Für Levin
GESCHICHTEN AUS DEM MASCHINENRAUM UNSERES BEQUEMEN LEBENS
Die Stadt der bunten Flüsse
Unter Sandräubern
Würstchen grillen auf Tropenholz
Rosen von der Nilpferdwiese
Die letzten Fischer vom Aralsee
Gurken aus dem Plastikmeer
Das braune Gold von Viotá
Eine Schule für die Waldmenschen
Smartphones am laufenden Band
Mit Elefanten im Stockbett
Wenn ich daran zurückdenke, war die Idee mit den Turnschuhen wirklich dumm. Keine Frage, ich bin selber schuld, dass ich heute kleine, kreisrunde Narben auf dem rechten Fuß habe. Aber wie es oft ist mit besonders dummen Ideen, so war ich damals überzeugt, sie sei besonders schlau. Ich hatte in etwa gedacht: Welcher Trottel zieht in einer düsteren Fabrik, in der überall offene Fässer mit Chemikalien herumstehen und auf dem Boden bunte Pfützen vor sich hin blubbern – wer zieht hier bitte seine Schuhe aus?
Es hätte mich stutzig machen müssen, dass das alle außer mir taten. Die Männer, die in der indischen Färberei seit Jahren mit Säuren und Laugen hantierten, waren allesamt barfuß oder trugen Flip-Flops. Aber als europäischer Schlaufuchs, der Chemie in der Schule mit einer knappen Vier abgewählt hatte, war ich mir sicher, dass ich recht hatte. Ich beschloss also, dass meine Turnschuhe dranblieben – und verätzte mir den Fuß.
Viele Chemikalien, mit denen man in Färbereien arbeitet, beginnen erst nach ein paar Minuten zu wirken. Die Arbeiter hatten deshalb einen Trick: Sobald sie Soda oder Lauge auf die Haut bekamen, schütteten sie mit einer beiläufigen Bewegung etwas Wasser aus kleinen Eimern über ihre Füße oder Hände. Und schon war die Gefahr gebannt. Meine Stoffturnschuhe jedoch wirkten wie Schwämme, die jede Flüssigkeit, jedes Pulver aufsaugten, mit dem sie in Berührung kamen, und alles zu einem brennenden Cocktail vermengten, der langsam in meine Socken suppte.
Nach einer Stunde spürte ich ein Stechen am Außenrist. Hatte ich eine Wespe im Schuh? Ich ignorierte es. Nach drei Stunden hatte sich das Stechen zu einem Pochen entwickelt, das sich eher nach einem gebrochenen Zeh anfühlte. Aber ich hatte zu tun.
Nach elf Stunden war ich dann zurück im Hotel. Ich schälte meine nassen Sportsocken vom Fuß und war überrascht: Sie hatten sich stellenweise aufgelöst. Und wo meine Schuhe Löcher für Schnürsenkel hatten, waren jetzt blutige Löcher in meinem Fuß. So lernte ich die wichtigste Lektion des Tages: Baumwollfärber sollten keine Turnschuhe tragen.
Die Färberei lag inmitten eines Wohngebiets. Wir waren anderthalb Stunden vom Zentrum Kalkuttas nach Nordosten gefahren. Statt Hochhäusern oder Wellblechhütten wie im Rest der Stadt standen hier vierstöckige Häuser mit Vorgärten und gelb gestrichenen Fassaden. Die Morgensonne blitzte durch Palmen, die Straße war leer bis auf eine Kuh und ein paar freundliche Straßenhunde. Nichts deutete darauf hin, dass wir in der Nähe einer Färberei waren – bis ich die Autotür öffnete und den ersten Atemzug nahm.
Der extrem unangenehme Geruch von Ammoniak – stechend und schwer zugleich – lag in der Luft. Es ist ein Aroma, bei dem der Körper automatisch das Einatmen unterbricht und auf Alarm schaltet. Früher hat man diesen Stoff als Riechsalz verwendet, um in Ohnmacht gefallene Damen aufzuwecken. Ich kannte den Geruch aber von woanders: Vom Friseur. Es roch, als würde ein größenwahnsinniger Figaro hundert Kundinnen gleichzeitig die Haare blondieren.
Hinter einer Mauer stand das Gebäude, aus dem der Gestank kam. Die Fassade war aus unverputztem Beton. Statt Fenstern klafften darin schwarze Löcher, in denen rostige Gitter hingen. Das Haus war nicht größer als die Wohnhäuser nebenan, wirkte aber wie deren böser Zwilling.
Wer über die Textilindustrie spricht, denkt ja normalerweise an Nähereien. Die Bilder von Sweatshops, in denen Frauen in langen Reihen an Nähmaschinen sitzen, gingen spätestens 2013 um die Welt, als in Bangladesch die Textilfabrik Rana Plaza einstürzte. Mehr als elfhundert Arbeiterinnen und Arbeiter kamen in den Trümmern um, mehr als zweitausend wurden verletzt. Sie hatten in dem achtstöckigen Betonklotz für diverse europäische Billigmarken Klamotten genäht.
IN DIESER WELT DER SUB-SUB-SUB-UNTERNEHMER, DER KLEINLIEFERANTEN UND HINTERHOF-FABRIKEN, SIEHT MAN THEMEN WIE ARBEITS- ODER UMWELTSCHUTZ IMMER NOCH LOCKER. UND GENAU HIER WOLLTEN WIR HIN: IN DEN TOTEN WINKEL DER GLOBALISIERUNG.
Solche Großfabriken beliefern entsprechend große Auftraggeber. Einige der Letzteren haben seit der Katastrophe versprochen, mehr auf Sicherheit zu achten. Seither führen Marken wie KiK oder Tchibo immer wieder westliche Journalistinnen und Influencer durch aufgeräumte Vorzeigefabriken und zeigen stolz, dass es jetzt sogar Feuerlöscher und Fluchttreppen gibt. Das ist natürlich alles nicht schlecht. Aber diese Show wollten wir uns sparen.
Denn die Großfabriken mit den riesigen Chargen sind nicht mehr das Hauptproblem. Dort ist das Augenmerk von Kunden und Presse inzwischen so sensibilisiert, dass die meisten Hersteller auf die Regeln achten. Ausgebeutet werden Arbeiterinnen und Arbeiter natürlich immer noch. Nur passiert das Insidern zufolge eher in den kleineren Fabriken; wo nicht die großen Player, sondern die Mittelständler produzieren lassen. Die wenigen Vorzeigefabriken, die sich die teuren Werksprüfungen leisten können, mit denen sich die westlichen Konzerne absichern wollen, haben viel zu wenig Kapazitäten. Also lagern sie Teile ihrer Produktion aus in Schwester- oder Tochterbetriebe, in die sich kein Kontrolleur je verirrt. In dieser Welt der Sub-Sub-Subunternehmer, der Kleinlieferanten und Hinterhof-Fabriken, ist Arbeits- oder Umweltschutz immer noch kein Thema. Und genau hier wollten wir hin: in den toten Winkel der Globalisierung.
IN KALKUTTA SAH ICH HOCHZEITSPAARE AUF VERGOLDETEN PFERDEKUTSCHEN, ABGEMAGERTE STRASSENKINDER AUF DER SUCHE NACH ESSEN, PRIVATHELIKOPTER, DIE AUF WOHNHÄUSERN LANDETEN UND MENSCHEN, DIE SICH ZUM STERBEN AN DEN STRASSENRAND GELEGT HATTEN.
Wie alle indischen Metropolen hatte auch Kalkutta den Charme einer prächtigen Modelleisenbahnstadt, die man in einem Ameisenhaufen versenkt hatte. Verwitterte Kolonialgebäude, weitläufige Parks, eine Handvoll Wolkenkratzer – und ein nie enden wollender Strom von Menschen: Zu Fuß, auf Motorrädern, Fahrrädern, Tuk-Tuks und Rikschas, gesprenkelt von gelben Flecken, den alten britischen Taxis, die hier noch in Gebrauch waren. Mich faszinierte Indien seit meiner ersten Reise hierher. Es war gelebte postkoloniale Improvisationskunst.
Die fast fünfzehn Millionen Bewohner des Großraums Kalkutta schienen mir des Öfteren ein einziger intelligenter Organismus zu sein. Tat sich irgendwo ein Zwischenraum auf, egal ob bei parkenden Autos oder unter einem Brückenpfeiler, führte ihn der Organismus augenblicklich irgendeinem Zweck zu. Jeder Quadratmeter wird genutzt: zum Essen oder Schlafen, zum Handeln, Streiten oder Betteln. In Kalkutta sah ich Hochzeitspaare auf vergoldeten Pferdekutschen neben abgemagerten Kindern auf der Suche nach Essen, Privathelikopter, die auf Wohnhäusern landeten und Menschen, die sich zum Sterben an den Straßenrand gelegt hatten.
Die Gleichzeitigkeit all dieser Eindrücke war ein Schock, obwohl ich nichts anderes erwartet hatte. Kalkutta steht schon seit Jahrzehnten gleichbedeutend für Armut; spätestens seit Mutter Teresa dort in den Armenhäusern gewirkt hat. Die Stadt liegt in Westbengalen, an der Ostgrenze Indiens, direkt neben Bangladesch. Man spricht dieselbe Sprache: Bengalisch. Die großen Modekonzerne lassen ihre Waren aber schon lange nicht mehr in Kalkutta herstellen, wo der Mindestlohn hundertsiebenunddreißig US-Dollar im Monat beträgt. Für die auf Gewinnmargen fixierte Textilbranche ist das zu viel. Sie ist größtenteils nach Bangladesch abgewandert. Dort ist der Mindestlohn halb so hoch.
Die Industrie von Kalkutta schien mir ein ähnliches Improvisationstalent zu haben wie seine Bewohner. Unter Zeltplanen in Hinterhöfen ratterten Nähmaschinen Jeans zusammen. In leer stehenden Bauruinen schweißten Männer Anhängerkupplungen. Und vom Highway aus sah man auf den Dächern zehnstöckiger Mietshäuser überall dampfende Blechbaracken, vor denen hauptsächlich rot und gelb gefärbtes Leder zum Trocknen auslag. Flachdächer bedeuteten wertvollen Platz. Also gerbte man dort Tierhäute, direkt neben Privatwohnungen.
Der Chef unserer Färberei, ein Bengale mit randloser Brille und dicken Ringen, begrüßte uns in seinem winzigen Büro. Es ging los mit einer kleinen Einweisung. Die bestand größtenteils aus einem Herunterrattern seines Lebenslaufs. Er hatte es, erzählte er, als erstes Kind seiner Familie auf die Universität geschafft und schließlich zum Fabrikanten mit dreißig Mitarbeitern. Die bekämen alle mehr als den Mindestlohn und seien sehr zufrieden. Ansonsten hatte er nur eine Regel für uns: Würde einem von uns schwindelig, müssten wir sofort abbrechen. Damit entließ er uns.
Neben ein paar blauen Kanistern wartete Uttam. Ein kleiner, schüchtern lächelnder Mann mit Schnurrbart. Er war Mitte dreißig, sah aber – wenn man von seinen Zahnlücken absah – zehn Jahre jünger aus. Mit ihm würde ich heute arbeiten. Ich wollte wenigstens einen Tag im Leben eines Färbers erleben.
Im Erdgeschoss der Fabrik lag die Höhle. Ein fensterloser verwinkelter Raum, schummrig beleuchtet von drei oder vier Glühbirnen. An den Wänden standen riesige malmende Maschinen und Kessel, vor oder auf denen kleine Männer in Unterhemden oder mit freiem Oberkörper herumkletterten, Pulver aus Säcken hineinschütteten, Stoffbündel herauszogen, Hebel umlegten. Es zischte, brummte und blubberte.
Ich musste an ein Gemälde von Adolph von Menzel denken, in dem er die Arbeit in einem schlesischen Eisenwalzwerk gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts festgehalten hat: Die Öfen und Walzen als düstere Monster, die sich offenbar nur mit Müh und Not von Menschen in Schach halten lassen. Das Bild dokumentiert die Brachialgewalt der frühen Industrialisierung, in der der Mensch den Maschinen zu dienen schien und nicht umgekehrt. Fast hundertfünfzig Jahre danach sind die deutschen Fabriken größtenteils heller und sauberer. Gewerkschaftskonform. Die menschenfeindliche Industrie gibt es natürlich weiterhin. Nur eben nicht mehr so sichtbar.
Quer durch die Höhle verlief im Zickzack eine offene Rinne; wie ein kleines, betoniertes Bachbett. Sie führte zu einem quadratischen Loch in der Mauer. In dieser Rinne war kein Wasser; die Arbeiter stiegen routiniert darüber hinweg. Der Sinn des Ganzen erschloss sich mir nicht, aber ich prägte mir ein, wo die Rinne verlief, um mir im Halbdunkel später nicht den Knöchel zu brechen.
Uttam blieb vor einer Maschine stehen, die im Moment stillstand. »Das ist unsere erste Aufgabe.« Ein Gebirge lose zusammengeworfener, beiger Stoffbahnen erhob sich vor uns. Das Material, wie die Spinnerei es geliefert hatte: Fünfundzwanzig Schläuche, jeder vierzig Meter lang und einen halben Meter breit. So sah also ein Kilometer Baumwolle aus. Das Tagewerk eines Färbers.
Beim Ankleiden war ich zum Glück vertrauensvoller als bei der Sache mit den Schuhen. Ohne Umschweife legte ich die komplette Sicherheitskleidung an, die Uttam mir anbot. Sie bestand aus einer Plastikfolie, die ich mir um die Hüfte band. Das war’s.
DIE FÄRBEREI IST DER GIFTIGSTE SCHRITT IN DER HERSTELLUNG VON TEXTILIEN. ES BRAUCHT HUNDERTE CHEMIKALIEN, UM BAUMWOLLE ODER KUNSTFASERN ZU FÄRBEN. DIE MEISTEN SIND GIFTIG, ÄTZEND, KREBSERREGEND, HORMONELL WIRKSAM ODER ALLES AUF EINMAL.
Die Maschine hieß in der Sprache des Färberhandwerks Haspelkufe, las ich später in einem Handbuch. So ein Ding besteht grob gesagt aus einer Wanne, in die ein kleines Auto passen würde; darüber drehen sich ein paar Walzen. In die spannten wir nun erst mal die Stoffbahnen ein, sodass die Haspelkufe sie endlos im Kreis durch die Flüssigkeit in der Wanne ziehen konnte. Im Mittelalter erledigten die Färber das noch von Hand, indem sie mit Stöcken stundenlang in Fässern herumstocherten. Insofern hätte es schlimmer kommen können.
Der Profi nennt die Flüssigkeit in der Wanne Flotte. Diese Flotte besteht zuerst mal aus einer Natronlauge. Durch sie soll sich der Farbstoff später besser an den Stoff binden. Aber nun holte Uttam die Farbe. Sie war in diesen blauen Kanistern, die vor der Tür gestanden hatten. Und schließlich schleppten wir noch einen zentnerschweren Sack Soda aus einem Nebenraum. Dann schütteten wir alles in einem Bottich zusammen. Während ich mit einer Holzlatte rührte und Uttam schüttete, dampfte und blubberte es. Ich atmete normal weiter – und übergab mich fast. Messerscharfer Chlorgeruch brannte in meinem Hals. Ich würgte, meine Augen tränten. Uttam guckte erschrocken. Wir gingen eine Runde an die frische Luft, wo wir zufällig dem Fabrikbesitzer begegneten. Er gab mir den Rat, zum Schutz vor den Dämpfen einfach den Kragen meines T-Shirts vor Mund und Nase zu ziehen. Manchmal liegt die Lösung so nah.
Die Färberei ist der giftigste Schritt in der Herstellung von Textilien. Es braucht Hunderte Chemikalien, um Baumwolle oder Kunstfasern zu färben. Die meisten sind giftig, ätzend, krebserregend, hormonell wirksam oder alles auf einmal. In deutschen Färbereien tragen die Arbeiter und Arbeiterinnen Atemschutz, Kittel, Stiefel und Handschuhe. Die Filterung des Abwassers ist aufwendig und teuer. Konsequent, dass jede Firma, die Klamotten günstig verkaufen will, diese in Asien färben lässt. So geschieht alles außer Sichtweite. Und so stiehlt man sich aus der Verantwortung.
DAS GRUNDWASSER VON KALKUTTA IST MASSIV MIT GIFTSTOFFEN AUS DER INDUSTRIE BELASTET. FÜR DEN STAAT SIND EINE MILLION TOTER FISCHE AKZEPTABLER ALS EINE MILLION GEFÄHRDETER ARBEITSPLÄTZE.
Ein paar Stunden später verstand ich auch die Funktion der Betonrinne. Die Haspelkufe hatte unseren Kilometer Stoff lange genug durch die blaue Wasser-Farb-Chlor-Lösung gezogen. Das Beige der Baumwolle war einem fast schwarzen Blau gewichen. Uttam stoppte die Walzen und legte irgendwo in den Eingeweiden der Maschine einen Hebel um. Die heiße Brühe gluckerte aus der Wanne und in den Kanal. Ein nachtblauer, schaumiger Strom schoss quer durch die Höhle, vorbei an den anderen Maschinen und Arbeitern, dem Loch in der Mauer entgegen.
Von draußen strahlte ein Spalt Sonne in die Düsternis. Ich bückte mich und sah raus. Hohe Gräser bewegten sich im Wind, dahinter verlief ein Bächlein, das ich vorher nicht gesehen hatte. Dort hinein entleerte sich jetzt mit einem Tosen der Inhalt unserer Färbemaschine. Ein paar hundert Liter Lauge verschwanden in der Natur. Mit einem metallischen Quietschen schloss Uttam die Klappe in der Maschine, nickte zufrieden und sagte: »Zeit für die Mittagspause.«
Natürlich fragte ich ihn, ob er es nicht irgendwie seltsam fände, das ganze Abwasser in den Bach zu leiten. Seine Antwort: »Nein, keine Sorge, das Wasser ist nicht giftig.« Zu diesem Zeitpunkt brannte mein rechter Fuß schon intensiv, und ich konnte mir nach meinem Würgeanfall lebhaft vorstellen, was passieren würde, wenn Slumbewohner flussabwärts darin badeten oder ihren Reis damit kochten. Es war offensichtlich eine riesige Sauerei.
Gleichzeitig hätte ich es anmaßend gefunden, Uttam einen Vorwurf zu machen. Er folgte den Anweisungen, die ihm der Chef der Fabrik gegeben hatte. Das Grundwasser von Kalkutta ist massiv mit Giftstoffen aus der Industrie belastet. Für den Staat sind eine Million toter Fische akzeptabler als eine Million gefährdeter Arbeitsplätze.
ALS IN BANGLADESCH NACH DUTZENDEN BRÄNDEN IN NÄHEREIEN DIE STANDARDS FÜR ARBEITSSCHUTZ ZUMINDEST EIN BISSCHEN STIEGEN, UND DAMIT AUCH DIE KOSTEN, ZOGEN VIELE MODEKONZERNE IHRE AUFTRÄGE SCHON WIEDER AB.
Aber letztlich liegt die Verantwortung natürlich bei den Auftraggebern aus Übersee. Bei den Konzernen, deren Einkäufer in der Limousine anreisen und dunkelblaue Baumwolle so billig wie möglich bestellen – weil sie so selbst dann noch eine gute Marge kassieren können, wenn sie T-Shirts für vier Euro verkaufen. Sie müssen wissen, dass ein kleiner indischer Lieferant diesen Preis nur bieten kann, wenn er beim Umwelt- und Arbeitsschutz spart.
Es ist das klassische Lieferkettenproblem. Je mehr Stationen eine Ware durchläuft, bis sie beim Auftraggeber in Europa ankommt, desto wahrscheinlicher werden auf dem Weg Mensch und Umwelt ausgebeutet. Während ich in Indien in der Fabrikhöhle stand, diskutierte die deutsche Bundesregierung über die Einführung eines Gesetzes, das dem ein Ende bereiten würde. Bislang können Firmen die Verantwortung einfach auf die Subunternehmer schieben. Nach dem Motto: »Kinderarbeit auf der Kakaoplantage? Schlimm, aber nicht unsere Schuld. Wir wussten von nichts.« Das sogenannte Lieferkettengesetz würde große Unternehmen für die Zustände entlang aller Stationen haftbar machen.
FÜR EINE NÄHERIN BETRÄGT DER GESETZLICHE MINDESTLOHN IN ÄTHIOPIEN 21 US-DOLLAR IM MONAT. ETWA EIN DRITTEL VON DEM IN BANGLADESCH.
Wir fanden nie heraus, für welchen Kunden wir an diesem Tag Baumwolle gefärbt hatten. Der Fabrikchef ließ uns natürlich nicht in seine Bücher gucken. Und anders als bei fertigen Kleidungsstücken sieht man bei Stoffballen noch nicht, welches Etikett am Ende eingenäht wird. Wir erfuhren nur, dass die Näherei daraus Unterhosen für einen europäischen Discounter herstellen würde.
Hinter der Idee des Lieferkettengesetzes steht eine bittere Erfahrung. Im globalen Süden endet die Ausbeutung oft erst, sobald ausländische Kunden Regeln vorgeben. Die deprimierende Wahrheit ist: Für Regierungen und Unternehmer in Entwicklungsländern sind Hungerlöhne und fehlender Umweltschutz Standortvorteile. Wer den niedrigsten Preis bietet, bekommt den Auftrag. Als in Bangladesch nach Dutzenden Bränden in Nähereien die Standards für Arbeitsschutz zumindest ein bisschen stiegen, und damit auch die Kosten, zogen viele Modekonzerne ihre Aufträge schon wieder ab. H&M, Levi’s, Calzedonia, Calvin Klein, Tommy Hilfiger, Tchibo, Aldi und Lidl lassen ihre Kleidungsstücke inzwischen in Äthiopien herstellen. Der gesetzliche Mindestlohn für eine Näherin beträgt dort 21 US-Dollar im Monat. Etwa ein Drittel von dem in Bangladesch. Was natürlich nur zum Leben reicht, wenn man zu fünft in einer Lehmhütte haust und keine Familie ernähren muss.
Das ist das Problem des unregulierten Arbeitsmarkts: Sobald nur Angebot und Nachfrage die Löhne bestimmen, findet sich bei acht Milliarden Menschen immer jemand, der den Job für noch weniger Geld macht. Ausbeutung ist die Folge. Und die Konsequenzen tragen jene, die sich am wenigsten wehren können: die Ärmsten der Armen. Und die Natur.
Das Lieferkettengesetz soll das umdrehen. Die Idee ist: Wenn Konzerne haftbar sind für alles, was auf der langen Reise ihrer Produkte passiert, fordern sie von ihren Lieferanten auch mit Nachdruck bestimmte Standards ein. Dann wird Arbeits- und Umweltschutz zum Standortvorteil. Es gewinnt nicht mehr derjenige den Auftrag, der das meiste aus seinen Arbeitern herauspresst, sondern der, der den Kunden garantieren kann, dass bei ihm keine Kinder schuften und kein Gift im Fluss landet. Viele deutsche Unternehmen sind für das Gesetz. Denn Firmen, die jetzt schon verantwortungsvoll arbeiten, haben dann endlich keinen Nachteil mehr.
Das Thema beschäftigt immer mehr Industriestaaten. In Frankreich und den Niederlanden gibt es schon länger solche Gesetze, in Österreich wird es diskutiert, in der Schweiz scheiterte im November 2020 ein Volksentscheid knapp, der eine besonders strenge Regelung einführen wollte. Die deutsche Bundesregierung hat sich Anfang 2021 auf ein Lieferkettengesetz geeinigt, nachdem eine Umfrage ergeben hatte, dass nur ein sehr kleiner Teil der deutschen Unternehmen seine Zulieferer freiwillig kontrolliert. Allerdings kritisieren Menschenrechts- und Umweltorganisationen den Entwurf als ungenügend. Auf Druck des CDU-geführten Wirtschaftsministeriums greift es zunächst nur für Unternehmen mit mehr als dreitausend Mitarbeitern, klammert also kleine Unternehmen und den sogenannten Mittelstand aus – in dem immer noch die Mehrheit der Menschen beschäftigt ist. Und es umfasst keine zivilrechtliche Haftung. Oxfam zufolge »droht das Gesetz ins Leere zu laufen«.
An der Treppe zur Kantine drückte mir Uttam eine Flasche in die Hand. Waschbenzin. Er rieb damit seine Hände ab und wischte sie an seinem Shirt trocken. Meine Arme waren fast bis zum Ellbogen blau verspritzt. Das Benzin verwässerte immerhin den Farbton auf meinen Händen zu einem hellen Grau. Dafür rochen sie jetzt, als gehörten sie einem Tankwart. Wir aßen mit den Händen.
Über die Jahre habe ich als Reporter die Beobachtung gemacht, dass die Menschen, egal wo auf der Welt und unter welchen Bedingungen sie auch arbeiten, das Mittagessen doch meist in überraschend ähnlicher Weise einnehmen. Von der Blumenfarm in Kenia bis zur Spielzeugmanufaktur in China sind fast alle Kantinen der Welt gekachelte Räume mit schlichten Tischen, an denen einfaches Essen auf Teller geklatscht und in Ruhe gegessen wird. Vorher und nachher kann der Job noch so anstrengend, gefährlich oder unhygienisch sein – das Essen ist eine Ruhephase.
Bei den Färbern in Kalkutta war das anders. Fand ich schon die Fabrik gruselig, war die Kantine die nächste Stufe des Horrors. Im Grunde ist schon der Begriff irreführend. »Essloch« wäre treffender. Es handelte sich um eine Art Hohlraum zwischen der Halle und dem darüberliegenden Stockwerk. Er hatte eine Deckenhöhe von knapp anderthalb Metern. Darin lagerten blaue Kunststofffässer mit giftigen Chemikalien. In diesen Hohlraum krabbelten die Färber jetzt nacheinander hinein, setzten sich im Schneidersitz auf den nackten Beton, nahmen sich schmuddelige Plastikschälchen und schaufelten Reis und gelbes Hühnchencurry aus zwei Töpfen, die jemand dort hingestellt hatte – dann aßen sie stumm mit der rechten, meist blau gefärbten Hand.
Seit dreiundzwanzig Jahren arbeitete Uttam als Färber, erzählte er mir beim Essen. Das bedeutete, dass er mit ungefähr zwölf Jahren angefangen hatte. Er kam aus Bangladesch; seine Frau lebte mit den drei Kindern dort in einem Dorf. Ihnen schickte er den Großteil seines Lohns. Alle drei Monate besuchte er sie. Für eine Woche. »Ich bin sehr zufrieden mit meiner Arbeit«, sagte er.
Ich hatte während der Anreise ein paar Statistiken gelesen. Demnach kauft jeder Deutsche im Schnitt sechzig Klamotten im Jahr; so viele wie noch nie. Wir besitzen jeder durchschnittlich zweiundneunzig Kleidungsstücke – Socken und Unterwäsche nicht mitgezählt. Knapp die Hälfte davon tragen wir fast nie. Insgesamt zwei Milliarden Klamotten lagern nutzlos in deutschen Schränken. Ein T-Shirt tragen wir heute im Schnitt kaum öfter als die Plastiktüte, in der wir es aus dem Laden mitgenommen haben.
Das ist der Erfolg der Fast Fashion; einer der genialsten Erfindungen der letzten Jahrzehnte, wirtschaftlich gesehen. Konzerne wie H&M haben die Menschen in den Industrieländern seit den Neunzigern mit immer billigerer, immer schneller wechselnder Mode angefüttert. H&M oder Zara bringen heute knapp fünfzig Kollektionen im Jahr heraus. Für ein T-Shirt muss man kaum mehr zahlen als für einen Cappuccino. Toll für die Kunden.
Und noch toller für die Konzerne. Der Absatz von Klamotten hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren weltweit verdoppelt – auf knapp zwei Billionen Dollar pro Jahr (das sind kaum zu begreifende zweitausend Milliarden). Amancio Ortega, der Gründer von Zara, ist der sechstreichste Mensch der Erde.
Toll ist die Entwicklung auch für die Lieferanten: Sie stellen heute mehr als doppelt so viele Kleidungsstücke her wie vor zwanzig Jahren; nämlich mehr als hundert Milliarden.
Nur nicht so toll für die Umwelt – die die Rohstoffe für diesen Wahnsinn zur Verfügung zu stellen hat und das Gift schlucken muss, das dabei anfällt. Dazu kommt, dass die Qualität der neuen Schnellmode so mies ist, dass man sie gebraucht kaum noch wiederverwenden kann. Was insofern gar nicht so schlecht ist, als die Lager der Secondhandläden ohnehin voll sind.
Als ich Uttam von dem Phänomen der Fast Fashion erzählt hatte, und dass viele Europäer ein Shirt nur zweimal tragen, bevor sie es wegwerfen, entstand erst mal eine unangenehme Pause. Er guckte zu unserem Dolmetscher, der meine Erklärung ins Bengalische übersetzt hatte, als müsse er sich verhört haben. Der Dolmetscher wiederholte den Satz und nickte. Uttams Miene verdüsterte sich. Es fehlte nicht viel, und ihm wäre ein Batzen Reis aus der Hand gefallen. »Das kann ich nicht glauben«, murmelte er. »Aber wenn das wirklich so ist, macht es mich sehr traurig.«
Solche Momente hatte ich schon öfter erlebt: Der Stolz auf die eigene Arbeit, der selbst einen armen Kaffeepflücker im kolumbianischen Hinterland strahlen ließ, wenn man ihn fragte, ob er seinen Job mochte. Ich bin überzeugt, die meisten Menschen arbeiten gerne. Es erfüllt uns mit Sinn, unsere Lebenszeit in etwas zu investieren, das andere Menschen wertschätzen. In diesem Sinn hatte auch Uttam einen Berufsstolz. Und den hatte ich nun erschüttert. Vielleicht täusche ich mich, aber mir war so, als hätte er ab diesem Moment durchgehend eine kleine Sorgenfalte auf der Stirn gehabt.
Am Nachmittag luden wir die gefärbten Stoffbahnen in eine Schleuder, um die Flüssigkeit rauszukriegen. Danach schleppten wir sie in den vierten Stock, wo wir sie zum Trocknen auf Drahtseile hängten. Von dort warfen wir sie schließlich in den Hinterhof, zogen sie nacheinander über eine drei Meter hohe Röhre aus durchlöchertem Metall, aus der heiße Luft blies. So wurde der Stoff endgültig trocken und glatt.
Es war nach einundzwanzig Uhr und meine Schläfen pochten von den Dämpfen in der Fabrik. Selbst der Smog Kalkuttas, der uns draußen erwartete, erschien mir jetzt so erstrebenswert wie Tiroler Bergluft. Der Großteil der Fabrik war dunkel und still, als wir den Berg gewaschener und getrockneter Baumwolle vor einer Art monströsem Bügelbrett abluden. Im letzten Arbeitsschritt bügelte diese Mangel die Bahnen und drehte sie straff in fünfundzwanzig identische Rollen – das finale Produkt der Färberei. Am nächsten Morgen würde ein Fahrer sie abholen und an die Näherei liefern.
Während Uttam und ich die Mangel fütterten, versammelte sich eine Gruppe Arbeiter um uns. Ich kannte ein paar vom Mittagessen. Sie trugen frische Shirts, einige hatten nasse Haare und rochen nach Rasierwasser. Sie standen da und guckten amüsiert zu, wie ich mich abmühte.
»Was machen die hier?«, fragte ich Uttam.