie zeigte auf ihre Schulter.
»Danke.« Ich lächelte verlegen. Mir fiel meine Arbeitskollegin Steffi ein, unsere Grafikdesignerin im Conrad Verlag. Als ich mit der neuen Frisur ins Büro gekommen war, hatte sie gemeint, ich sähe mit dem strengen Haarschnitt und meinem konservativen Kleidungsstil aus wie eine Spießerin aus den Zwanzigerjahren. Da ich Steffi seit Jahren kannte, wusste ich, dass man ihre Kommentare nicht immer ernst nehmen durfte. Dafür entwarf sie die großartigsten Buchcover, die man sich vorstellen konnte. Seit sie im Verlag arbeitete, waren unsere Buchverkäufe um knapp zwanzig Prozent gestiegen, was sicherlich auf ihre Arbeit zurückzuführen war. Natürlich spielte auch die Tatsache hinein, dass wir mit der Entdeckung der Neuautorin Veronika Wächter einen literarischen Volltreffer gelandet hatten. Es war der erste Teil einer Fantasy-Reihe für Jugendliche gewesen. Eine Woche nach Erscheinen führte der Roman die Bestsellerlisten an, was bei einer bis dahin völlig unbekannten Autorin normalerweise fast unmöglich war. Wächters Roman war das Zugpferd in unserem Programm und es kam mir so vor, als würde alle Welt auf die Fortsetzung warten. Was bisher kaum jemand wusste: Ich war dabei, den zweiten Teil der Reihe zu lektorieren, der diesen Herbst erscheinen sollte. Ich sagte bewusst niemandem etwas davon, da ich ansonsten von allen Seiten mit Fragen bombardiert worden wäre und mir die Leute wohl Geld zugesteckt hätten, damit ich ihnen das Manuskript vor der Veröffentlichung zukommen lasse.
Mama setzte sich auf den letzten freien Platz an unserem Tisch, während Papa am Nebentisch saß und sich mit seinen drei Geschwistern unterhielt. Onkel Michael lebte ebenfalls in Leipzig, während meine Tanten Jutta und Renate mit ihren Familien in Hannover wohnten. Sie sahen sich nicht oft, weshalb es Papa freute, dass sie Zeit miteinander verbringen konnten – trotz der traurigen Umstände.
»Das war eine schöne Trauerfeier, findet ihr nicht?« Mama rückte ihren Stuhl zurecht. Ich wich ihrem Blick aus und nippte an meinem Wasserglas. Egal, was ich darauf antwortete, sie würde mir wieder vorhalten, dass ich ein überkorrekter Spießer sei, der alles viel zu ernst nahm.
»Ja, allerdings«, stimmte Ralf ihr zu. Es hatte sich über die Jahre so eingebürgert, dass er als ältester Bruder auch unser Sprecher war. Was er sagte, galt für uns alle. Es lag mir auf der Zunge, das Komma zu erwähnen, aber ich konnte meine Aussage gerade noch rechtzeitig in eine Frage umwandeln.
»Eine sehr schöne Trauerfeier, ja.« Ich kramte das herausgerissene Zeitungsblatt aus meiner Handtasche und drehte es Mama zu. »Ich finde vor allem diesen Nachruf sehr interessant. Weißt du, wer die Anzeige aufgegeben hat?« Während sie die wenigen Zeilen überflog, ließ ich Mama nicht aus den Augen. Es deutete nichts darauf hin, dass sie das Komma bemerkte.
Ich hatte meinen Tanten und Onkeln die Anzeige ebenfalls unter die Nase gehalten. Mit dem gleichen Ergebnis: Niemand wusste, von wem der Nachruf stammte. Und niemand störte sich an dem Fehler.
Mama sah mich unschlüssig an. »Ich weiß nichts von einer Traueranzeige. Warum fragst du?«
»Ach, nur so«, meinte ich kurz angebunden. »Ah, meine Suppe.« Der Kellner rettete mich vor weiteren Erklärungen.
Vanessa rümpfte die Nase. »Ich finde Beerdigungen deprimierend. Sie haben so etwas Endgültiges.«
Meine Mutter lachte. »Ja, das hat der Tod so an sich.«
»Aber ich finde, der Tod zeigt einem auch, wie wertvoll das Leben ist und wie wichtig es ist, etwas zu hinterlassen«, sagte Kim. Ihr nachdenklicher Tonfall klang für sie sehr ungewöhnlich, normalerweise war sie fröhlich und unbeschwert und machte sich selten Sorgen über die Zukunft. Kim saß neben mir, daher war ich auch die Einzige, die sah, wie sie eine Hand auf ihren Bauch legte. Vor Überraschung ließ ich meinen Löffel in die Suppe fallen und kleckerte das Tischtuch mit Brühe voll.
»Ein Ende ist auch ein Zeichen für einen Neuanfang.« Kim schien sich ihre nächsten Worte gut zu überlegen. »Ich bin so spät von London hergekommen, weil ich mich vorher beim Arzt vergewissern musste, ob ich …«
»Liebes, du bist doch nicht krank?«, fragte Mama besorgt.
»Nein, so würde ich es nicht sagen … ich bin schwanger.«
2. Kapitel
WG-Leben
Am späten Nachmittag schleppte ich mich die Treppe zu meiner Wohnung ins oberste Stockwerk hinauf, die ich mir mit meinen beiden Mitbewohnern Tonja und Jon teilte. Die Beerdigung und das anschließende Essen waren anstrengender gewesen, als ich gedacht hätte. Nun freute ich mich darauf, die Füße hochzulegen und die Ruhe zu genießen.
Sobald ich den Schlüssel im Schloss herumdrehte und die Wohnungstür öffnete, verpuffte allerdings die Vorstellung von ein, zwei entspannenden Stunden. Mir drangen Pop-Musik aus den Neunzigern und laute Stimmen entgegen, sodass es mir von dem plötzlichen Lärm in den Ohren klingelte. Ich machte einen Schritt in den Flur und stolperte beinahe über Tonjas abgetretene Sneakers. Mit einem unterdrückten Seufzen zog ich meine Pumps aus und stellte sie in das dafür vorgesehene Regal. In derselben Bewegung griff ich nach Tonjas Sneakers und platzierte sie ordentlich neben Jons auf Hochglanz polierte Krokodillederschuhe.
Dann ging ich in Richtung Wohnzimmer, lehnte mich gegen den Türrahmen und begutachtete die Szenerie vor mir. Tonja saß mit einer Bierflasche auf unserem grauen Sofa. Auf dem antiken Sofatisch, den Jon vor einem Jahr auf einem Flohmarkt gekauft hatte, standen mehrere benutzte Kaffeetassen, zwei Flaschen alkoholfreies Bier, neben denen eine leere Chipstüte lag. Die Untersetzer hatte Tonja wieder einmal geflissentlich ignoriert. Sie begründete die Unordnung um sie herum gerne mit einem »kreativen Chaos«. Ich hielt das allerdings für eine Ausrede. Ich wollte schon etwas sagen, aber ich verspürte keine Lust, gegen Kylie Minogues »Can‘t get you out of my head« anzubrüllen.
Tonja warf mir einen Blick zu. Anscheinend konnte sie meine Gedanken lesen. Kein Wunder, wir waren seit der Schulzeit befreundet. Und zwar so gut, dass sie meine grauen Jogginghosen trug, wie ich soeben feststellte. Sie winkte mir mit einer ausholenden Geste zu und stellte die Musikanlage mit der Fernbedienung etwas leiser.
»Da bist du ja endlich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Komm, setz dich.« Tonja klopfte neben sich auf das Sofa.
»Ja, klar. Macht es euch ruhig auf dem Sofa bequem. Ich schufte hier derweil weiter.« Jon stand in der offenen Küche und hackte Zwiebeln klein. Hinter ihm auf dem Herd dampfte es aus einem großen Kochtopf. Jons dunkelblaue Anzughose und das hochgekrempelte weiße Hemd deuteten darauf hin, dass er sich direkt nach der Arbeit in der Küche verschanzt hatte.
»Unsere neue Nachbarin aus dem zweiten Stock hat übrigens gefragt, ob du noch Single bist«, sagte Tonja zu Jon. Sie setzte offensichtlich ein Gespräch fort, das sie vorhin geführt hatten. »Sie wollte unbedingt deine Telefonnummer haben.«
Jon hielt kurz im Zwiebelschneiden inne und sah Tonja mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Du hast sie ihr hoffentlich nicht gegeben?«
»Doch.«
»Warum das denn?«
»Sie wollte übrigens wissen, ob du zur bekannten – und wohlhabenden – Voss-Familie gehörst. Du weißt schon, die, die das Mineralwasser verkaufen«, fügte Tonja beiläufig hinzu.
Jon schnaubte ärgerlich. »Zum tausendsten Mal: Ich habe mit diesem verdammten Mineralwasser nichts zu tun.« Aufgrund seines Nachnamens hörte Jonathan Voss diese Frage vermutlich seit seiner Geburt mindestens einmal pro Woche. Er sah in meine Richtung und verdrehte vielsagend die Augen. »Wusstest du, dass Tonja ein hinterhältiges Biest ist?«
Ich lächelte ihn müde an. »Ich kenne sie länger als du. Natürlich weiß ich das.«
»Hey, ich bin hier. Ich kann euch hören.« Tonja drehte die Musik etwas leiser.
»Das ist einer meiner Lieblingssongs«, sagte Jon empört. »Du kannst Kylie nicht einfach so den Ton abdrehen. Außerdem fühle ich mich da gleich viel jünger.«
Tonja prostete ihm zu. »So geht es uns allen.« Sie drehte die Musik wieder auf. Inzwischen lief Anastacia mit »Cowboys and Kisses«.
Jon und ich wechselten einen Blick, dann ließ ich mich neben Tonja aufs Sofa fallen. Sie reichte mir eine der Bierflaschen, die auf dem Tisch standen. Ich nippte daran, dankbar für die Ablenkung von der Beerdigung, dem fehlerhaften Nachruf und der Tatsache, dass ich bald Tante sein würde.
»Was hast du eigentlich gegen unsere Nachbarin? Sie ist doch hübsch«, nahm ich den Faden wieder auf.
Dieses Mal sah Jon nicht von seinen Zwiebeln auf. »Sie mag ja nett sein, aber in unsere Modelkartei würde ich sie garantiert nicht aufnehmen. Davon abgesehen …« Er wandte sich dem dampfenden Kochtopf zu und gab Gewürze hinein. »Ach, was fragst du so scheinheilig?«
Der Geruch von Curry wehte zu uns herüber und ließ meinen Magen knurren.
»Er hat eben weder beruflich noch privat Interesse an ihr, unser Jon«, raunte mir Tonja ins Ohr.
Jon konnte sie unmöglich verstanden haben, dennoch warf er uns einen beleidigten Blick zu, bevor er die klein gehackten Zwiebeln in eine Pfanne warf.
»Wie war die Beerdigung?«, fragte Tonja.
Ihre Frage brachte mir die letzten Stunden wieder schmerzlich in Erinnerung. Meine gute Laune verflog so schnell, wie sie gekommen war. »Sie war … voller Überraschungen, würde ich sagen.«
»Wie meinst du das?«
Ich zuckte mit den Schultern, um etwas Zeit zu gewinnen. Bisher hatte ich die Sache mit der Anzeige für mich behalten. Irgendwie wollte ich diesen Fehler lieber für mich behalten. Stattdessen sagte ich, was mir als Nächstbestes einfiel: »Kim ist im dritten Monat schwanger.«
In der Küche schepperte es laut. Erschrocken drehten wir uns zu Jon um. Dieser sah mich mit großen Augen an. »Die kleine Kim? Das gibt‘s nicht. Wie alt ist sie denn? Einundzwanzig?«
»Sie ist achtundzwanzig«, antwortete ich. »Im Grunde ein gutes Alter, um Mutter zu werden.«
Neben mir schnaubte Tonja verächtlich. »Ach Quatsch. Damit fesselt sie sich für den Rest ihres Lebens an den Herd. Ihre Schauspielkarriere kann sie vergessen.«
»Sie hätte den Modelvertrag annehmen sollen, den ich ihr vor Jahren angeboten habe«, sagte Jon nicht zum ersten Mal. »Mit diesem Gesicht hätte sie fantastische Jobs in der Werbebranche an Land ziehen können. Wenn ich an die Provision denke, die mir dabei durch die Lappen gegangen ist.«
»Du bist wirklich das beste Beispiel dafür, was in unserer kapitalistischen Gesellschaft alles schiefläuft.« Tonja trank ihr Bier aus. »Es geht immer nur ums Geld. Und die Kunst verliert an Wert. Von der Ausbeutung von Frauen ganz zu schweigen – woran du übrigens auch schuld bist.«
Ich lehnte mich erleichtert in die Kissen zurück und ließ die nachfolgende Diskussion an mir vorüberziehen. Manchmal hatte ich das Gefühl, in einem Kindergarten zu wohnen, in dem immer über die gleichen Dinge gestritten wurde und keiner bereit war nachzugeben. Ich hätte mir ohne Probleme eine eigene Wohnung leisten können. Aber ich hing viel zu sehr an meinen Mitbewohnern. Tonja und Jon waren wie zu laute Musik, die am späten Abend durch die Wohnung schallte. Eigentlich wollte man den Pause-Knopf drücken und endlich seine Ruhe haben. Aber manchmal fing genau diese Musik einen auf, wenn man schlecht gelaunt war. Sie hatte etwas Tröstendes und Bestärkendes zugleich. Ich brauchte die beiden. Sie waren ein bisschen wie eine Familie.
»Du Öko-Emanze solltest andere echt nicht kritisieren, nur weil sie dein verqueres Weltbild nicht teilen.« Jon fuchtelte mit dem Kochlöffel wild in der Luft herum. Die Diskussion erreichte ihren Höhepunkt und konnte ab hier nur noch in einem Streit enden. Genau der richtige Zeitpunkt, um mich einzuschalten.
»Also, ich freue mich für Kim. Ich glaube, sie hat sich schon länger eine Familie gewünscht. Und nach Omas Tod ist so ein neues Leben eine wundervolle Abwechslung.«
Wie erwartet, hatten die beiden den Ausgangspunkt ihres Gesprächs schon lange vergessen. Sie starrten mich einen Augenblick verwirrt an und schwiegen für wenige herrliche Sekunden. Jon beugte sich konzentriert über den Herd und Tonja starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck und wartete nur auf den Satz, der jeden Moment folgen musste: »Ich glaube, ich habe eine tolle Idee für ein neues Gemälde.« Tonja griff hinter ein Kissen und holte ihren Zeichenblock und einen Kohlestift hervor.
Ich beobachtete eine Weile, wie sie mit dem Stift flink über das Papier fuhr, konnte aber nicht erkennen, was die Striche darstellen sollten. Aber ich hatte von abstrakter Kunst auch keine Ahnung.
»Essen ist fertig«, verkündete Jon etwas später und stellte den Topf mit dem Curry auf den Esstisch, der wie der Sofatisch aus hellem Eichenholz bestand. Zumindest Jon benutzte die großen Untersetzer, die ich extra für diesen Zweck gekauft hatte.
Nach dem Essen räumten Tonja und ich den Tisch ab, während sich Jon in sein Zimmer verzog. Angeblich musste er etwas für die Arbeit vorbereiten. Als Modelscout vermittelte er seine Models nicht nur an Kunden, sondern war auch in vielerlei Hinsicht Mentor und seelische Unterstützung. Eines seiner jüngsten Models hatte ihn vorhin mit tränenerstickter Stimme angerufen, da morgen ihr erstes Fotoshooting bevorstand. Jon bekam mindestens einmal pro Woche solche Anrufe von seinen Schützlingen, woraufhin er ihnen jedes Mal Mut zusprach und Lösungen für ihre Probleme fand. Wobei sich diese Probleme in den meisten Fällen auf vermeintlich ausgewaschene Haarfarbe, einen Blähbauch oder Nervosität vor dem ersten Kundenauftrag beschränkten.
Tonja meinte mit spitzer Zunge, Jons Vorbereitungen bestünden bestimmt darin, sich ein passendes Outfit für den nächsten Tag zurechtzulegen. »Der Fotograf, der morgen das Shooting leitet, ist ein alter Bekannter von ihm. Vermutlich will Jon Eindruck schinden.«
Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Wegen solcher Momente liebte ich es, mit den beiden zusammenzuwohnen.
»Apropos alte Bekannte … überprüfst du eigentlich ab und zu deine Mails?«, fragte Tonja.
Ich sah sie verständnislos an. Sollte das eine Fangfrage sein? Natürlich checkte ich meine E–Mails, mehrmals pro Tag, zu festen Uhrzeiten. Und ich legte sie in Ordnern ab, damit mein Posteingang immer leer war. Es war mir schleierhaft, wie man mit einem Posteingang klarkommen sollte, in dem sich über tausend Mails in einem wilden Haufen aneinanderreihten.
»Teresa Schlingmann hat mir nämlich eine Nachricht geschickt und gefragt, weshalb du auf ihre fünf bisherigen Mails nicht geantwortet hast«, fuhr Tonja fort.
Ich schaltete die Spülmaschine ein und kramte dabei intensiv in meinem Gedächtnis herum. »Welche Teresa?«
»Die einzige Teresa, die ich kenne und du vermutlich auch«, gab Tonja ungeduldig zurück. »Früher hieß sie Mentz, aber sie hat vor zwei Jahren geheiratet.«
Allmählich setzte sich ein Bild in meinem Kopf zusammen. An Teresa hatte ich nicht unbedingt die besten Erinnerungen. Sie war jedes Jahr zur Klassensprecherin gewählt worden, und diesen Job hatte sie mehr als ernst genommen. Teresa war der festen Überzeugung gewesen, die Aufgabe eines Klassensprechers bestehe nicht allein in der Vertretung einer Klasse, sondern auch in deren Erziehung. Deshalb hatte sie unsere Klasse auch bei jeder Müllsammelaktion und jedem Flohmarkt für den guten Zweck angemeldet, die sie finden konnte. Um unsere »moralischen und ethischen Werte zu schärfen«, wie sie es immer formuliert hatte. Zusammen mit Theo Nixt, Daniela Haas, Finn Arndt und Jana Falk hatte sie eine eingeschworene Clique gebildet, die unsere Klasse inoffiziell anführte. Wir hatten sie im Geheimen als »Die Königin und ihr Hofstaat« bezeichnet. Zum Glück hatte Teresa das nie herausgefunden, sonst hätte sie es vermutlich zustande gebracht, uns der Schule zu verweisen. Gesichter aus der Vergangenheit stiegen vor meinem inneren Auge auf. Wie Geister aus einer alten Geschichte, die man als Kind gelesen und später vergessen hatte. Und mit den Gesichtern kamen auch längst verdrängte Gefühle wieder hoch.
»Ach, diese Teresa«, sagte ich mit möglichst unbekümmerter Stimme. Ihre Mails hatte ich bekommen, allerdings hatte mich der Betreff reflexartig dazu veranlasst, sie ungelesen in den Papierkorb zu befördern. »Was wollte sie denn?«
Tonja lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Anrichte. Ihr Lächeln verriet, dass sie mir meine gespielte Gelassenheit nicht abkaufte. »Sie hat uns eine Einladung zum Klassentreffen geschickt. Unser Abi-Abschluss ist zwölf Jahre her. Das wird sicher ein Spaß.«
»Nur über meine Leiche.« Vielleicht war diese Einstellung ja etwas drastisch, aber das war mir egal.
Anstatt einen ihrer typisch bissigen Kommentare abzugeben, öffnete Tonja den Gefrierschrank, nahm einen Vanille-Schoko-Eisbecher heraus und zog aus einer Schublade einen Löffel hervor. Sie setzte sich auf die Arbeitsfläche, was sie nur machte, wenn Jon sie nicht dabei sah. Ansonsten hätte er ihr einen Vortrag über Küchenhygiene gehalten. »Bist du sicher?« Beiläufig stocherte sie in ihrem Eisbecher herum. »Finn wird bestimmt auch kommen.«
Mein Mund war auf einmal trocken und ein nervöses Kribbeln breitete sich in mir aus. Es war schon Jahre her, seitdem ich mich so gefühlt hatte. Aber die Erwähnung seines Namens reichte aus, um mich aus der Bahn zu werfen.
Tonja deutete meinen Gesichtsausdruck richtig, der wohl irgendetwas zwischen Verzweiflung, Vorfreude und Entsetzen ausdrücken musste, und holte einen zweiten Eisbecher aus dem Gefrierfach, den sie mir unter die Nase hielt. Ich griff automatisch danach, spürte aber kaum die Kälte, die sich augenblicklich in meinen Fingern ausbreitete. Die Vorstellung, meinen alten Klassenkameraden gegenüberstehen zu müssen, erfüllte mich mit Panik. Ich sah sie schon vor mir: Die Karrierefrauen und Businesstypen, die ihre eigenen Unternehmen leiteten und den ganzen Tag perfekt gestylt rumliefen. Die überglücklichen Ehefrauen und Mütter, die Babybrei auf ihrer Bluse hatten. Und natürlich jene, die eine Mischung aus beidem repräsentierten und uns allen zeigen wollten, dass »alles mit guter Organisation, eisernem Willen, drei Nannys und fünf Privatassistenten machbar ist«. Und dann gab es noch mich. Dreißig, Single, WG-Mitbewohnerin, mittelmäßig bezahlte Lektorin. Ich sah das mitleidige Lächeln von Teresa und ihrem Hofstaat schon vor mir und wie sie mir versicherten, wie toll und einfach mein Leben im Vergleich zu ihrem wäre und wie sehr sie mich darum beneideten.
Danke, nein.
Aus Jons Zimmer war das gedämpfte Dröhnen von Techno-Musik zu hören. Meine Gedanken wanderten zwischen dem Nachruf und dem Klassentreffen hin und her. Zumindest eines von beiden musste ich vom Tisch haben, ansonsten stand mir eine schlaflose Nacht bevor. Also entschied ich mich für das kleinere Übel.
»Und du glaubst, dass Finn zum Klassentreffen kommen wird?«
Tonja unterdrückte ein Lachen, als hätte sie auf diese Frage gewartet. »Klar. Er ist schon immer gesprungen, wenn Teresa nach ihm gerufen hat.«
Und da war es wieder. Dieses unsichere Gefühl aus Teenagertagen. Ich wurde auf eine Party eingeladen, zu der ich nicht wollte. Gleichzeitig drängte mich der soziale Druck dazu. Um von meiner Nervosität abzulenken, stocherte ich in meinem Eis herum. »Weißt du, was er heute macht? Finn wollte Schauspieler werden, oder nicht?« Noch Jahre nach unserem Schulabschluss hatte ich heimlich einen Blick auf die Darstellerlisten von neuen Filmen und Serien geworfen, die in Deutschland produziert worden waren. Immer mit der leisen Hoffnung, irgendwo Finns Namen zu lesen. »Er ist bestimmt verheiratet.« Das Kribbeln in meinem Bauch verstärkte sich, weshalb ich den Eisbecher auf der Arbeitsfläche abstellte und zu dem Regal ging, in dem sich um die zwanzig Gewürze aneinanderreihten. Nur, um mich von den Gedanken an Finn abzulenken, sortierte ich die Glasbehälter nach dem Alphabet um.
Tonja schnalzte mit der Zunge. »Jon wird dich umbringen, wenn er sieht, dass du dich an seinen Gewürzen vergriffen hast.« Damit hatte sie vermutlich gar nicht so unrecht. Dann musste ich immerhin nicht mehr auf das Klassentreffen. Eifrig sortierte ich die Behälter weiter um. Hinter mir seufzte Tonja. »Wie wär‘s, wenn du dich endlich mal bei Facebook anmelden würdest und die Leute eigenhändig stalkst?«
»Dafür fehlt mir die Zeit.« Ich drehte mich zu ihr um und sah gerade noch, wie sie sich meinen Eisbecher schnappte und munter drauflos löffelte.
»Nach meinem Wissensstand hat Finn gemeinsam mit seiner Schwester das Immobilienbüro seines Vaters übernommen. Der alte Kapitalist … die ganze Familie schwimmt im Geld.« Ich räusperte mich, bevor Tonja ihre Weltverbesserungstheorien weiter ausführte. Sie verstand mein Zeichen und rollte mit den Augen. »Ja, ja. Schon gut … Finns Beziehungsstatus steht auf ›Es ist kompliziert‹. Das kann alles und nichts bedeuten.«
Nachdem ich das Ergebnis meiner Umsortierung noch einmal überprüft hatte, nahm ich Tonja meinen Eisbecher aus der Hand. Er war inzwischen leer. Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Dasselbe gilt übrigens auch bei Männern.« Der unschuldige Blick, den sie mir daraufhin zuwarf, war beinahe schon skandalös.
Ich hatte meine Entscheidung jedoch bereits bei Teresas erster E-Mail gefällt. »Ich gehe garantiert nicht zu diesem Treffen.« Energisch beförderte ich die beiden leeren Eisbecher in den Mülleimer und ging dann in mein Zimmer.
»Oh doch, das wirst du«, erwiderte Tonja mit lieblicher Stimme, bevor ich die Tür hinter mir schloss.
Ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört.
3. Kapitel
Das Erbe
Pünktlich um zehn Minuten vor zehn stand ich vor dem Altbau in der Leipziger Südvorstadt, in dem sich das Büro von Omas Notar befand. Ich war schlecht gelaunt von meiner fehlgeschlagenen Recherche zu dem Nachruf. Es hatte mich einige Telefonate gekostet, bis ich endlich den zuständigen Redakteur für die Todesanzeigen erreicht hatte. Jedoch wollte er mir den Namen des Auftraggebers aus Datenschutzgründen nicht nennen, was ich reichlich übertrieben fand. Es ging schließlich um eine Zeitungsanzeige und um kein geheimes Bankkonto in der Schweiz.
Als meine Eltern um die Ecke kamen, legte ich meine Grübeleien beiseite. Sie waren beide vorwiegend in Schwarz gekleidet, wobei sich Mama ein hellblaues Seidentuch um den Hals gebunden hatte und Papa seine dunkelroten Sneakers trug, weil ihm die anderen Schuhe angeblich Blasen verursachten. Wenige Minuten später trafen Papas Geschwister ein: Onkel Michael und meine beiden Tanten Jutta und Renate. Sie umarmten Papa und sprachen mit ihm über Belangloses, vermutlich um sich abzulenken.
Ralf und Vanessa kamen um kurz vor zehn von einem Geschäftstermin. Die beiden hatten einen Großauftrag an Land gezogen, wie sie uns in knappen Worten schilderten. Gemeinsam mit einem Genossenschaftswohnbau sollten sie die Küchen für fünfzig neue Wohneinheiten einrichten, die im Laufe des nächsten Jahres gebaut werden sollten. Die beiden waren deswegen unangemessen gut gelaunt. Schließlich befanden wir uns auf dem Weg zu einer Testamentsverlesung und nicht zu einem Picknick.
Eine Minute vor zehn sah Vanessa mit zusammengepressten Lippen auf ihre Tag-Heuer-Armbanduhr, die ihr Lars zum fünften Hochzeitstag geschenkt hatte. Ihre gute Laune verpuffte in beeindruckender Geschwindigkeit. »Kim kommt zu spät«, stellte sie mit einem missbilligenden Blick fest.
Augenblicklich kramte Mama in ihrer Handtasche herum. »Ich werde sie gleich mal anrufen. Sie wollte vor dem Termin noch irgendetwas erledigen. Hoffentlich ist ihr nichts passiert …«
Das Klappern von Absätzen löste die angespannte Stimmung auf, die sich zwischen uns aufgebaut hatte. Kim eilte zu uns, eine Hand unter ihr Bäuchlein gelegt, das, wenn man erst einmal von ihrer Schwangerschaft wusste, kaum noch zu übersehen war. Sie trug einen Jeansrock im Used-Look, ein gelbes T-Shirt, darüber einen lila Cardigan und lila Pumps. Vanessa zog bei ihrem Outfit eine Augenbraue hoch, jedoch steckte hinter dieser Geste ein Schwall von Bemerkungen, was sich Kim dabei dachte, in dieser Aufmachung bei einem Notar zu erscheinen. Im Vergleich zum Rest der Familie wirkte sie wie ein Paradiesvogel.
»Entschuldigt die Verspätung«, sagte Kim außer Puste. »Ich bin eine Straßenbahnhaltestelle zu früh ausgestiegen. Ist schon eine Weile her, dass ich hier mit den Öffis unterwegs gewesen bin.«
»Aber du hättest anrufen können, Schätzchen. Wir hätten dich abgeholt oder ein Taxi für dich gerufen. In deinem Zustand solltest du dich nicht überanstrengen.« Mama hakte sich bei Kim unter, als könne diese jede Sekunde einen Kreislaufkollaps erleiden.
»Mum, ich bin schwanger und nicht todkrank. Außerdem hatte ich einfach Lust darauf.«
Wir gingen in das Gebäude. Vanessa sah weiterhin verdrießlich drein, aber daran hatte ich mich in den vergangenen dreißig Jahren gewöhnt.
Eine Stunde später verließen wir Notar Thaler wieder. In einer Hand hielt ich den Brief, den er mir übergeben hatte. Das Papier fühlte sich schwer an und ich befürchtete, dass es mir aus den schweißnassen Fingern gleiten könnte, weshalb ich es umso fester umklammerte.
Jeder von uns hatte eine letzte Nachricht von Oma erhalten, was selbst meine beiden Tanten kurzfristig die Sprache verschlagen hatte.
»Ach du meine Güte.« Tante Jutta fächelte sich mit einer Hand Luft zu, sobald wir hinaus auf den Gehsteig traten. »Von den vielen Infos schwirrt mir der Kopf.«
Es war tatsächlich anstrengend gewesen, Thaler in seinen Ausführungen zu folgen, aber er hatte sich Zeit genommen, uns alles in Ruhe zu erklären: Oma hatte Papa und seinen Geschwistern das Haus samt Grundstück vermacht, sowie einige persönliche Gegenstände wie Opas Taschenuhr und antike Möbelstücke.
Ralf erhielt Omas Sparbücher und das Geld auf ihrem Bankkonto, das er vermutlich in einem Aktienfond anlegen würde. Vanessa bekam den wertvollen Perlenschmuck, in den sie sich schon als Kind verliebt hatte. Kim durfte sich frei in Omas Kleiderschrank bedienen und erhielt zudem drei abstrakte Gemälde. Alles nicht weiter verwunderlich.
Im Gegensatz zu meinem Erbe: Ein einfaches silbernes Armband, das Oma stets getragen hatte. Als ich um die zehn gewesen war, hatte ich sie gefragt, weshalb sie das Armband niemals abnahm, egal ob sie kochte, in der Badewanne lag oder schlief. Auf meine Frage hin, hatte sie sich zu mir hinuntergebeugt und einen Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Das wäre ein Geheimnis, hatte sie geantwortet, aber wenn ich alt genug wäre, würde ich es erfahren. Ich hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht, nun stand mir die Erinnerung aber wieder deutlich vor Augen.
»Na dann …« Onkel Michaels Worte brachten mich zurück in die Gegenwart. Er zündete sich eine Zigarette an. »Wir besprechen dann alles Weitere wegen des Hauses und so weiter, ja?«
Tante Renate schauderte trotz der warmen Temperaturen. »Ich kann mir nicht vorstellen, das Haus zu betreten, wenn Mama nicht mehr da ist.«
»Geht mir genauso. Allein der Gedanke ist gruselig«, stimmte Tante Jutta zu.
Sie sahen erwartungsvoll zu Papa. Er war der jüngste der Geschwister, schien aber gleichzeitig der verantwortungsbewussteste unter ihnen zu sein.
Er seufzte, als hätte er erraten, was sie ihm mitteilen wollten. »Okay, ich kümmere mich darum.«
»Du bist der Beste.« Renate drückte ihm einen raschen Kuss auf die Wange.
Onkel Michael nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette »Melde dich, wenn du Hilfe brauchst, ja?«
Wir standen eine Weile beisammen, sprachen über das Wetter und über Tante Renates Katzen und deren Eigenheiten. Niemand erwähnte die Briefe, die uns Thaler mitgegeben hatte. Wahrscheinlich erging es ihnen ähnlich wie mir. Wir wollten Omas letzte Nachricht im Stillen lesen und sie erst mit den anderen teilen, wenn wir dafür bereit waren.
Das war vermutlich auch der Grund, weshalb sich einer nach dem anderen verabschiedete, bis ich allein zurückblieb. Ich starrte den Brief an, als könnte er mich jeden Augenblick anspringen. Es waren Omas letzten Worte, vor denen ich zugegebenermaßen Angst hatte. Andererseits musste ich wissen, was es mit ihrer Bitte auf sich hatte. Laut dem verlesenen Testament sollte ich mich um Oskar, ihre Schildkröte, kümmern. Oskar und ich hatten nicht unbedingt die beste Beziehung zueinander. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich ihn mit einer Karotte füttern wollen, woraufhin er mich fast gebissen hätte. Seither hielt ich mich von ihm fern. Daher war es umso seltsamer, dass Oskar ausgerechnet zu mir kommen sollte. Nach Omas Tod hatte ihre Haushälterin Martha die Schildkröte zu sich genommen und ich war völlig selbstverständlich davon ausgegangen, dass Oskar bei ihr bliebe.
Also atmete ich einmal tief durch, riss den Umschlag auf und faltete das Papier auseinander.
Die darauf zu sehende Handschrift war eindeutig von Oma. Die geschwungenen Buchstaben erinnerten mich an Rezepte für Apfelstrudel, Nudelauflauf und Kartoffelknödel … und an Briefe, die Oma in ihrem Arbeitszimmer sorgfältig mit einer Schreibfeder verfasste … Briefe. Da war eine verschwommene Erinnerung zum Greifen nahe, und gerade als ich dachte, ich könne das Bild in meinem Kopf schärfer stellen, hupte neben mir ein Auto. Die Erinnerung entglitt mir, wie ein Blatt, das man im Wind einfangen will.
Das hier war eindeutig nicht der richtige Ort, um den Brief zu lesen. Deswegen ging ich in den nahe gelegenen Clara-Zetkin-Park, wo ich mich auf eine Bank setzte. Hier war es herrlich ruhig, abgesehen von dem gelegentlichen Klingeln einer Fahrradglocke und dem Vogelgezwitscher.
Ich nahm erneut den Brief und bemerkte, wie sehr meine Finger zitterten, als ich die erste Zeile überflog. Der Text war unerwartet kurz. Ich wusste nicht, ob ich darüber enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Als ich die Stelle erreichte, in der Oma den Grund für ihre Bitte erklärte, sog ich jedes Wort auf.