Patrick van den Heede arbeitet und lehrt als Ostheopath in Deutschland, Schweiz, Österreich, Belgien, Niederlande und Finnland. Er ist Dozent der AIPF (Agora Internationale pour la Pensée Fragmentaire) von Paris und Co-Autor des Buches Itinéraire Spirituel-Ile de Paques (Albin Michel).
Die Herausgeberinnen der deutschen Fassung
Cornelia Lay arbeitet freiberuflich als Kinesiologin und Physiotherapeutin in Kressbronn am Bodensee.
Dr. Leo Gürtler ist Psychologe, promovierter Erziehungswissenschaftler, Systemischer Familientherapeut und wissenschaftlicher Berater.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de erhältlich.
1. Auflage 2021
ISBN: 9-783753-475059
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen aller Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 2018 niederländische unveröffentlichte Originalfassung: Patrick van den Heede
© 2021 deutsche Fassung: Patrick van den Heede & Cornelia Lay
Aus dem Niederländischen: Cornelia Lay
Lektorat: Ulrike Hurst
Inhaltliche Bearbeitung: Dr. Leo Gürtler
Photos: © 2021 Cornelia Lay
Umschlaggestaltung: Cornelia Lay & Dr. Leo Gürtler
Textsatz: Dr. Leo Gürtler
Dieses Buch wurde mit LYX und LATEX2ε gesetzt (memoir class)
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Bewegung und Aktivität
sind nicht
dasselbe
WOZU Geschichten? Bei dem griechischen Philosophen Sokrates ist nach seinem Schüler Platon in dessen Werk Theaitetos [Θεατητς] die Kunst des Fragens als die hervorstechende Herangehensweise im Dialog anzutreffen, um anderen Menschen zu Erkenntnis zu verhelfen. Dabei wird mit Hilfe von Fragen, Erzählungen und weiteren Gegenfragen der „schlafende“ Geist der Lehrlinge erweckt. Es geht dabei um mehr als nur darum, ein wenig behilflich zu sein. Es geht um tiefste Erkenntnis.
Eine andere Form, Inspiration zu wecken, um Erkenntnis zu ermöglichen, besteht in Lehrreden. In diesen wird erklärt, wie die Natur des Geistes quasi funktioniert und wie man zur Meisterung des eigenen Geist-Körper Phänomens gelangt. Sie sind manchmal wie Manuale gehalten, wie man mit sich selbst umgeht und manchmal wie Karten, um sich orientieren zu können und nicht zu verlaufen. Solche Lehrreden sind traditionell konkreter Natur und nicht abstrakt philosophisch, da sie für einfache Leute verständlich sein sollen. Bei Erkenntnis geht es nicht um einen Universitätsabschluss, sondern darum, sich selbst zu verändern. So listet die Tipiaka je nach Zählweise gut 84'000 Lehrreden des Buddha und seiner Schüler, wobei ein Großteil dieser für ganz normale Menschen gehalten wurde und nur ein Teil für die fortgeschrittenen Nonnen und Mönche. Dabei darf jedoch niemals die Praxis vergessen werden — vom Lesen alleine ändert sich meist wenig. Nur wenn das Gelesene wirklich verstanden und im Leben hier und jetzt umgesetzt wird, können Veränderungen eintreten.
Lehrreden können also einfach Geschichten sein. Sie sind ein ausgezeichnetes Mittel, um über Analogien die Denkweise und die Sichtweise des Zuhörers zu erreichen und diese mit sich selbst zu konfrontieren, herauszufordern und manchmal sogar ihre Geduld und Toleranz auszureizen.
Eine weitere Aufgabe der Inspiration ist es, den Lesenden „Steine in den Weg zu werfen“, es ihnen möglichst schwer zu machen, so dass Lernende lernen, diese Steine aus dem Weg zu räumen, ohne sich groß um sie zu kümmern. Sie sollen dabei weder depressiv noch euphorisch werden, sondern eine innere Balance erreichen. Dieser Aufgabe kommt das Buch mit sehr großer Freude nach. Geduld und Toleranz gehören neben weiteren Faktoren zu den zehn Tugenden (Paramis), die nach dem Buddha direkt zur Erleuchtung führen, wenn sie vollständig ausgebaut sind.
Die nun folgenden Geschichten sind größtenteils durch die östliche Mystik inspiriert und verweisen oft auf Anschauungen des Taoismus und des Zen-Buddhismus. Der Anspruch auf Wahrheit ist damit nicht verbunden.
Die Absicht des Buches ist zeitlos wenn es darum geht, den eigentlich freien Geist zu erneuern, ohne jedoch alles in einen großen Topf zu werfen.
Dies wird von der Hoffnung begleitet, zu anderen Lebensvisionen und einer neuen Lebenshaltung vorzudringen.
Mit anderen Worten — Widerstand dient nicht allein dazu, überwunden zu werden, sondern kann gleichfalls zu einer veränderten Einsicht führen.
Widerstand und Kraft sind Teil desselben Geburtsprozesses.
Patrick van den Heede 2021
ERSTAUNLICHERWEISE sind Bewegung, Gestalt und Form alles Eckpfeiler dieses Buches und beileibe keine „leichte Bettlektüre“. Was hat nun Bewegung mit Entwicklung zu tun? Wozu brauchen wir Formen abseits des Backens und der Töpferei oder des Gießens von Metallteilen? Was nützt es uns, dem Jazz vergleichbar das Thema zu variieren, aber irgendwie auch daran klebenzubleiben? Und viel wichtiger — entwickeln wir uns spirituell, wenn wir Bücher lesen, die noch nicht einmal eine direkte technische Anleitung geben?
Das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigten, als wir die deutsche Ausgabe und Übersetzung dieses Buches vorbereiteten. Was Formen und Bewegung angeht, so reicht es nicht aus, darüber nachzudenken oder dieses Thema emotional zu be- oder verarbeiten. Stattdessen halten wir es mit Jiddu Krishnamurti, der gesagt haben soll, dass Meditation und Bewegung nichts gemeinsames miteinander haben. Ganz im Gegenteil, in der Meditation bewegt der Geist sich überhaupt nicht mehr. Er ist einfach still.
Soviel zur Bewegung — und schon haben wir einen vermeintlich absoluten Gradmesser gefunden.
Beschäftigen wir uns noch mit etwas, bewegt sich also noch etwas in uns. Dann sind wir noch lange nicht dort, wo wir hinwollen. Die Variation desselben Themas können wir somit als einen inneren Gradmesser betrachten, was die Lektüre der folgenden Geschichten nämlich in uns auslöst: Verwirrung? Heiterkeit? Ärger? Besorgnis oder gar Langeweile? Irgendeine Reaktion wird es sein und es lohnt sich, auf diese einzugehen und zu untersuchen, was wir dabei empfinden — um so vom ständigen Denken, Wünschen und Hoffen etwas Abstand zu halten.
Das Buch ist also ein Arbeitsbuch, und nur bedingt als eine kurzweilige Lektüre geeignet, so dass das Lesen einer Geschichte uns beruhigt in den Schlaf wiegt — was nicht ausschließt, dass genau das eintreten kann. Es kann sich aber auch zu „Geschichten für Masochisten — Teil 1: die bewegte Form“ hin verändern, wenn wir auf Themen in uns stoßen, von denen wir dachten, dass wir sie schon lange hinter uns gelassen haben. Das bedeutet, wie nicht unschwer zu erraten ist, dass wir sie eben doch nicht hinter uns gelassen haben. Und damit erübrigt sich die Frage nach der Entwicklung durch ein Buch, denn für Entwicklung sind wir selbst zuständig.
Ein Buch kann wie die Auseinandersetzung mit einem anderen Menschen uns aber Türen öffnen und Dinge zeigen, wo es vielleicht hingeht oder was wir bis dato übersehen haben.
Und das ist doch schon mal was.
Leo Gürtler 2021
UND der Meister sprach zu seinen treuesten Schülern:
„Welcher Weg ist der Weg des Herzens, das von Freude träumt?
Welcher ist der Rhythmus des Herzens, das nach Stille strebt?
Welcher ist der Klang des Herzens, das das Universum kennt?
Welche ist die Kraft des Herzens, das aus sich selbst heraus lebt?
Was ist der Ursprung des Verlangens, wenn Stille die Mutter aller Bewegung ist?
Welche ist die Dimension von Hoffnung, wenn Befreiung die Illusion des Geistes ist?
Was ist ewig, wenn selbst der Klang nicht geboren ist?
Wie einen Unwissenden in Wahrheit unterweisen?
Wie kann Wein reifen und gleichzeitig seinen Ursprung bewahren?
Wo ist die Hand, die ohne Absicht salbt?
Wo verweilt das Auge, das ohne Urteil schaut?
Wie Liebe teilen, wenn zwei dasselbe ,Eine‘ tragen?
Was macht Eins mal Eins, wenn der Unterschied wegfällt?“
Einer der Schüler traute sich und bemerkte gegenüber dem Meister, dass er nur in Fragen sprach, und ob er auf jede Frage eine Antwort von ihnen erwarte.
„Jede Frage entsteht aus einer Vermutung. Jede Vermutung umfasst eine mögliche Antwort. Selbst wenn du im Zweifel bleibst, ist eine Frage immer noch besser als die Antwort, die du vielleicht erwartest. Denn Wahrheit braucht keine Antwort.“
So sprach er, und er ließ seine Schüler mit dem Verdacht zurück, dass keine Fragen gestellt worden waren, sondern nur um Antworten gebeten wurde.
"WAS habe ich in diesem Leben gut zu machen? Mache ich in meinem Leben Fortschritte, wenn ich meine Mängel auflöse?“
Der Lehrling hatte über Karma1 gehört und dessen Auflösung, um ein besseres Leben zu erlangen und befreit zu werden. Andererseits sah er nicht ein, wie er ohne tiefergehende Informationen seine Mängel bearbeiten konnte und wie sich das endgültige Ziel des Lebens anfühlen könnte.
„Es gibt keinen Beginn und kein Ende, nur eine Wanderung ins Unbekannte, das irgendwann Ursprung deines Seins war“, begann der Meister. „Das Leben ist ein kleiner Schritt, ein
Schritt zu einer weiteren Geschichte. Als ob das Leben von sich selbst geheilt wäre.
Der eine Schritt verlängert den anderen. Selbst Zurückweichen bedeutet Veränderung. Das ist, worum sich alles dreht. Durchgang.
Es ist eine Welt voller Geschichten, einzigartig wie das Toben eines Orkans.
Und doch erscheint das Unerwartete nach jeder Erfahrung wie eine Kurve auf einem geraden Weg.
Das ist Leben, mein Freund. Zweifel oder Zögern helfen nicht. Denn nur wachsende Einsicht wirkt als dein alleiniger Leitfaden, und dafür ist Achtsamkeit die beste Haltung.
So wie es bei manchen Stämmen heißt, ,Es reicht nicht, dein Angesicht zur Sonne zu richten, um deinen Schatten zu vergessen'.
Und eines schönen Tages wird dein Licht mit dem stillen Licht zusammenfallen. An diesem Tag wird kein Schatten mehr fallen und der Zenit des Himmels wird mit einem Strahl in dein Denken fließen.
Kein Nachsinnen, keine Schuld, nur ein volles Gefühl von unzähligen Tönen, die deine müden Sinne bis in eine liebevolle Ewigkeit streicheln.“
1 Karma (Sanskrit/ Pali: Kamma) bedeutet „Wirken, Tat“ und bezeichnet in den indischen Philosophien die Ursachen und Wirkungen, die durch geistige, verbale und körperliche Handlungen initiiert werden. Wie Samen, die in fruchtbaren Boden fallen, bedingen sie gemäß ihrer Qualität die spätere Frucht, die heranreift. Vereinfacht führen unheilsame Handlungen zu unheilsamen Früchten und heilsame Handlungen zu heilsamen Früchten, die je auf die Verursacher zurückfallen. Karma (Kamma) gilt als Naturgesetz.
STILL saß ich unter dem Baum, den mein Meister mir anvertraut hat.
Bhodi nannte er ihn und ich sollte dort warten, bis mein Geist erleuchtet wird. Im Schimmer von Samādhi2 sah ich die Bewegung der Welt.
Und ich wußte nicht, wo Erleuchtung wohnte, hier oder in der Welt.
Bis der Abend anbrach
und nur ein Gedanke blieb.
Ein Gedanke ohne Namen,
ein Gedanke ohne einen zweiten.
Gegen Morgen öffnete sich
der rote Lotus, und
Om mani padme hum3“ erklang.
Und ich wusste, dass Bhodi
gesprochen hatte.
Ich war gleichzeitig bewegt und in Stille.
Ein bewegungsloser Blick
in einer offenen Landschaft,
mit meinem ursprünglichen Antlitz,
noch bevor ich
an meine Geburt dachte.
Bhodi ist der Baum,
Erleuchtung das Geschehen.
2 Samādhi (Pali/ Sanskrit) bezeichnet in den asiatischen Weisheitslehren des Hinduismus, Buddhismus, etc. den Zustand der völligen Konzentration des Geistes auf einen Punkt. Samādhi ist ein eigener Bewusstseinszustand, der weder das normale Wachsein noch dem Schlaf oder der Trance entspricht. Es ist ein geistiger Versenkungszustand. Nach dem Buddha ist die hohe Kunst der geistigen Versenkung eine unabdingbare Voraussetzung für die Erleuchtung — neben einem sittlichen Lebenswandel (sīla/ śīla) und Einsicht bzw. Weisheit (paññā/ prajñā).
3 „Om mani padme hum“ bezeichnet eines der wichtigsten Mantren des Mahāyāna-Buddhismus. Eskommt erstmaligin der Kāraavyūha Sūtra vor, die den Boddhisattva Avalokiteśvara preist.
“ZWEI Pferde galoppierten durch eine endlose Ebene. Stundenlang trabten sie nebeneinander her, ehe sie sich müde fühlten.
Sie waren an die Müdigkeit und an das Umhergaloppieren gewöhnt, als ob es einzig und allein eine Ausdauerübung wäre.
Schlussendlich war eines der Pferde erschöpft.
Es fragte seinen Gefährten, wie es kam, dass die anderen Pferde nicht müde wurden. Ihre Hufe schlugen stets im selben Rhythmus auf den Boden. Wann werden sie müde werden, fragte es sich.
Die Pferde wussten nicht, dass es nur sie beide gab, und dass es ihre Hufe waren, die fortwährend widerhallten.
Pferde mit Scheuklappen sehen anders als Pferde ohne Scheuklappen.