Aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl
und einem Nachwort von Paul Berf
Für Annemarie
DEUTSCHER HERBST
RUINEN
BOMBARDIERTER FRIEDHOF
DIE TORTE DES ARMEN
DIE KUNST ZU SINKEN
DIE UNWILLKOMMENEN
DIE RIVALEN
VERLORENE GENERATION
DIE GERECHTIGKEIT NIMMT IHREN LAUF
KALTER TAG IN MÜNCHEN
DURCH DEN WALD DER ERHÄNGTEN
RÜCKFAHRT NACH HAMBURG
LITERATUR UND LEIDEN
ANHANG
ANMERKUNGEN
BRIEFE
NACHWORT VON PAUL BERF
BIOGRAFIEN
Im Herbst 1946 fielen die deutschen Herbstblätter zum dritten Mal seit Churchills berühmter Rede über ein bevorstehendes Fallen des Laubs. Es war ein trister Herbst mit Regen und Kälte, Hungerkrisen im Ruhrgebiet und Hunger ohne Krisen im Rest des alten Dritten Reichs. Den ganzen Herbst über trafen Züge voller Ostflüchtlinge in den Westzonen ein. Zerlumpte, hungrige und unwillkommene Menschen wurden in dunklen, stinkenden Bahnhofsbunkern oder in den hohen, fensterlosen Riesenbunkern zusammengepfercht, die wie viereckige Gasometer aussehen und sich in eingestürzten deutschen Städten als gewaltige Monumente über die Niederlage erheben. Diese oberflächlich betrachtet bedeutungslosen Menschen drückten diesem deutschen Herbst trotz ihres Schweigens und ihrer passiven Unterwerfung einen Stempel düsterer Verbitterung auf. Bedeutsam wurden sie gerade dadurch, dass sie kamen und niemals aufhörten zu kommen, und durch die Zahl, in der sie eintrafen. Vielleicht wurden sie nicht trotz, sondern wegen ihres Schweigens bedeutsam, denn was ausgesprochen wird, kann nie so bedrohlich erscheinen wie das Unausgesprochene. Ihre Anwesenheit war ebenso verhasst wie willkommen, verhasst, weil die Neuankömmlinge nichts mitbrachten als ihren Hunger und ihren Durst, willkommen, weil sie einen Verdacht nährten, den man zu gerne hegen wollte, ein Misstrauen, dem man sich zu gerne hingeben wollte, eine Hoffnungslosigkeit, von der man zu gerne besessen sein wollte.
Kann jemand, der diesen deutschen Herbst selbst erlebt hat, im Übrigen behaupten, dieses Misstrauen sei unberechtigt oder diese Hoffnungslosigkeit unbegründet? Es lässt sich eindeutig sagen, dass dieser nie versiegende Flüchtlingsstrom, der das deutsche Flachland vom Niederrhein und der Unterelbe bis zu den windigen Hochebenen rund um München überschwemmte, eines der bedeutendsten innenpolitischen Ereignisse in diesem Land ohne Innenpolitik war. Ein anderes innenpolitisches Ereignis von ähnlich großer Bedeutung war der Regen, der in den bewohnten Kellern des Ruhrgebiets zwei Fuß hoch stand.
(Man erwacht, wenn man überhaupt geschlafen hat, frierend in einem Bett ohne Decken und geht in dem kalten, bis über die Fußknöchel reichenden Wasser zum Ofen, wo man versucht, ein paar feuchte Äste eines zerbombten Baums anzuzünden. Im Wasser husten irgendwo hinter einem Kinder erwachsen und tuberkulös. Wenn man endlich ein Feuer in dem Ofen entfacht hat, den man unter Einsatz seines Lebens aus einer einstürzenden Ruine geborgen hatte und dessen Besitzer seit zwei Jahren ein paar Meter unter dieser begraben liegen, wallt Rauch in den Keller und die bereits Hustenden husten noch mehr. Auf dem Ofen steht ein Topf mit kochendem Wasser – Wasser gibt es reichlich –, und man beugt sich zu dem Wasser auf dem Fußboden hinab und hebt ein paar Kartoffeln auf, die auf dem unsichtbaren Grund des Kellerbodens liegen. Der Mensch, der bis über die Fußknöchel im kalten Wasser steht, legt diese Kartoffeln in den Kochtopf und wartet darauf, dass sie mit der Zeit essbar werden, obwohl sie schon Frost abbekommen hatten, als es einem gelang, sie aufzutreiben.
Ärzte, die ausländischen Journalisten von den Essgewohnheiten dieser Familien erzählen, berichten einem, was diese in den Kochtöpfen zubereiteten, sei unbeschreiblich. In Wahrheit ist es nicht unbeschreiblich, so wenig, wie ihre ganze Art zu existieren unbeschreiblich ist. Das anonyme Fleisch, das sie auf die eine oder andere Weise ergattert haben, oder das schmutzige Gemüse, das sie Gott weiß wo aufgetrieben haben, ist nicht unbeschreiblich, es ist äußerst unappetitlich, aber das Unappetitliche ist nicht unbeschreiblich, nur unappetitlich. Genauso kann man dem Einwand begegnen, dass die Leiden, die Kinder in diesen Kellerbassins durchmachen müssen, unbeschreiblich seien. Wenn man es möchte, lassen sie sich ganz hervorragend beschreiben, lassen sie sich so beschreiben, dass der Mensch, der vor dem Ofen im Wasser steht, diesen seinem Schicksal überlässt und zu dem Bett mit den drei hustenden Kindern geht und ihnen befiehlt, auf der Stelle zur Schule zu gehen. Es ist verraucht, es ist kalt und es herrscht Hunger in diesem Keller, und die Kinder, die in voller Montur geschlafen haben, gehen in das Wasser, das ihnen fast bis zu den Schäften der kaputten Schuhe steht, durch den dunklen Kellergang, in dem Menschen schlafen, die dunkle Treppe hoch, auf der Menschen schlafen, und in den kühlen und nassen deutschen Herbst hinaus. Bis zum Schulbeginn sind es noch zwei Stunden, und die Lehrer berichten ausländischen Besuchern von der Unbarmherzigkeit der Eltern, die ihre Kinder auf die Straße werfen. Man kann sich mit diesen Lehrern allerdings trefflich darüber streiten, was in diesem Fall Barmherzigkeit bedeuten würde. Der nationalsozialistische Aphoristiker sprach davon, dass die Barmherzigkeit des Henkers im schnellen oder vielleicht auch sicheren Hieb bestehe. Die Barmherzigkeit dieser Eltern besteht darin, ihre Kinder vom Wasser im Haus zum Regen im Freien zu treiben, aus dem feuchtkalten Keller in das graue Wetter der Straße.
Natürlich gehen sie nicht zur Schule, zum einen, weil die Schule noch gar nicht offen ist, zum anderen, weil »zur Schule gehen« bloß einer dieser Euphemismen ist, wie die Not sie in rauen Mengen für alle hervorbringt, die eine Sprache der Not sprechen müssen. Sie gehen hinaus, um zu stehlen oder zu versuchen, mit der Technik des Diebstahls etwas Essbares aufzutreiben, oder mit einer unschuldigeren, sofern eine solche existiert. Man könnte die »unbeschreibliche« Morgenwanderung dieser drei Kinder bis zu der Uhrzeit schildern, zu der ihr Unterricht tatsächlich beginnt, und danach eine Reihe »unbeschreiblicher« Bilder von ihren Aktivitäten an den Schulpulten wiedergeben, so etwa, dass die Fenster mit Schiefertafeln vernagelt sind, um die Kälte auszusperren, diese aber gleichzeitig das Licht aussperren, weshalb den ganzen Tag eine Lampe brennen muss, eine Lampe mit so schwachem Licht, dass es nur mit größter Mühe möglich ist, den Text zu entziffern, den man abschreiben soll, oder wie die Aussicht vom Schulhof beschaffen ist, nämlich so, dass er an drei Seiten von ungefähr drei Meter hohen Ruinenbergen internationalen Zuschnitts umgeben ist und diese Ruinenberge auch als Schultoiletten dienen.
Gleichzeitig wäre es angebracht, die »unbeschreiblichen« Aktivitäten zu beschreiben, mit denen die Menschen, die in ihrem Wasser daheim geblieben sind, ihren Tag ausfüllen, oder die »unbeschreiblichen« Gefühle, von denen die Mutter dreier hungriger Kinder erfüllt ist, wenn diese sie fragen, warum sie sich nicht schminkt wie Tante Schulze und danach Schokolade und Konserven und Zigaretten von einem alliierten Soldaten bekommt. Und die Ehrlichkeit und der moralische Verfall in diesem wassergefüllten Keller sind jeweils so »unbeschreiblich«, dass die Mutter antwortet, nicht einmal die Soldaten der Befreiungsarmee seien so barmherzig, mit einem schmutzigen, abgearbeiteten und rasch alternden Körper vorliebzunehmen, wenn die Stadt voller jüngerer, stärkerer und saubererer Körper ist.)
Zweifellos war dieser herbstliche Keller ein innenpolitisches Ereignis von größtem Gewicht. Ein weiteres solches Ereignis waren das Gras, die Büsche und die Moose, die zum Beispiel in Düsseldorf und Hamburg auf den Ruinenbergen grünten (es ist das dritte Jahr in Folge, in dem Herr Schumann auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz in der Bank an den Ruinen des Nachbarviertels vorbeikommt, und er streitet sich täglich mit seiner Frau und seinen Arbeitskollegen darüber, ob dieses Grün nun als Fortschritt oder als Rückschritt betrachtet werden muss). Die weißen Gesichter von Menschen, die im vierten Jahr in Bunkern leben und so auffällig an Fische erinnern, wenn sie ins Tageslicht hochkommen, um Luft zu schnappen, und die auffallend roten Gesichter gewisser junger Frauen, die einige Male im Monat mit Schokoladentafeln, einer Schachtel Chesterfield, Füllfederhaltern oder Seifen unterstützt werden, waren zwei andere, leicht festzuhaltende Fakten, die diesen deutschen Herbst prägten, so wie sie, wenn auch in etwas geringerem Maße, da die Lage sich durch die kontinuierlich eintreffenden Ostflüchtlinge verschlechtert hat, selbstverständlich auch den vorigen deutschen Winter, Frühling und Sommer geprägt haben.
Aufzählungen sind natürlich immer trostlos, erst recht, wenn trostlose Dinge aufgezählt werden, aber sie können in bestimmten Fällen dennoch notwendig sein. Wenn man einen Kommentar wagen möchte zu der Stimmung von Verbitterung den Alliierten gegenüber, vermischt mit Selbstverachtung, von Apathie, von einer allgemeinen Neigung zu Vergleichen zum Nachteil des Gegenwärtigen, die dem Besucher in diesem trüben Herbst sicherlich entgegenschlug, ist es unerlässlich, eine Reihe konkreter Ereignisse und körperlicher Zustände in Erinnerung zu behalten. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass die Bemerkungen, die auf eine Unzufriedenheit mit und sogar auf ein Misstrauen gegenüber dem guten Willen der siegreichen Demokratien hindeuteten, nicht in einem luftleeren Raum oder von einer Theaterbühne mit ideologischem Repertoire herab geäußert wurden, sondern in ganz konkreten Kellern in Essen, Hamburg oder Frankfurt am Main. Zum herbstlichen Bild der Familie in dem wassergefüllten Keller gehört nämlich auch ein Journalist, der die Familienmitglieder vorsichtig auf ausgelegten Brettern balancierend über ihre Ansichten zur neu gegründeten deutschen Demokratie befragt, ihre Hoffnungen und Illusionen erfahren will – und vor allem: ihnen die Frage stellt, ob es der Familie unter Hitler besser gegangen sei. Die Antwort, die der Besucher daraufhin erhält, führt dazu, dass er sich schleunigst mit einer Verbeugung aus Wut, Ekel und Verachtung rückwärts aus dem übelriechenden Raum zurückzieht und in einem gemieteten englischen Automobil oder amerikanischen Jeep Platz nimmt, um eine halbe Stunde später bei einem Drink oder einem guten Glas echten deutschen Biers in der Bar des Pressehotels eine Betrachtung über das Thema »Der Nationalsozialismus lebt in Deutschland« zu schreiben.
Diese Auffassung vom geistigen Zustand im Deutschland des dritten Herbstes, die dieser Journalist und mit ihm viele andere Journalisten oder ausländische Besucher generell in der Welt verbreiteten, womit sie dazu beitrugen, diese zum Eigentum der Welt zu machen, war natürlich in einem gewissen Sinne zutreffend. Man fragte Kellerdeutsche, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen sei, und diese Deutschen antworteten: ja. Man fragt einen ertrinkenden Mann, ob es ihm besser gegangen sei, als er noch auf dem Kai stand, und der Ertrinkende antwortet: ja. Man fragt jemanden, der bei zwei Scheiben Brot am Tag hungert, ob es ihm besser gegangen sei, als er bei fünf Scheiben hungerte, und erhält zweifellos die gleiche Antwort. Jede Analyse der ideologischen Verfassung des deutschen Volks in diesem schweren Herbst, dessen Grenzen natürlich auch bis in die Gegenwart hinein verschoben werden müssen, solange die verschärften Formen von Elend und Not, die ihn kennzeichneten, weiter aktuell sind, liegt gründlich falsch, wenn sie nicht zugleich in der Lage ist, ein möglichst unauslöschliches Bild von der Lebenswelt und Lebensweise zu vermitteln, zu der die Menschen, die man analysiert, verurteilt sind. Ein anerkannt versierter französischer Journalist riet mir mit den besten Absichten und im Interesse der Objektivität, lieber deutsche Zeitungen zu lesen, als mir deutsche Wohnungen anzusehen oder an deutschen Kochtöpfen zu riechen. Ist das nicht in etwa die Einstellung, die weltweit einen großen Teil der öffentlichen Meinung bestimmt und den jüdischen Verleger Gollancz aus London veranlasste, nach seiner deutschen Reise im Herbst 1946 »die westlichen Werte in Gefahr« zu sehen, Werte, die im Respekt vor der Persönlichkeit bestehen, selbst wenn diese Persönlichkeit unsere Sympathie und unser Mitleid verwirkt hat, also in der Fähigkeit, auf das Leiden zu reagieren, ganz gleich, ob dieses Leiden nun unverschuldet oder selbst verschuldet ist.
Man hört die Stimmen, die sagen, dass es früher besser war, isoliert sie aber von dem Zustand, in dem ihre Besitzer sich befinden, und lauscht ihnen, wie man einer Stimme im Äther lauscht. Man nennt das Objektivität, weil einem die Phantasie fehlt, sich diesen Zustand vorzustellen, ja, man würde eine solche Phantasie aus Gründen des Anstands zurückweisen, weil sie an ein unangemessenes Mitleid appelliert. Man analysiert; in Wahrheit ist es Erpressung, die politische Einstellung des Hungrigen zu analysieren, ohne gleichzeitig auch den Hunger einer Analyse zu unterziehen.
Über die Grausamkeiten der Vergangenheit, verübt von Deutschen in und außerhalb von Deutschland, kann es selbstverständlich nur eine Meinung geben, weil es über die Grausamkeit an sich, wie und von wem auch immer sie ausgeübt wird, nicht mehr als eine Meinung geben kann. Eine andere Frage lautet, ob es nun richtig ist, ja, ob es nicht wiederum grausam ist, das Leiden der Deutschen, von dem in diesem Buch unter anderem berichtet wird, als gerecht zu betrachten, weil es zweifellos die Folge eines gescheiterten deutschen Eroberungskriegs ist. Schon aus juristischer Perspektive ist eine solche Sichtweise grundlegend falsch, weil die deutsche Not kollektiv ist, während die deutschen Grausamkeiten es trotz allem nicht waren. Des Weiteren sind Hungern und Frieren aus dem gleichen Grund nicht in die Strafmaße juristischer Gerechtigkeit aufgenommen worden wie Folter und Misshandlungen, und ein moralisches Urteil, das die Angeklagten zu einem menschenunwürdigen Dasein verurteilt, also zu einem Dasein, das den menschlichen Wert der Verurteilten senkt, statt ihn zu heben, was doch die unausgesprochene Absicht irdischer Gerechtigkeit sein sollte, hat sich selbst das Fundament für seine Legitimität entzogen.
Das Prinzip von Schuld und Vergeltung könnte zumindest einen Anschein von Berechtigung erhalten, wenn die Verurteilenden selbst einem Prinzip verpflichtet wären, das dem vollständig widerspricht, als dessen Folge die meisten Deutschen diesen Herbst als eine kalte und verregnete Ruinenhölle erleben mussten. Doch das ist nicht der Fall: Die kollektive Anklage, die gegen das deutsche Volk erhoben wird, gilt ja im Grunde genommen dem Gehorsam in absurdum, einem Gehorsam auch in Fällen, in denen Ungehorsam das einzig menschlich Berechtigte gewesen wäre. Aber ist nicht der gleiche Gehorsam letzten Endes in allen Staaten der Welt charakteristisch für das Verhältnis des Individuums zu seiner Obrigkeit? Selbst in sehr milden Zwangsstaaten ist es unvermeidlich, dass die Pflicht des Bürgers zum Gehorsam dem Staat gegenüber mit seiner Pflicht zur Liebe zu oder zum Respekt vor seinem Nächsten kollidiert (das Räumkommando, das die Möbel einer Familie auf die Straße wirft, der Offizier, der einen Untergebenen in einem Gefecht sterben lässt, das diesen überhaupt nichts angeht). Entscheidend ist letztlich die prinzipielle Anerkennung des Zwangs zu gehorchen. Ist diese Zustimmung erst einmal erteilt worden, zeigt sich schnell, dass dem Staat, der Gehorsam verlangt, Mittel und Wege zur Verfügung stehen, selbst in den widerwärtigsten Fällen Gehorsam zu erzwingen. Der Gehorsam dem Staat gegenüber gilt uneingeschränkt.
Der Journalist, der sich rückwärts aus dem wassergefüllten Keller im Ruhrgebiet zurückzog, ist deshalb, sofern seine Reaktion von bewussten moralischen Prinzipien geleitet war, eine unmoralische Person, ein Heuchler. Er selbst sieht sich als Realist, aber niemand ist weniger Realist als er. Er hat mit eigenen Ohren das Bekenntnis der hungrigen Familie gehört, dass es ihr unter Hitler besser gegangen sei. Wenn er von vielen anderen Familien in vielen anderen und vielleicht etwas besseren Kellern oder Wohnräumen das gleiche Bekenntnis gehört hat, schließt er daraus, dass das deutsche Volk immer noch nationalsozialistisch infiziert ist. Sein Mangel an Realismus besteht dabei darin, dass er die Deutschen als einen fest zusammengeschweißten Block betrachtet, nationalsozialistische Kälte ausstrahlend, und nicht als eine Vielfalt hungernder und frierender Individuen. Die Antwort auf seine knifflige Frage empört ihn nicht zuletzt, weil er es als die Pflicht der deutschen Kellermenschen betrachtet, politische Lehren aus der Kellerfeuchtigkeit, aus der Schwindsucht, aus dem Mangel an Nahrung, Kleidung und Wärme zu ziehen. Der Kern dieser Lehren sollte sein, dass Hitlers Politik und ihr eigenes Mitwirken an deren Durchführung sie ins Verderben, also in diesen wassergefüllten Keller gestürzt haben. So wahr das auch sein mag, deutet die Problemstellung bei dem Betreffenden trotzdem auf fehlenden Realismus und mangelnde psychologische Einsicht hin.
Man verlangte von den Menschen, die gerade den deutschen Herbst durchlitten, dass sie aus ihrem Unglück lernen sollten. Man bedachte dabei nicht, dass der Hunger ein ausgesprochen schlechter Pädagoge ist. Wer wirklich hungert, klagt wegen seines Hungers nicht sich selbst an, wenn er vollkommen hilflos ist, sondern die, von denen er glaubt, Hilfe erwarten zu können. Ebenso wenig fördert der Hunger die Suche nach ursächlichen Zusammenhängen, da dem permanent Hungrigen die Kraft fehlt, einen anderen Zusammenhang zu erkennen als den nächstliegenden, was in seinem Fall bedeutet, dass er denen, die das Regime gestürzt haben, das früher für seine Versorgung verantwortlich war, vorwirft, diese Versorgung jetzt schlechter durchzuführen, als er es gewohnt war.
Das ist natürlich nicht besonders moralisch gedacht, aber der Hunger hat nichts mit Moral zu tun. »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral …« Die Dreigroschenoper wurde in diesem Herbst an verschiedenen Orten in Deutschland aufgeführt und begeistert aufgenommen, allerdings mit einer anderen Art von Begeisterung als früher: Was zuvor beißende Gesellschaftskritik war, ein mit teuflischer Schärfe formulierter offener Brief an die soziale Verantwortung, hat sich in das hohe Lied der sozialen Verantwortungslosigkeit verwandelt.
Ein ebenso erbärmlicher Pädagoge ist der Krieg. Versuchte man, dem Kellerdeutschen seine Lehren aus dem Krieg zu entlocken, erfuhr man leider nicht, dass dieser ihn gelehrt habe, das Regime zu hassen und zu verachten, das diesen Krieg begonnen hat, ganz einfach, weil ständige Lebensgefahr einen selten mehr als zwei Dinge lehrt: Angst zu haben und zu sterben.
Die Situation, in die der Besucher das deutsche Volk im Herbst 1946 versetzt fand, war kurz gesagt so, dass es als eine moralische Unmöglichkeit erschien, irgendwelche Schlussfolgerungen aus seiner ideologischen Einstellung zu ziehen. Hunger ist ja eine Form von Unzurechnungsfähigkeit, nicht nur ein körperlicher, sondern auch ein psychischer Zustand, der wenig Raum für lange Gedankengänge lässt, was dazu führte, dass einem natürlich viele Dinge zu Ohren kamen, die zwar sehr unangenehm berührten, einem in der momentanen Situation aber kein Recht auf selbstsichere Prognosen gaben. Ich persönlich habe nichts gehört, was abstoßender war als die Bemerkung eines Bankdirektors in Hamburg, der fand, die Norweger sollten eigentlich dankbar sein für die deutsche Besatzung, weil diese ihnen eine ganze Reihe von Gebirgsstraßen beschert habe!
Apathie und Zynismus (»… dann kommt die Moral …«) waren zwei Zustände, die auch die Reaktionen auf die beiden wichtigsten politischen Ereignisse charakterisierten: die Hinrichtungen in Nürnberg und die ersten freien Wahlen. Die Hamburger standen in grauen Trauben vor den Anzeigenbrettern, auf denen bekannt gegeben wurde, dass man die Todesurteile vollstreckt habe. Niemand sagte ein Wort. Man las es lediglich und ging anschließend weiter. Man wirkte nicht einmal ernst, nur teilnahmslos. In einer höheren Mädchenschule in Wuppertal fanden sich die Schülerinnen am 15. Oktober zwar in Trauerkleidung ein, auf eine Brücke in Hannover hatte jemand in der Nacht mit großen Ewigkeitsbuchstaben Pfui Nürnberg gepinselt, vor einem Plakat in der U-Bahn-Station, das einen Bombenangriff darstellte, packte mich ein Mann am Arm und zischte: »Die das getan haben, werden nicht verurteilt.« Aber das waren nur Ausnahmen, die die deutsche Teilnahmslosigkeit nur noch zusätzlich herausstrichen. In einem totenstillen Berlin sah es am 20. Oktober, dem Geburtsdatum der freien Wahlen, genauso aus wie an allen anderen toten Sonntagen. Es gab nicht einen Hauch von Enthusiasmus oder Freude in den stillen Wählerscharen.
Den ganzen Herbst über fanden in verschiedenen Teilen Deutschlands Wahlen statt. Die Wahlbeteiligung mag überraschend lebhaft gewesen sein, aber die politischen Aktivitäten beschränkten sich auf die Prozedur der Stimmabgabe. Die Situation war außerdem so, dass Schlussfolgerungen aus dem Wahlausgang mit äußerster Vorsicht gezogen werden müssen. Ein sozialdemokratischer Sieg und eine kommunistische Niederlage – zwei nackte Fakten, aber längst nicht so eindeutig, wie es in einer normal funktionierenden Gesellschaft der Fall wäre. Die sozialdemokratische Wahlpropaganda setzte sich kraftvoll mit außenpolitischen Problemen auseinander, will sagen mit Russland, die kommunistische größtenteils mit den Problemen im Land, will sagen mit Brot. Da die Verhältnisse in den Kellern so waren, wie sie waren, wäre es falsch zu sagen, die Wahlergebnisse deuteten auf einen demokratischen Instinkt beim deutschen Volk hin, dagegen richtig zu sagen, dass die Angst offenbar stärker war als der Hunger.
So falsch es auch ist, anhand von verbitterten Vokabeln, die einem aus deutschen Kellern zugeworfen werden, generelle Schlussfolgerungen über die Verankerung des Nationalsozialismus bei den Deutschen zu ziehen, muss es als ein ebenso großer Irrtum betrachtet werden, das Wort Demokratie im Zusammenhang mit den Stimmzahlen des Herbstes in den Mund zu nehmen. Lebt man auf der Schwelle zum Hunger, kämpft man in erster Linie nicht für eine Demokratie, sondern darum, sich möglichst weit von dieser Schwelle zu entfernen. Man fragt sich sogar, ob diese freien Wahlen nicht zu einem allzu frühen Zeitpunkt stattfanden. Als Erziehung zur Demokratie waren sie jedenfalls einigermaßen sinnlos, da ihnen auf außenpolitischer Ebene so viele bedeutsame negative Faktoren zuwiderliefen: Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der deutschen Politiker führte dazu, dass die freien Wahlen von Skeptikern misstrauisch als eine taktische Finte der Alliierten beäugt wurden, mit der sie die Unzufriedenheit mit der Versorgungspolitik von den alliierten auf die deutschen Behörden übertragen wollten. Ein Blitzableiter und sonst nichts. Die Voraussetzungen für die Demokratie hießen nicht freie Wahlen, sondern eine verbesserte Versorgungssituation und ein Dasein mit Hoffnung. Alles, was dieses Dasein hoffnungsloser machte: gekürzte Rationen und als Kontrast dazu das gute Leben der alliierten Soldaten, die schlampigen Demontagen, bei denen beschlagnahmtes Material liegen blieb und im Herbstregen verrostete, die Unart, fünf deutsche Familien obdachlos zu machen, um Platz für eine alliierte Familie zu schaffen, und vor allem die Methode, Militarismus mittels eines Militärregimes ausrotten zu wollen, also zu versuchen, Verachtung für deutsche Uniformen in einem Land zu erwecken, das von alliierten Uniformen überschwemmt wurde, das alles trug auch dazu bei, den Nährboden für eine Demokratie unfruchtbarer statt vorteilhafter zu machen, obwohl Letzteres ein selbstverständliches Interesse hätte sein müssen.
Der Journalist, der sich aus dem herbstlichen Keller zurückzog, hätte mit einem Wort demütiger sein sollen, demütig angesichts des Leidens, so selbstverschuldet es auch sein mochte, weil selbstverschuldetes Leiden genauso schwer zu ertragen ist wie unverschuldetes, man empfindet es gleichermaßen stark im Bauch, in der Brust und in den Füßen, und diese drei höchst konkreten Schmerzen sollten nicht aufgrund der nasskalten Brise der Verbitterung vergessen werden, die aus einem verregneten deutschen Nachkriegsherbst hochwallte.
Wenn jeder andere Trost aufgebraucht ist, muss man eine neue Art von Trost erfinden, selbst wenn er absurd anmuten sollte. In deutschen Städten passiert es einem häufig, dass Menschen den Fremden bitten, ihnen zu bestätigen, dass gerade ihre Stadt die am meisten verbrannte, zerstörte und zertrümmerte in ganz Deutschland ist. Es geht nicht darum, in seiner Betrübnis Trost zu finden, die Betrübnis selbst ist zum Trost geworden. Dieselben Leute reagieren missmutig, wenn man ihnen sagt, man habe andernorts Schlimmeres gesehen. Und vielleicht hat man auch gar nicht das Recht, das zu sagen; jede deutsche Stadt ist am schlimmsten, wenn man in ihr leben muss.
Berlin hat seine amputierten Kirchtürme und endlosen Reihen von zerstörten Regierungspalästen, deren geköpfte preußische Säulen ihre griechischen Profile auf den Bürgersteigen ruhen lassen. In Hannover sitzt König Ernst August vor dem Bahnhofsgebäude auf dem einzigen fetten Pferd Deutschlands und ist so ziemlich das Einzige, was in einer Stadt, die einst Häuser für vierhundertfünfzigtausend Menschen besaß, ohne eine Schramme davongekommen ist. Essen ist ein Albtraum aus entblößten, frierenden Eisenkonstruktionen und aufgerissenen Fabrikmauern.
Die drei Rheinbrücken Kölns liegen seit zwei Jahren gesunken auf Grund, der Dom steht düster, rußig und