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HELMUT WLASAK

IN ALLEN
PUNKTEN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2021

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Johann Auer

Coverfoto: © Shutterstock/Mopic, © Shutterstock/PiXXart

Cover innen: © Shutterstock/PavelKant, © Shutterstock/PiXXart

eISBN 978-3-99200-288-7

INHALT

Hans – Rauschzeit

Dr. med. SA – Ein Halbnackter in Weiß

Edith und Erika – Verschollene Gartenzwerge

Peter – Eine Nacht im Chinarestaurant

Anna – Die Oma mit den Maschinengewehren

Jan und Marinella – Eine Liebschaft mit gewissen Vorzügen

Augusto-Bernardo – Kolumbianische Zeichensprache

Louis – Ein Abstecher ins Fegefeuer

Günther – Träume und Wahrheiten

Ivan – Die originale Fälschung

Igor – Arithmetische Würstelwissenschaft

Bojan und Miroslav – Die Transportunternehmer

Inge – Die einzige ruhige Nacht

Dominik – Die harte Tasche des Gesetzes

Walter und Franz – Das siegerlose Rennen

Gerald – Vor die Hunde

Sunday – Das Ende einer Reise

Alexander – Familiengericht

Helmut – Alltag, aber nicht alltäglich

Herbert – Geheimnisvolle Lauschangriffe

Josef, vulgo Peppi – Ein Profi, wie er im (Strafgesetz-)Buche steht

Fadil – Von Krieg zu Krieg

Erhard – Der Weltreisende

Karl – Cowboys der Nacht

Ioan – Die Geschichte einer Lüge

Gerhard und Dietmar – Die letzten Herbsttage

Alex – Heiße Liebe und Nichtrauchermasken

Eva und Egon – Der beste Autoverkäufer aller Zeiten

Stanislav und Felix – Ein unverbindliches Geständnis

Wolfgang und Renate – Ein Ausflug auf die andere Seite

Hans

Rauschzeit

Ein heller Glockenton hallte durch die Gänge und verkündete das Ende der Pause. Die Schüler strömten in die Klassenzimmer zurück. Binnen weniger Augenblicke war der Raum angefüllt mit zweiunddreißig Polizeischülern, die ihre Plätze auf den Bänken einnahmen. Es war ein ruhiger Tag gewesen, bisher. Nun stand „Verwaltung“ auf dem Lehrplan. Die Auszubildenden lümmelten mehr oder weniger interessiert an ihren Tischen. Beim nächsten Glockenschlag betrat pünktlich wie eine Uhr der Vortragende die Klasse. Die Schüler schoben Müdigkeit oder Desinteresse beiseite – versuchten es wenigstens – und erhoben sich.

„Danke, setzen!“, sagte der Abteilungsinspektor und ließ seinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Bald würden diese jungen Menschen im Dienst der Allgemeinheit stehen. Manche waren dafür wie prädestiniert. Andere nicht. Der Inspektor selbst war ein alter Hase, beherrschte sein Fach nicht nur in der Theorie, sondern vor allem auch aus der Praxis. Das zeichnete ihn aus. Mit anschaulichen Beispielen schaffte er es stets, die Paragrafen und gesetzlichen Bestimmungen greifbar zu machen. Sogar völlig Unbedarfte hätten seinem Unterricht folgen können. Er wollte eben mit dem Unterricht anfangen, als ein Klopfen ihn unterbrach. Ein weiterer Polizeilehrer betrat den Raum, nur Sekunden später gefolgt vom Stellvertreter des Schulkommandanten. Die beiden bauten sich vor der Klasse auf.

„Meine Damen und Herren, wir werden benötigt. Wir rücken in einer Stunde aus“, begann der stellvertretende Schulkommandant. Was folgte, waren kurze Informationen zu einem bevorstehenden Praxisteil, den die Ausbildungskriterien so eigentlich nicht vorsahen: Alle Grundausbildungslehrgänge sollten in den Osten des Bundeslandes verfrachtet werden, um an einer groß angelegten Suchaktion der dortigen Polizei und Feuerwehr teilzunehmen. Zwei Personen seien seit einigen Tagen abgängig.

Wenige Stunden später entstiegen die jungen Polizeischüler unweit eines Waldstückes den Bussen. Nach der allgemeinen Besprechung wurden die insgesamt mehr als einhundert Anwesenden in Gruppen aufgeteilt. Die Polizeischüler, aber auch Beamte des hiesigen Postens, des Bezirkskommandos und zahlreiche Angehörige der Feuerwehr bildeten lange Ketten und nahmen die Suche auf. Im Abstand von etwa zwei Metern begannen sie, das Gelände zu durchkämmen, um Hinweise auf den Verbleib der Vermissten zu finden. Oder auch die Vermissten selbst. Anhaltspunkte für ein Verbrechen gab es nicht.

Der Weg führte durch hüfthohes Gras, Halme und Dornen, Büsche und Gestrüpp, Unterholz und Bäumchen. Teilweise war der Bewuchs so dicht, dass ein Durchkommen fast unmöglich war. Hier kamen die wenigen Suchhunde zum Einsatz. Sie waren die eigentlichen Hoffnungsträger der Aktion, aber leider gering an der Zahl. Einige Stunden gingen so dahin, durch Wald und Wiese, es gab eine kurze Pause, dann abermals Stunde um Stunde durch die Natur. Trotzdem hatten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit nur belanglosen Müll gefunden. Nach dem Befehl, wieder einzurücken, ging es also unverrichteter Dinge zurück in die Polizeischulabteilung des Landespolizeikommandos.

Und so ging es weiter. Am nächsten Tag und auch am dritten. Man fand nichts. Keine Hinweise auf die Verschwundenen, keine Spuren, nicht der kleinste Anhaltspunkt. Für die Suchenden wurden die Tage zäh. Sie schienen nicht nur immer länger zu werden, sondern auch heißer. Die Luft flirrte über den grün leuchtenden Büschen und Sträuchern, in deren Zwischenräumen Brennnesseln und Dornen wucherten.

„Es ist zum Verrücktwerden“, erklärte einer der Polizeischüler am dritten Abend auf der Rückfahrt, „wir wissen nicht einmal genau, was wir suchen. Und können es eigentlich gar nicht wissen, solange wir es nicht gefunden haben …“

„Ein Messer muss mindestens so scharf sein wie ich!“, plärrte Hans am Stammtisch und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

„Als ob Schärfe dir was bringen würde! Du wirst doch ohnehin nie eine richtige Frau abkriegen!“, lachten seine Tischgenossen, und ernteten von Hans dafür einen bösen Blick. Sogar seine Saufkumpane nahmen ihn nicht für voll. Immer war das so. Mit dem Gewehr galt Hans als Genie. Aber all die Auszeichnungen, die er im Schießverein gesammelt hatte, der Respekt vor seiner Leistung, seiner Schießkunst, verblasste, sobald es an dieses leidige Thema ging. Jedes Mal. Die Stimmung kippte, aber am Tisch bemerkte das kaum jemand.

„Kümmert euch lieber um euren eigenen Scheiß!“, zischte Hans böse zurück. Er lallte schon ein wenig. Diese Idioten. Ihm reichte es. Er stemmte beide Hände auf die Tischplatte und erhob sich mühsam, bis er auf wackeligen Beinen zu stehen kam. Den anderen war es egal, dass Hans offensichtlich beleidigt war. Er würde wieder nüchtern werden und sich beruhigen. Tat er doch sonst auch. Ein bisschen komisch war er ja immer.

„Ach, komm“, sagte einer noch, aber als Hans ihn anblickte, ein Friedensangebot vermeinend, fügte der andere hinzu: „Ist doch nicht so schlimm, wenn keine auf deinen Hof kommt. Sie könnte dort eh nichts machen!“ Die ganze Runde prustete vor Lachen.

„Ich scheiß’ auf euch! Und auf den verfluchten Hof scheiß’ ich auch!“ Damit war für Hans alles gesagt. Er schüttelte zornig den Kopf und taumelte in die klare Nacht hinaus. Das Wiehern seiner sogenannten Freunde konnte er noch hören, als er schon an der frischen Luft stand und mit dem Rücken an der geschlossenen Tür des Gasthauses lehnte. Dass sie ihm immer damit kommen mussten. Sein Pech bei den Frauen und dann der Hof seiner Eltern. Klar gab es auf dem Hof nichts mehr zu tun. Seine Eltern waren zu alt dafür. Und Hans musste sich als Saatgut-Verkäufer durchschlagen, verdiente dabei mehr schlecht als recht. Kein Wunder, dass der Hof langsam verfiel. Sogar sein einziges echtes Hobby, die Jagd, konnte Hans sich inzwischen kaum mehr leisten. In dieses verdammte Gasthaus würde er auch nicht mehr gehen. Er stieß sich von der Tür ab und machte sich in ärgerliche Selbstgespräche vertieft auf den Heimweg. Die Kühle der Nacht klärte seine Gedanken ein wenig.

Außerdem: Es war nicht so, dass er unbedingt eine Frau gebraucht hätte. Er hatte immerhin noch seine Nachbarin. Das wusste am Stammtisch natürlich keiner. Durfte auch niemand wissen. Früher war er einfach in Bordelle gegangen, aber heute hatte er keine Lust mehr, sich Illusionen zu kaufen. Das ging so weit, dass er eine richtige Abneigung gegen die käuflichen Körper entwickelt hatte. Denn nichts anderes war das letztlich: Man kaufte einen Körper, der einem etwas vorspielte. Im Nachhinein war er damit immer unzufriedener gewesen. Er wollte seine Lust ausleben, ja, aber nicht mit einer Frau, die nur auf Geld aus war, das er ohnehin nicht hatte. Er brauchte echte Höhepunkte, keine Illusionen, keine Gaukeleien.

Zuhause angekommen konnte er endlich ein wenig durchatmen. Er schob die Hefte beiseite, in denen er sonst die Autokennzeichen und seine weiteren Beobachtungen im Wald notierte. Stattdessen holte er sein Kleinkaliber-Gewehr. Seit Wochen praktizierte er das häufig so: Er legte sich hinter seinem Fenster auf die Lauer und blickte durch das Präzisions-Zielfernrohr auf ein noch erleuchtetes Fenster des Nachbarhauses. Der runde Ausschnitt der Welt im Zielfernrohr wackelte, weil er in seinem Zustand das Gewehr nicht mehr ruhig halten konnte. Aber sonst bewegte sich … nichts. Seine Nachbarin, eine alleinstehende Lehrerin mittleren Alters, ließ sich nicht blicken. Das war ein fixer Teil einer jeden Jagd: Man musste geduldig sein. Manchmal verbrachte Hans Stunden in dieser Position, stierte durch das Fernrohr. Und dann, wenn sie sich umzog oder gerade aus dem Bad kam, nichts ahnend, dass er bereits auf der Lauer lag, hungrig nach einem Zentimeter ihres entblößten Körpers, konnte er einen guten Blick erhaschen. Der Blattschuss. Manchmal nur ein Oberschenkel. An anderen Tagen auch schon mal ein blanker Busen. Und dieser eine Blick, diese intime Teilhabe am Leben dieser Frau, die er eigentlich kaum kannte, entschädigte ihn für die Stunden des Wartens. Stunden, in denen sich seine Erregung ins Unbeschreibliche steigerte, so sehr, dass er sich körperlich befriedigen musste.

„Wir müssen nochmal raus!“, verkündete der Schulkommandant, als sich das Wetter nach einigen Regentagen endlich wieder gebessert hatte. Die Suche hatte diesmal einen anderen Fokus. Man wollte sich auf ein Gebiet konzentrieren, das die Verschwundenen möglicherweise für den Heimweg benutzt haben könnten. Es war ein Schuss ins Blaue. Die tagelange, erfolglose Suche ließ nicht mehr viele Optionen. Erstmals wurde das Gesuchte bei seinem neuen Namen genannt: Vermutlich suchte man inzwischen nach Leichen. Alles andere ergab immer weniger Sinn. Mittlerweile hatte man herausgefunden, dass die Verschollenen keinerlei Habseligkeiten mitgenommen hatten. Ihre Ersparnisse lagen unangetastet auf ihren Konten. Und wenn das Paar nicht gemeinsam getürmt war, dann musste es noch irgendwo sein.

Die Suche war noch auslaugender als zuletzt. Die Polizeischüler gingen durch die beginnende Hitze des Tages, der Wiesengrund dampfte vom vergangenen Regen. Sie kämpften sich durch aufgeweichten Boden. Schlammiger Morast wollte ihnen die Schuhe von den Füßen ziehen, und gab sie nur mit einem feuchten Schmatzen wieder her. Über ganze Stunden hinweg machte dieses Schmatzen fast die gesamte Geräuschkulisse aus. Im Wald war es trotz Schatten kaum besser. Die Gesichter der Suchenden glänzten in den vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen fielen. Die Hemden klebten schweißnass an den Rücken. Abertausende Mücken und Kleinstlebewesen fluteten durch die trübe Luft und belagerten die Schüler, die ihre Ausbildung so unerwartet in diesen Dschungel geführt hatte. Irgendwann schoben sie sich mit vollem Körpereinsatz durch ein Dickicht im Nirgendwo und stießen auf der anderen Seite auf eine eben noch verborgene Lichtung, wo eine Halbkugel aus Millionen von schwarzen Pünktchen sie empfing. Diese Lichtung wäre ein hervorragender Platz für ein kleines Lager, das war ihnen sofort klar. Die Spannung, die sie wie eine Art ätherische Dunsthaube begleitet hatte, verwandelte sich unvermittelt, wurde für einen kurzen Augenblick zu einer Erleichterung. Waren sie an der richtigen Stelle angelangt, nach all den Tagen?

Die ganze Lichtung dampfte. Sonnenstrahlen brachen durch das Weißgrau der wassergeschwängerten Luft und gaben den gespenstischen Schemen eines abgestellten Autos preis. Insekten stoben unbeeindruckt von den Neuankömmlingen durch den Dampf. Die Erleichterung der Polizeischüler währte nur Sekunden, dann verwandelte sie sich abermals. In Entsetzen. Dafür reichte bereits dieser spezielle Geruch. Niemand musste es aussprechen. Die Polizeischüler hatten das Gesuchte gefunden. Minuten später stand die versammelte Truppe am Schauplatz. Reglos, mit verbleiten Muskeln, wie Statuen harrten sie im Dunst aus und versuchten, ihre Fassung wiederzufinden.

Einen völlig undefinierbaren Zeitabschnitt später saßen sie mit hängenden Köpfen und von Mückenstichen durchlöchert endlich wieder im Bus. Auf der ganzen Heimreise wurde kein einziges Wort gesprochen.

Eines Abends hatte Hans im Gasthaus erfahren, dass es außerhalb des Ortsgebietes einige Plätzchen gab, an denen sich Liebespaare einfanden, um einander näherzukommen. Von da an war er abends sehr oft unterwegs. Es war gar nicht so anders als seine geliebte Jagd. Kaum war es dunkel, klemmte er sich hinter das Lenkrad und fuhr jene Stellen ab, wo abseits manchmal Fahrzeuge versteckt waren, in denen sich die Liebeshungrigen ihren Begierden hingaben. Dann stieg er aus, pirschte durch das Unterholz, beobachtete das Treiben so gut es ging mit seinem Fernrohr und versuchte, dem Geschehen möglichst nahe zu kommen, um auch in den Genuss des Zuhörens zu gelangen. Über diese besonderen Jagd-Abenteuer machte er sich sogar Aufzeichnungen und las sie später zum Vergnügen oder auch, um die Zeit totzuschlagen, wenn es einmal einen Abend ohne Beobachtungen gab. Hans wusste mittlerweile genau, wann an welchen Orten das meiste zu sehen war. Er notierte sich auch die Kennzeichen der Autos, die Fahrzeugmarken und Modelle. Einige Kennzeichen hatte er bald zuordnen können. Waren neue dabei, musste er schnell handeln, um nichts zu versäumen. Wie heute.

Als sich der Wagen näherte, war Hans schon in Position. Er erspähte die Beifahrerin schon von Weitem durch das Zielfernrohr. Jung, blond, ganz nach seinem Geschmack. Er hatte sie noch nie gesehen. Auch das Kennzeichen war ihm neu. Es war Rauschzeit. Der Abend versprach, aufregend zu werden. Hans war entschlossen, sich ganz nah hinzuschleichen, um alles hören zu können. Er roch beinahe den jugendlichen Körper. Als das Fahrzeug gestoppt hatte und das Licht ausgegangen war, beobachtete Hans die beiden Insassen durch sein Zielfernrohr. Sie verloren keine Zeit, lagen einander schon in den Armen. Hans wartete noch kurz und schlich los, das Gewehr geschultert. Es dauerte nicht lange, da war er in unmittelbarer Nähe des Wagens, legte sich daneben auf den Boden und lauschte. Er konnte deutlich das Atmen der beiden hören, ein noch leises Stöhnen im Rhythmus der Bewegungen, die sich bald auf den gesamten Wagen übertrugen und ihn gleichmäßig schwanken machten. Bisher hatte Hans sich nie so nahe an eines der Autos gewagt.

Das anschwellende Gestöhne des Mädchens machte ihn ganz irre. Er musste sie sehen, seine Erregung ließ daran keinen Zweifel. Er musste sie unbedingt ansehen. Ihr Gesicht, ihre Augen, vielleicht ihren nackten Körper, der sich dieser Freiheit, dieser Lust hingab. Nicht weil sie Geld dafür bekam, sondern weil sie es wollte. Weil sie ihren Körper gegen den anderen pressen, eins mit ihm sein wollte. Hans erhob sich ganz leise, stand nun direkt neben der Fahrertür. Die Scheibe war beschlagen, obwohl sie ein Stück geöffnet war. Für Hans reichte es. Er sah sie deutlich. Den Rücken des jungen Mannes, um den sie ihre Arme schlang, dann, seitlich daneben, ihren Kopf. Hans blickte ihr direkt ins Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Hans konnte es nicht mehr aushalten, ließ eine seiner Hände zu seiner Hose wandern. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Aber auch ein flüchtiges. Die immer lauteren Geräusche aus dem Inneren des Wagens signalisierten Hans, dass er sich beeilen musste, aber das machte nichts. Er war fast so weit. Noch immer starrte er in dieses hypnotische Gesicht. Er stellte sich vor, dass er diese junge Schönheit jetzt selbst lieben und sie sich ihm ganz hingeben würde, ihren Körper so an den seinen drückte, wie sie es jetzt mit diesem anderen tat, weil sie ihn liebte, und weil sie mit ihm zusammen sein wollte. Weil sie … sein ganzer Körper erbebte. Und plötzlich blickte er mitten in ihre Augen.

Nur einen Sekundenbruchteil danach stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, der nicht nur Hans, sondern auch den Jungen auf ihr hochfahren ließ. Das Mädchen stemmte sich plötzlich mit voller Kraft gegen ihren Liebhaber, der verstört und irritiert zugleich für einen Moment überhaupt nicht wusste, was los war. Erst ihre weiteren Schreie und ihr panischer Blick brachten den jungen Mann dazu sich umzudrehen, zuerst nur flüchtig, mit hastigem, ängstlichem Blick. Er fasste sich aber schnell, schon sprang er aus dem Fahrzeug, mit einer Hand noch seinen Hosenbund hochziehend. Hans wollte weglaufen, aber auch seine Hose baumelte um seine Knie. Er versuchte ungeschickt, sie hochzuziehen, während er ein paar Schritte davonstolperte. In Hans’ Kopf schossen die Gedanken wie Gewehrkugeln durch die Synapsen. Der junge Mann nahm seinen ganzen Mut zusammen und schrie ihn an, dass er sich verziehen solle, weil er ihm sonst eine vor den Latz knallen würde. Hans verstand die Worte nur teilweise. Sein Gehirn brannte immer noch, und neben dem Jungen schrie auch das Mädchen im Auto noch immer. Sie verstand er aber gut. Sie beschimpfte ihn als Spanner, als Wichser, drohte ihm wortgewaltig. Hans war panisch und ängstlich zugleich, fasste sich aber schließlich doch – und dann wurde er zornig. Zornig, weil sie ihn bei seiner Lieblingsbeschäftigung überrascht hatten, zornig, weil er seinen Höhepunkt nicht auskosten konnte. Zornig, weil die Angelegenheit damit sicherlich nicht erledigt war, und zornig vor allem deshalb, weil er seine Schießkameraden schon mit neuen Hänseleien im Hinterkopf hören konnte. Dazu beschimpfte ihn jetzt auch der junge Mann mit überbordender Aggression, wurde immer heftiger, sodass Hans einige weitere Schritte zurückwich. Aber der junge Mann beruhigte sich nicht, ganz im Gegenteil. Da griff Hans nach seinem Gewehr, das er nach wie vor geschultert hatte, und richtete die Mündung auf den Burschen. Dieser verstummte, überrascht, aber nur für einen Moment. Er hatte keine Angst vor Hans und seinem ratlosen Blick. Nein, er schrie noch lauter und beschimpfte Hans noch wüster. Dass der nur ein kleines Würstchen sei, schrie er, und dass er sich an anderen aufgeilen müsse, weil er sonst keinen mehr hochbekomme. Nur mit der Waffe könne er sich groß fühlen. Jetzt begann der Junge sogar zu lächeln, was Hans noch mehr irritierte, und ging obendrein einen Schritt auf ihn zu. Sogar in der Dunkelheit sah Hans jetzt genau das zornverzerrte Gesicht und die Wut in den Augen des Angreifers. Das Mädchen hatte sich inzwischen angezogen und stieg jetzt auch noch aus dem Auto. Der junge Mann war nur mehr wenige Meter vor ihm.

Ohne auch nur ein einziges Wort gesagt zu haben, drückte Hans ab. Es knallte, die Kugel traf den Jungen in den Hals. Er strauchelte und fiel zu Boden. Die Schreie des Mädchens veränderten sich und brachen abrupt ab, als Hans die Waffe auf sie richtete. Er starrte in ihre weit aufgerissenen Augen. Plötzlich wandte sie sich nach links und wollte davonlaufen. Ihr erster Schritt war aber noch nicht am Boden abgesetzt, da traf sein nächster Schuss ihren Brustkorb. Die weiteren Schritte waren ein Wanken und Fallen. Ihre Beine stützten sie nicht mehr. Das zweite Geschoss schlug direkt in ihr Rückenmark. Und dann lag auch ihr Körper reglos neben dem Auto mit seinen immer noch leicht beschlagenen Scheiben.

Die Polizeischüler, die an einem furchtbaren Sommertag die Leichen gefunden hatten, erfuhren das alles nur mehr aus der Zeitung und von ihrem Abteilungsinspektor. Hans’ Aufzeichnungsleidenschaft bezüglich der Kraftfahrzeuge und Kennzeichen war ihm letztlich zum Verhängnis geworden. Der Sachbearbeiter der Kriminalabteilung hatte das Motiv und die Hintergründe relativ rasch herausgearbeitet, Staatsanwaltschaft und Gericht setzten dem dringend Tatverdächtigen so massiv zu, dass der sich im Zuge einer Tatrekonstruktion bereit erklärte, zu zeigen, wie es zu der Tat gekommen war. Ein Geschworenengericht verhängte daraufhin eine lebenslange Haftstrafe.

In der Haft verzeichnete Hans alle seine Besucher in einem eigenen Notizblock. Es war eine kurze Liste. Die Kennzeichen sah er von den Hafträumlichkeiten aus nicht.

Dr. med. SA

Ein Halbnackter in Weiß

Das Schöffengericht hatte eben das Urteil in einem Erpressungsfall verkündet. Im Verhandlungssaal kehrte Ruhe ein. Sie währte kurz. Es klopfte.

„Herein!“, schrie der vorsitzende Richter regelrecht, damit man es draußen hören konnte. Die Flügeltüren öffneten sich, drei Personen traten ein. Zwei Polizisten, die einen Mann Mitte sechzig vor sich herschoben. Er trug nichts weiter als Pantoffeln, Socken, seine Unterhose und ein Unterhemd, alles in Weiß.

Der anwesende Staatsanwalt Kuber musste unvermittelt an Edmund Sackbauer, alias Mundl, aus der Fernsehserie „Ein echter Wiener geht nicht unter“ denken. Ein Blick in die Akten machte klar, um wen es sich wirklich handelte.

„Danke für die Vorführung. Brauchen Sie eine Bestätigung?“, fragte der Richter. Die Beamten verneinten.

„Besondere Vorkommnisse?“

„Nur, dass er die ganze Strecke über verbal aggressiv war“, gaben die Beamten zurück.

„Na bravo, das fängt ja schon gut an“, meinte der Richter, und dann, an den Angeklagten gewandt, „warum haben Sie nichts an?“

„Weil das alles eine Sauerei ist!“

„Eine Sauerei ist eher, was Sie da aufführen“, polterte der Richter zurück. „Erst kommen Sie wiederholt nicht zum Gerichtstermin, und jetzt erscheinen Sie in Unterwäsche. Nicht falsch verstehen, mir persönlich ist das egal, und wie ich den Herrn Staatsanwalt kenne, geht es ihm genauso …“

„Mir ist das völlig einerlei“, war die prompte Antwort des leitenden Staatsanwaltes, „von mir aus können Sie gerne nackt erscheinen. Nur zeigen Sie damit auch gleich, was Sie von uns halten … Sie scheinen jedenfalls ein Spaßvogel zu sein, würde ich sagen.“

„Im Übrigen“, fügte der Richter hinzu, „wenn Sie das nächste Mal einfach kommen, wenn Sie dazu aufgefordert werden, müssen wir Sie nicht abholen lassen.“ Der Gerichtsvorsitzende nickte in Richtung der Exekutivbeamten, woraufhin diese noch ausführten, dass sie mehrfach versucht hätten, den Herrn zum Anziehen zu bewegen. Sie verabschiedeten sich kopfschüttelnd, was den Angeklagten wieder auf den Plan rief.

„Warten Sie doch“, rief er entgeistert, „wie soll ich denn wieder nach Hause kommen?“

„Ist so nicht vorgesehen“, antwortete der Richter trocken, „es sei denn, die Beamten tun Ihnen den Gefallen?“ Er blickte zu den Polizisten, die schon an der Tür standen.

Gruppeninspektor Stuber war von der Idee nicht angetan. „Sonst immer gern, würde jetzt aber heißen, dass wir uns wieder siebzig Kilometer lang beschimpfen lassen. Also nein, sicher nicht.“

„Klare Antwort, oder?“, wandte sich der Richter an den Herrn in Unterwäsche, „falls Sie das noch nicht gewusst haben: Beamtenbeleidigung wäre eigentlich sogar strafbar.“ Die Polizisten schlossen die Saaltüren. Von außen.

Damit konnte die Verhandlung beginnen. Wie immer wurden zunächst die personenbezogenen Daten abgefragt.

„Sie sind Doktor der Medizin?“

„Ja, Dr. med. SA“, entgegnete der Angesprochene und brachte damit gleich die nächste Verwirrung aufs Tapet. Von einem „Doktor SA“ hatte noch niemand etwas gehört.

Der halbnackte, etwas korpulente Mann auf der Anklagebank konnte über das Unwissen des Gerichts nur den Kopf schütteln. Das „SA“ verweise natürlich auf „South Africa“, wie er erklärte. Dort habe er das Doktorat abgeschlossen. Dieses Thema führte auch gleich mitten in die zu verhandelnde Sache. Denn die Ärztekammer war der Meinung gewesen, unser „Arzt“ habe diesen Titel entweder in Großbritannien oder Nigeria bei einer „windigen Gesellschaft“ eingekauft. Man hatte ihm jegliche ärztliche Tätigkeit strengstens untersagt – was der nun Angeklagte mit einem Drohbrief quittiert hatte, in welchem er nahelegte, dass alle Angehörigen der Ärztekammer bestenfalls zu „vergasen“ wären.

Die Verhandlung sollte nun herausstellen, wie das gemeint war, das berühmte „Motiv“ samt der „subjektiven Tatseite“: Hatte der Angeklagte „nur“ eine Drohung aussprechen wollen oder vertrat er nationalsozialistisches Gedankengut, betrieb damit also „Wiederbetätigung“?

Der Halbnackte hörte sich alle Fragen an und gab auch Antworten dazu, die Schriftführerin schrieb gewissenhaft mit. Das Gericht allesamt in Anzügen oder Talaren, der Angeklagte in seiner Unterwäsche. Eine absurde Szene. Der Vorgeführte gab zu Protokoll, dass die Ärztekammer der „größte Scheißverein der Geschichte“ sei. Als die Befragung ans Ende kam, erfuhr der Richter endlich, weshalb der Angeklagte ihn die ganze Zeit über so gemustert hatte.

„Sie haben ein Magenleiden“, sagte er mit Blick auf den Vorsitzenden.

„Bitte?“

„Sie haben ein Magenleiden“, wiederholte der Dr. med. SA langsam und deutlich.

„Nein, habe ich nicht.“

„Doch, Sie haben ein Magenleiden.“

So ging es mehrmals hin und her. Der Richter hatte keinerlei Magenbeschwerden. Weil der Angeklagte von seiner Blickdiagnose aber nicht und nicht abrücken wollte, musste der Richter letztlich klein beigeben, um die Diskussion um dieses Thema zu beenden. Der Halbnackte nahm es zufrieden hin und verlangte sogar die Aufnahme seiner Diagnose ins Protokoll. Auch diesem Begehren kam der Vorsitzende um des lieben Friedens willen nach. Leider war zu diesem Zeitpunkt längst klar geworden, dass weitere Erhebungen nötig sein würden, um die Strafsache zu einem Abschluss zu bringen. Für heute war die Zeit aber um.

Erst jetzt schien dem mutmaßlich falschen Arzt so richtig bewusst zu werden, dass er gleich in Unterwäsche aus dem Gerichtsgebäude kommen würde.

„Wie sieht das denn aus?“, warf er verärgert ein.

„Ihr Problem“, gab der Richter zurück, „Sie hätten sich beispielsweise etwas anziehen können.“

„Na toll. Das heißt, Sie schicken mich jetzt raus, und vor der Tür nimmt mich gleich der Nächste fest, weil ich in der Öffentlichkeit in Unterhosen herumlaufe! Das glaubt mir doch kein Mensch, dass ich so vor Gericht war!“

Wenigstens das stimmte mit Sicherheit.

„Wissen Sie was?“, sagte der Richter, „ich gebe Ihnen eine offizielle Bestätigung, dass Sie heute hier einen Termin hatten, mit Geschäftszahl und allem. In Ordnung? Dann können Sie beweisen, dass Sie hier waren.“

Auch das stellte den Angeklagten nicht völlig zufrieden.

„Und wie komm’ ich heim?“, fragte er, als er den rasch ausgefertigten Zettel in der Hand hielt. Die Antwort darauf kannte er schon.

„Ihr Problem!“

„Und schon die nächste Sauerei!“, wetterte er sofort wieder los, „ich habe nicht einmal eine Geldbörse eingesteckt! Das ist wirklich eine Frechheit, wie in diesem Land mit einem Steuerzahler umgegangen wird!“

„Ihr Problem!“

Da der Richter aber christlich erzogen war und das Konzept von „Nächstenliebe“ auch halbnackte, potenzielle Betrüger nicht ausschloss, nahm er sich dann doch ein Herz.

„Ich gebe Ihnen einen Zwanziger, okay? Damit können Sie sich ein Busticket kaufen.“ Dass der Busbahnhof gut zwei Kilometer entfernt war, erwähnte er an dieser Stelle sicherheitshalber nicht.

„Den zahl’ ich Ihnen zurück!“, erklärte der Dr. med. SA, nahm das Geld und die schriftliche Bestätigung und ging endlich hinaus. Erleichtertes Aufatmen im ganzen Saal.

Im Lauf der nächsten Tage bürgerte sich rasch der Usus ein, dass die restlichen Gerichtsbediensteten den Richter regelmäßig fragen mussten, ob er sein Geld denn schon zurückerhalten habe. Und nur ein Wundergläubiger wäre nicht überrascht gewesen, als am achten Tag tatsächlich ein Brief des Angeklagten einlangte. Der Verfasser wurde bereits in der Adressierung kenntlich: „An die Vergasungsabteilung des Landesgerichtes für Strafsachen.“

Die ohnehin kleine Hoffnung, dass in dem Kuvert tatsächlich das geliehene Geld sein könnte, war rasch zerstreut. Stattdessen gab es ein Zettelchen mit wüsten Beschimpfungen. Es sei eine katastrophale Sauerei gewesen, wie man ihn vorgeführt habe. Auf dem Rückweg habe der Busfahrer ihn erst gar nicht in den Bus lassen wollen, die Leute hätten ihn alle angestarrt. Und dann stand da noch: „PS: Habe als Dr. med. SA bei Ihnen, Hohes Gericht, während der Befragung eine Irisdiagnose vorgenommen mit dem Ergebnis ‚Magenleiden‘, was auch vom Untersuchten bestätigt wurde. Mein ärztliches Honorar für die Diagnose beträgt zwanzig Euro. Danke. Außerdem gehört das Landesgericht vergast.“

Die Assistentin konnte den Brief kaum zu den Akten bringen, weil sie vor Lachen fast von ihren hochhackigen Schuhen fiel. Der Staatsanwalt sah das etwas pragmatischer und teilte nur mit, dass der Dr. med. SA nun auch wegen Betruges verfolgt würde. Dass wiederum von „vergasen“ die Rede war, brachte auch die letzte Strafsache ein wenig voran. Wie sehr, fand man aber nie heraus, denn bevor weitere Schritte gesetzt werden konnten, stellte ein Gutachter fest, dass unser Arzt zweifelsfrei unzurechnungsfähig sei – und damit auch schuldunfähig. Geistig abnorm, nach Meinung des Experten aber nicht gefährlich. Immerhin. Ende des Aktes, Ende eines Strafverfahrens.

Ein halbes Jahr danach sah der Richter den ehemals Verfolgten wieder. Nicht im Verhandlungssaal und auch nicht in einer Zelle, sondern auf einer Ärztetagung mit Hunderten von Gästen. Am Buffet trat der „Arzt“ an den Gerichtsvorsitzenden heran: „Kollege! Wir kennen uns doch! Ich weiß nur nicht mehr, woher … komm, hilf mir: Woher kennen wir uns?“

„Ich bin Ihr Strafrichter.“

Selten hatte man auf einer Ärztetagung jemanden so schnell laufen sehen.

Als der Richter fast zwei Jahrzehnte später tatsächlich an der Galle operiert werden musste, zwang sich trotz großer Schmerzen ein Lächeln auf seine Lippen. Anmerkung: Ein „Magenleiden“ ist trotzdem keine echte Diagnose.

Edith und Erika

Verschollene Gartenzwerge

Vollkommene Stille in der ganzen Wohnung. Erika dachte wehmütig daran, dass das früher anders gewesen war. Früher, als ihr Freund noch hier gewohnt hatte. Früher, als sie an vielen Wochenenden Besuch hatten. Früher, als es noch etwas zu feiern gegeben hatte. Und nun diese Stille, die so undurchdringlich war, als hätte sie die Fähigkeit, ein aufkeimendes Geräusch einfach zu ersticken. Es war keine normale Stille. Sie hatte ein Ausmaß, so gewaltig, dass sie kaum in die Wohnung passte.

In den letzten Monaten war Erika kaum mehr außer Haus gegangen. Was hätte sie draußen auch tun sollen? Sie kannte niemanden in der Umgebung, nicht mal ihre Nachbarn, gesichtslose Menschen, die sich nur zu erkennen gaben, wenn sie hämmerten oder die Wände anbohrten. Auch um zu arbeiten verließ Erika diese Wände nicht mehr. Arbeitslosengeld und später Sozialhilfe genügten ihr, um sich warm zu halten. Äußerlich. Innerlich übernahm das der Alkohol, den sie in „mittleren Mengen“ konsumierte, wie sie selbst es formuliert hätte. Auch das nicht im gemütlichen Lokal um die Ecke, sondern immer nur hier, in ihrer stummen Behausung. Die Getränke holte sie ausschließlich vom Diskonter – eine der ganz wenigen Gelegenheiten, zu denen sie die Wohnung noch verließ. Es war jedes Mal eine Qual. Ihr Körper wollte die Anstrengung nicht mehr mitmachen. Wenn sie so nach Hause ging, die Sackerl mit diversen Fläschchen und Flaschen gefüllt, meldeten sich ihre Bandscheiben unmissverständlich. Jede Bewegung tat dann weh. Aber nicht so sehr wie diese dunkle Stille. Außerdem: Gegen den Schmerz konnte sie etwas unternehmen. Einen kräftigen Schluck und Tabletten, eine Mischung, die ihre Schmerzen in den Hintergrund drückte, während sie in ihrer Wolke saß, irgendwo zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Zufriedenheit und Tod. Wahrscheinlich wäre sie nicht einmal jemandem abgegangen, vermutete sie.

Seit zehn Tagen schon hatte Erika nur mehr trockenes Brot gegessen, das sie mit Grünem Veltliner hinunterspülte. Heute war das Brot zu Ende gegangen. Sie würde also einkaufen gehen müssen. Ächzend schälte sie sich vom Sofa im Wohnzimmer, rang mit dem beginnenden Schwindel, zog sich an – das Klimpern der Schlüssel ungewohnt laut – und ging nach draußen. Was sie nicht wusste, und wohl auch niemandem geglaubt hätte, war, dass heute ihr Glückstag war. Der Tag, an dem sie aus diesem Gefängnis der Stille ausbrechen würde. Zunächst sah es aber nicht danach aus, als ob der Tag sich ins Positive wenden wollte.

Sie kaufte wie immer nur das Nötigste ein. Brot, einige Konserven, Wein in Tetra Paks, ein paar Flaschen Bier. Was sich im Nachhinein als Glücksfall herausstellte, präsentierte sich zuerst als Unglück: An der Kassa rutschte ihr eine der Bierflaschen aus der Hand und zersprang am Boden in tausend Scherben. Daran, dass Scherben Glücksboten sind, dachte sie nicht, als sie sich nach ihnen bückte und sich auch noch die Hand blutig schnitt. Die Kassiererin, sie hielt Erika für eine nichtsnutzige Alkoholikerin, reagierte mit einem unfreundlichen „Passen Sie doch auf!“

Während Erika aber noch versuchte, sich ihre Kränkung nicht anmerken zu lassen, und weiter am Boden Scherben zusammenklaubte, bückte sich eine Dame zu ihr hinunter. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Sie zerschneiden sich ja noch die ganze Hand.“ Edith.

Von diesem Zeitpunkt an änderte sich für Erika alles. Aus der Begegnung mit Edith erblühte eine enge Freundschaft. In Wahrheit wohnten die beiden fast Tür an Tür, hatten einander aber noch nie kennengelernt. Monate später trafen sie einander fast jeden Tag. Erika war nicht mehr allein.

Und das mit großen Auswirkungen. Erika veränderte sich. Sie begann, regelmäßig zu essen, nahm endlich ein wenig zu. Ediths Lachen zerfetzte die Stille und füllte die Wohnung mit einem Leben an, das Erika schon gar nicht mehr gekannt hatte. Lange Abende mit langen Gesprächen lösten das Schweigen ab. Erikas derart neu gefundene Lebenslust sorgte sogar dafür, dass sie nun viel weniger trank. Sie brauchte es nicht mehr, weil sie mit Edith über Gott und die Welt sprechen konnte. Erika schaffte es auch wieder regelmäßig aus dem Haus, weil Edith an ihrer Seite ihr die Kraft dafür gab. Manchmal waren sie bis spät in die Nacht unterwegs und zogen von einem Lokal ins nächste.

Zur vollendeten Glückseligkeit fehlte es aber bald an anderer Stelle. Während Erika früher gut von ihrem schmalen Einkommen hatte leben können, wurde das Geld nun knapp. Lange Nächte waren auch teure Nächte. Zu den Getränken selbst kamen Abendessen, Desserts und Snacks für zwischendurch. Anfangs luden die beiden einander wechselseitig ein, erkannten dann aber, dass das auch keinen Sinn machte. Sie gingen dazu über zusammenzulegen, um die Rechnungen schultern zu können. Und besonders dann war offensichtlich, dass sie einen ganzen Haufen Geld ausgaben, das sie eigentlich beide nicht hatten. Das führte bald dazu, dass sie sich lieber zu Hause trafen und dort ein paar Gläschen Wein miteinander tranken. Dieser Wein kam jetzt nicht mehr aus Kristallgläsern, sondern wieder aus dem Tetra Pak. Und weil der so günstig war, nun wieder oft.

Sie bemerkten aber beide, dass ihnen das irgendwie den Wind aus den Segeln nahm. Es blieb lustig, natürlich, aber gleichzeitig wurden die Themen, über die sie sich unterhielten, wieder lapidarer, banaler. Ediths Lachen, das einst die Stille aus der Wohnung vertrieben hatte, wurde immer öfter zu einem Verlegenheitslachen. Und je leiser das Lachen wurde, desto mehr erkannte Erika, dass diese Wände, zwischen denen sie saßen, dieselben waren wie früher. Sie spürte die Schmerzen wieder dringlicher. Die vor Kurzem noch angeregten Diskussionen verliefen sich, und am Ende ging es immer um ihre Geldsorgen.

„Es hilft nichts, wir brauchen mehr Geld, so kann es nicht weitergehen!“, meinte eines Tages Edith und blickte Erika fragend an.

„Ja, was schaust du mich an? Soll ich es herzaubern?“, entgegnete Erika, die die Aussage ihrer Freundin als Beleidigung auffasste.

„Herzaubern wird wahrscheinlich schwierig. Und dass es nicht auf der Straße liegt oder auf Bäumen wächst, wissen wir auch. Aber sicher gibt es Möglichkeiten, an Geld zu kommen.“

„Und welche Möglichkeit haben wir, deiner Meinung nach? Ich wüsste nicht, was uns Geld einbringen könnte.“

„Na, von selbst wird es nicht kommen, das ist klar. Wir werden schon etwas tun müssen …“, meinte Edith nachdenklich.

„Ja, und was, bitte schön? Meinst du, ich soll auf meine alten Tage noch stehlen gehen?“

Edith blieb Erika die Antwort schuldig. Wenigstens verbal. Der Blick, mit dem sie Erika jetzt bedachte, sagte viel mehr, als in ein paar Wörter gepasst hätte. Erst nachdem sie einander gefühlte Minuten lang angesehen hatten, begannen sie wieder hörbar zu sprechen. Das, was sie dann sagten, staffierte aber nur mehr das aus, was sie zuvor bereits stumm beschlossen hatten. Vielleicht war das gar keine so blöde Idee.

Ihre Hand zitterte, als Edith rasenden Herzens den Seitenschneider ansetzte und ein paar Stellen des Maschendrahtzaunes durchzwickte. Erika ergriff den Zaun und zog die geöffnete Stelle weit genug auseinander, dass sie sich durchzwängen konnten. Das Grundstück des Baumarktes lag in der schwarzen Nacht vor ihnen. Sie lauschten lange in diese Finsternis, bis sie ausreichend sicher waren, alleine zu sein. Sie hatten in den letzten Tagen einige Möglichkeiten abgewogen, und waren zu dem Schluss gekommen, dass der Baumarkt wohl die sicherste Option darstellte. Sie hatten auch gar nicht vor, in das Gebäude einzudringen. Viel zu gefährlich. Es war mit Sicherheitskameras gespickt. Hier, hinter dem Gebäude, im Freiluft-Gartenbereich, hatten sie keine Kameras finden können, als sie ihn bei Tageslicht ausgekundschaftet hatten.

Sie sahen einander an. Ihre Gesichter bestanden fast nur aus Aufregung, aber das kleine bisschen, das keine Aufregung war, strahlte die wachsende Überzeugung aus, dass sie mehr oder weniger sicher waren. Das mit der fehlenden Videoüberwachung war ein entscheidender Faktor. Diese Tatsache war aber dem Grund zu verdanken, dass es hier schlicht wenig zu stehlen gab, das dieses Stehlen auch wert war. Es war sinnlos, jetzt mit Säcken voll Rindenmulch das Weite zu suchen. Dasselbe galt naturgemäß für Pflastersteine, den Zement und was es sonst noch alles gab. Einige der großen Statuen aus Granit waren zweifellos bare Münze wert, aber zu schwer, um sie abzutransportieren. Immerhin war das ausdrückliche Gebot der Stunde, unauffällig zu sein. Sie durften keine Risiken eingehen. Das Wertvollste, was sie an beweglichen Gütern finden konnten, waren Gartenzwerge.

Als sie endlich in Erikas Wohnung ankamen und ihre Angst vor der Tür aussperrten, fluteten Endorphine ihre Körper und wuschen die Nervosität weg. Sie standen im Wohnzimmer, betrachteten ihre Beute – und freuten sich wie kleine Kinder. Die Gespräche des restlichen Abends hatten nichts Banales, nichts Lapidares. Edith und Erika ließen das Erlebte Revue passieren und waren voll von Jubel, Erleichterung und Freude. Sie flogen auf ungekannten Höhen. Stolz klirrten die Gläser aneinander. Ein solches Wagnis, ein solcher Mut.

Es sollten noch viele derartige Tagesabschlüsse werden. Mehrmals pro Woche besuchten sie fortan nachts den Baumarkt. Die Beute verkauften sie im Internet auf ganz normalen Plattformen für private Verkäufer. Nur besonders schöne Stücke behielten sie für sich. Bald waren ihre Wohnungen voll von Gartenzwergen, Blumentöpfen und Nixen, die auf Muscheln sitzend geduldig ihre Prinzen erwarteten.

Das ging nach einiger Zeit so weit, dass sie in ihren eigenen Wohnungen keinen Platz mehr fanden, wenn etwas Neues hinzukam, das sie behalten wollten. Sie dekorierten den kleinen Garten vor dem Wohnhaus. Und als es auch dort zu bunt wurde, holten sie die Erlaubnis ein, im Nachbargarten einiges abzustellen. Einen Verdacht hegte niemand. Man hatte schon Merkwürdigeres gesehen als zwei reifere Frauen mit einer Vorliebe für Gartenzwerge.

Für Erika hatte das Ganze noch einen sekundären Effekt: Das Adrenalin, das die Einbrüche in ihrem Körper ausschütteten, ließ sie ihre Schmerzen vergessen. Wenn sie in der Dunkelheit auf den Baumarkt zustrebten, gab sie die Schmerzen am Zaun ab wie den Mantel vor einem Konzert. Sie fühlte sich jung und energetisch, als sie sich bückte, um noch ein schönes Stück für ihre Sammlung aufzuheben. Aber gerade, als ihre Finger die kleine Statuette umschlossen, zerteilte ein Lichtstrahl die Nacht und machte den Gartenbereich des Baumarktes zu einer Bühne. Scheinwerfer an, Vorhang auf.

„Keine Bewegung! Hier spricht die Polizei!“, rief eine männliche Stimme, deren Quelle im blendenden Gegenlicht unsichtbar blieb. Erika und Edith erstarrten zu Salzsäulen, die Beute noch in den Händen. Erika konnte es zuerst gar nicht glauben. Ihr Kopf sagte ihr, dass das nicht stimmen könne. Dass sie in Wahrheit schlief und träumte. Einen sehr, sehr schlimmen Traum. In diesem Traum stand sie nachts auf der nassen Wiese der Abteilung für Gartenbedarf und fühlte plötzlich, wie ihre Schmerzen zurückkamen, in ihren Rücken fuhren, wo die mitgenommenen Bandscheiben gequält ächzten, und sich von dort ausbreiteten in jeden ihrer Knochen, in alle Gelenke.

„Seien Sie vernünftig! Sie können nicht weglaufen!“, rief nun eine weibliche Stimme. Zweifellos die Kollegin des Polizisten von eben. Vielleicht, dachte Erika, ist das gar kein Traum. Vielleicht ist es ein Film. Diese Sätze sind doch aus einem Film …