William Golding
Herr der Fliegen
Roman
Roman
Aus dem Englischen von Peter Torberg unter Mitarbeit von Lea Torberg
FISCHER E-Books
William Golding, geboren 1911 in Colum Minor, Cornwall, studierte in Oxford. Er war Lehrer, im Krieg Marineoffizier. Längere Zeit lebte er in den USA. Mit ›Herr der Fliegen‹ erregte er weltweit großes Aufsehen. Golding wurde mit dem Man Booker Prize (1980) und dem Nobelpreis für Literatur (1983) ausgezeichnet. Er starb im Juni 1993 in Cornwall.
Peter Torberg, geboren 1958 in Dortmund, studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Der Weltklassiker des Nobelpreisträgers Willam Golding in neuer Übersetzung
William Goldings erster und erfolgreichster Roman beschreibt das Ende der Unschuld und ist eine dunkle Parabel auf die verborgene Barbarei zivilisierter Gesellschaften.
Ein Flugzeugabsturz über einer unbewohnten Insel im Pazifischen Ozean. Kein Erwachsener überlebt, eine Gruppe englischer Schüler bleibt sich selbst überlassen. Ralph, der zum Anführer gewählt wird, will das Zusammenleben organisieren, aber die Führungsrolle wird ihm von Jack streitig gemacht.
Zunächst erscheint der Verlust der Zivilisation leicht zu bewältigen: Auf der Insel gibt es Wasser, Früchte, sogar wilde Schweine. Es werden Hütten gebaut, die Insel wird erforscht und ein Signalfeuer eingerichtet. Aber bald machen sich Terror und primitive Barbarei breit. Die Schweinejagd artet zu blutigem Schlachten aus, der Machtrausch gipfelt in der Bereitschaft zum Mord.
Aggression, Gewalt, der Verlust aller Hemmungen machen aus dem Paradies bald ein mörderisches Inferno. Ein Kampf um Leben und Tod, geführt von ganz gewöhnlichen Jungen, die in der Wildnis zu menschlichen Bestien werden. Oder ist es das wahre Gesicht des Menschen, das hier zum Vorschein kommt?
William Goldings Meisterwerk ›Herr der Fliegen‹ ist ein Klassiker der Weltliteratur und begeistert Generationen von Lesern immer wieder von neuem.
Die Eingangsseiten wurden im Rahmen des Seminars »Themenspezifisches Übersetzen« 2014/2015 an der Ludwig-Maximilian-Universität München mit den Studierenden des MA Literarisches Übersetzen erarbeitet.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1954 unter dem Titel »Lord of the Flies« bei Faber & Faber Limited, London.
© 1954 William Golding
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign München
Coverabbildung: © Neil Gower
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491571-5
Für meine Mutter und meinen Vater
Der blonde Junge ließ sich vorsichtig das letzte Stück die Felsen hinunter und suchte sich einen Weg zur Lagune. Zwar hatte er den Pullover seiner Schuluniform ausgezogen und schleifte ihn nun hinter sich her, doch das graue Hemd klebte noch an seinem Körper, und die schweißnassen Haare waren angeklatscht. Die lange, in den Dschungel gerissene Schneise um ihn herum war ein Meer aus Hitze. Er kämpfte sich durch die Schlingpflanzen und umgestürzten Bäume voran. Ein Vogel, ein Blitz aus Rot und Gelb, flatterte mit einem Hexenschrei auf; ein zweiter Vogel erwiderte den Schrei.
»Heh!«, krächzte es. »Wart mal!«
Im Gestrüpp am Rand der Schneise gab es ein Rascheln, und unzählige Wassertropfen prasselten von den Blättern herunter.
»Wart mal«, sagte die Stimme. »Ich hab mich verfangen.«
Der blonde Junge blieb stehen, zog ganz aus Gewohnheit seine Strümpfe hoch, und einen Augenblick lang schien der Dschungel wie die vertraute Heimat.
Wieder meldete sich die Stimme. »Ich kann mich überhaupt gar nicht bewegen mit diesem ganzen Schlingzeugs.«
Der Junge, zu dem die Stimme gehörte, schob sich rückwärts aus dem Gestrüpp, und die Zweige kratzten über die speckige Windjacke. Seine nackten fleischigen Kniekehlen waren ganz zerschrammt und voller Dornen. Er beugte sich vor, zog sie vorsichtig heraus und drehte sich um. Er war kleiner als der Blonde und sehr fett. Er kam näher, suchte festen Stand und schaute durch eine dicke Brille nach oben. »Wo ist der Mann mit dem Megaphon?«
Der Blonde schüttelte den Kopf. »Wir sind auf einer Insel. Glaub ich wenigstens. Das da draußen im Meer ist ein Riff. Kann sein, dass es hier nirgendwo Erwachsene gibt.«
Der dicke Junge schaute überrascht. »Aber da war doch dieser Pilot. Nicht in der Passagierkabine, er war vorne.«
Der Blonde kniff die Augen zusammen und spähte zum Riff hinaus.
»Und die ganzen anderen Kinder«, fuhr der Dicke fort. »Ein paar müssen es doch auch geschafft haben. Ganz bestimmt doch, nein?«
Der Blonde setzte seinen Weg zum Wasser so beiläufig wie möglich fort. Er wollte lässig wirken, sein Desinteresse aber nicht allzu offen zeigen, doch der Dicke eilte ihm nach. »Sind hier denn überhaupt gar keine Erwachsenen?«
»Ich glaub nicht.« Der Blonde hatte das ganz ernst gesagt; doch plötzlich wurde ihm freudig klar, dass ein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Mitten in der Schneise machte er einen Kopfstand und grinste den umgekehrten Dicken an. »Keine Erwachsenen!«
Der Dicke dachte einen Augenblick lang nach. »Der Pilot.«
Der Blonde ließ die Füße langsam sinken und setzte sich auf den dampfenden Boden. »Der muss wohl weitergeflogen sein, nachdem wir raus sind. Hier konnte er ja nicht landen. Nicht ein Flugzeug mit Fahrgestell.«
»Man hat uns angegriffen, nein?«
»Er wird schon zurückkommen.«
Der Dicke schüttelte den Kopf. »Ich hab aus dem Fenster geschaut, als wir runtergekommen sind. Ich hab den Rest vom Flugzeug gesehen. Da waren Flammen.« Er sah die Schneise entlang. »Und das hier hat die Kabine gemacht.«
Der Blonde streckte die Hand aus und berührte einen zersplitterten Baumstumpf. Für einen Moment war seine Aufmerksamkeit geweckt. »Und was ist damit passiert?«, fragte er. »Wo ist sie denn hin?«
»Die hat der Sturm aufs Meer hinausgetrieben. Es war mordsgefährlich, wie die Bäume alle umgefallen sind. Da waren bestimmt noch Kinder drin.« Nach kurzem Zögern sprach er weiter. »Wie heißt du denn?«
»Ralph.«
Der Dicke wartete darauf, ebenfalls nach seinem Namen gefragt zu werden, doch tat der andere ihm diesen Gefallen nicht. Der blonde Junge namens Ralph lächelte leise, stand auf und setzte seinen Weg zur Lagune fort. Der Dicke wich ihm nicht von der Seite. »Da sind bestimmt noch ganz viele mehr von uns überall. Du hast noch keine anderen gesehen, nein?«
Ralph schüttelte den Kopf und ging schneller. Dann stolperte er über einen Ast und krachte zu Boden.
Der Dicke blieb heftig schnaufend neben ihm stehen. »Meine Tante sagt immer, ich soll nicht rennen«, erklärte er, »wegen meinem Asthma.«
»Ast-mar?«
»Genau. Ich krieg dann keine Luft. Ich war der Einzige in meiner Schule mit Asthma«, meinte der Dicke mit leisem Stolz. »Und die Brille hab ich, seit ich drei bin.«
Er nahm die Brille ab, hielt sie Ralph blinzelnd und lächelnd hin und rieb dann mit seiner abgetragenen Windjacke darüber. Schmerz und nach innen gerichtete Konzentration huschten abwechselnd über sein blasses Gesicht. Er wischte sich den Schweiß von den Wangen und setzte die Brille schnell wieder auf die Nase.
»Dieses Obst.« Er sah sich auf der Schneise um. »Dieses Obst«, sagte er, »ich glaube …« Er rückte die Brille zurecht, watschelte davon und verschwand im Gestrüpp. »Bin gleich wieder da …«
Ralph befreite sich vorsichtig und stahl sich zwischen den Ästen davon. Kurz darauf hatte er das Grunzen des fetten Jungen hinter sich gelassen und eilte auf den Vorhang zu, der noch zwischen ihm und der Lagune lag. Er kletterte über einen Baumstamm, dann hatte er den Dschungel im Rücken.
Der Strand war von Palmen gesäumt. Sie wuchsen kreuz und quer; weit oben breiteten sich ihre grünen Wedel aus. Der Streifen Land darunter war mit dichtem Gras überwuchert, das von umgestürzten Bäumen stellenweise aufgerissen und mit verfaulenden Kokosnüssen und Palmschösslingen übersät war. Dahinter lag die Dunkelheit des dichten Dschungels und die klaffende Schneise. Ralph stützte sich mit einer Hand an einem grauen Baumstamm ab, kniff die Augen zusammen und schaute aufs glitzernde Meer hinaus. Dort draußen, etwa eine Meile entfernt, flickerte weiße Gischt über einem Korallenriff, und dahinter erstreckte sich das tiefblaue Meer. Die Lagune innerhalb des ungleichmäßigen Korallenbogens ruhte da wie ein Gebirgssee, blau in allen Schattierungen, schattig grün und violett. Der Strand zwischen Palmenterrasse und Wasser war nur ein schmaler, scheinbar endloser Streifen, und links von Ralph zogen sich Palmen, Strand und Wasser hin, so weit das Auge reichte. Über allem drückte fast sichtbar die Hitze.
Ralph sprang von der Terrasse hinunter. Seine schwarzen Schuhe versanken tief im Sand, und die Hitze traf ihn wie ein Schlag. Erst jetzt fiel ihm auf, wie schwer seine Kleidung war, er schleuderte die Schuhe weit fort und riss sich Strümpfe und Strumpfhalter von den Beinen. Dann sprang er wieder die Kante hinauf, zog sich das Hemd aus und stand inmitten der totenschädelgleichen Kokosnüsse; die grünen Schatten der Palmen und des Dschungels tanzten ihm über die Haut. Er hakte die schlangenförmige Gürtelschnalle auf, legte kurze Hose und Unterhose ab und schaute nackt auf den blendend weißen Strand und das Wasser hinaus.
Mit seinen gut zwölf Jahren hatte er den kindlichen Kugelbauch bereits abgelegt, war aber noch nicht alt genug für die Schlaksigkeit eines Jugendlichen. Breite und Kraft seiner Schultern ließen bereits die Anlagen zu einem Boxer erkennen, aber Mund und Augen umspielte eine Sanftheit, die nichts Böses verriet. Er legte eine flache Hand auf eine Palme, und da er sich nicht länger der Tatsache entziehen konnte, dass es die Insel wirklich gab, lachte er wieder verzückt auf und machte einen Kopfstand. Geschickt kam er auf die Füße, hüpfte auf den Strand hinunter, kniete sich hin und schaufelte sich mit beiden Armen Sand gegen die Brust. Dann setzte er sich auf und schaute mit vor Begeisterung strahlenden Augen aufs Wasser.
»Ralph …« Der Dicke sank von der Terrasse auf den Strand hinunter und ließ sich vorsichtig auf der Kante nieder. »Tut mir leid, hat ein bisschen gedauert. Dieses Obst …«
Er putzte die Brille und setzte sie sich wieder auf die Stupsnase. Das Gestell hatte ein tiefes, rotes V auf dem Nasenrücken hinterlassen. Kritisch beäugte er Ralphs gebräunten Körper, dann sah er an seiner eigenen Kleidung herab. Er griff nach dem Reißverschluss der Windjacke. »Meine Tante …« Dann öffnete er ihn entschlossen und zog die Windjacke über den Kopf. »So!«
Ralph sah ihn schweigend von der Seite an.
»Wär doch ganz gut, wenn wir ihre Namen rausfinden«, sagte der Dicke, »und eine Liste machen. Wir sollten eine Versammlung einberufen.«
Ralph ging nicht darauf ein, so dass der Dicke sich genötigt fühlte nachzusetzen. »Ist mir egal, wie sie mich nennen«, meinte er vertraulich, »Hauptsache, sie nennen mich nicht so wie die anderen in der Schule.«
Ralph merkte kurz auf. »Wie denn?«
Der Dicke sah sich schnell um und beugte sich dann zu Ralph. Er flüsterte: »Sie haben mich immer Piggy genannt.«
Ralph kreischte vor Lachen und sprang auf. »Piggy! Piggy!«
»Ralph … bitte!« Piggy faltete flehend die Hände. »Ich hab doch gesagt, nicht …«
»Piggy! Piggy!« Ralph hopste hinaus in die heiße Luft am Strand, kehrte mit nach hinten gereckten Flügeln als Kampfflugzeug zurück und belegte Piggy mit Maschinengewehrfeuer. »Ta-ta-ta-ta-schi-uh!« Dann warf er sich zu Piggys Füßen in den Sand und lag lachend da. »Piggy!«
Piggy freute sich unwillkürlich über das bisschen Aufmerksamkeit und grinste zögerlich. »Wenn du es nur nicht den anderen sagst …«
Ralph kicherte in den Sand. Wieder huschten Schmerz und Konzentration über Piggys Gesicht. »Moment.« Er hastete zurück in den Wald. Ralph stand auf und trabte nach rechts davon.
Hier wurde der Strand durch das kantige Motiv der Landschaft abrupt unterbrochen; eine große Rampe aus rosafarbenem Granit drängte sich unnachgiebig durch Wald, Terrasse, Sand und Lagune und bildete eine gut einen Meter hohe Mole. Sie war mit einer dünnen Schicht Erde und struppigem Gras bedeckt und wurde von jungen Palmen beschattet. Die Erde war nicht tief genug, dass sie sonderlich groß werden konnten, und wenn sie vielleicht sechs Meter erreicht hatten, stürzten sie um und verdorrten, wodurch sich ein Zickzackmuster aus Stämmen ergab, auf denen man sehr gut sitzen konnte. Die noch stehenden Palmen formten ein grünes Dach, das von unten durch ein zittriges Gewirr aus Wasserspiegelungen von der Lagune beleuchtet war. Ralph kletterte auf diese Rampe hinauf, bemerkte Kühle und Schattenspiel, schloss ein Auge und stellte fest, dass die Schatten auf seinem Körper tatsächlich grün waren. Dann fand er einen Weg zur Seeseite der Rampe, blieb dort stehen und sah ins Wasser hinunter. Es war klar bis zum Grund und strahlte von der Pracht der tropischen Wasserpflanzen und Korallen. Ein Schwarm winziger glitzernder Fische huschte hin und her. Ralph sprach mit sich selbst und summte vor tiefempfundener Freude. »Cool!«
Jenseits der Rampe war es noch bezaubernder. Durch höhere Gewalt – ein Taifun vielleicht oder der Sturm, der ihre eigene Ankunft begleitet hatte – hatte sich Sand in der Lagune angesammelt und am Strand ein langes, tiefes Becken mit einer hohen Terrasse aus rosa Granit dahinter gebildet. Ralph hatte sich schon einmal durch die trügerische Andeutung von Tiefe in einem Strandbad täuschen lassen, deshalb näherte er sich diesem Becken mit Argwohn. Doch die Insel hielt, was sie versprach, und das unglaubliche Bassin, zu dem das Meer offensichtlich nur bei Flut dringen konnte, war an einem Ende ganz dunkelgrün, so tief war es. Ralph untersuchte alles gründlich und sprang dann hinein. Das Wasser war wärmer als sein Blut; genauso gut hätte er in einer riesigen Badewanne schwimmen können.
Piggy tauchte wieder auf, setzte sich auf den Felsvorsprung und betrachtete neidisch Ralphs grünen und weißen Körper. »Du schwimmst aber nicht schlecht.«
»Piggy.«
Piggy zog Schuhe und Socken aus, ordnete sie sorgfältig auf der Palmenterrasse an und steckte einen Zeh ins Wasser. »Das ist ja heiß!«
»Was hast du denn erwartet?«
»Gar nichts. Meine Tante –«
»Scheiß auf deine Tante!«
Ralph tauchte ab und schwamm mit offenen Augen unter Wasser; die Sandkante des Beckens türmte sich auf wie eine Hügelflanke. Er drehte sich um, hielt sich die Nase zu, und goldene Lichter tanzten und brachen direkt über seinem Gesicht. Piggy machte eine entschlossene Miene und zog die Unterhose aus. Dann stand er nackt da, blass und fett. Er tappte auf Zehenspitzen zur sandigen Seite des Beckens, saß dort bis zum Hals im Wasser und strahlte Ralph an.
»Kommst du nicht schwimmen?«
Piggy schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schwimmen. Ich durfte nicht. Mein Asthma …«
»Scheiß auf dein Ast-mar!«
Piggy ertrug das mit demütiger Geduld. »Du kannst echt nicht schlecht schwimmen.«
Ralph paddelte auf dem Rücken davon, tauchte den Kopf ins Wasser und spuckte eine Fontäne in die Höhe. Dann hob er das Kinn und sprach: »Ich konnte schon schwimmen, da war ich fünf. Hat mir mein Daddy beigebracht. Er ist Kapitän bei der Marine. Wenn er Urlaub hat, dann kommt er und rettet uns. Und dein Vater?«
Piggy wurde plötzlich rot. »Mein Vater ist tot«, sagte er hastig, »und meine Ma …« Er nahm die Brille ab und sah sich vergeblich nach etwas um, mit dem er sie hätte putzen können. »Ich habe bei meiner Tante gewohnt. Sie hatte einen Süßwarenladen. Ich hab immer ganz viele Süßigkeiten gekriegt. So viele ich wollte. Wann kommt denn dein Dad und rettet uns?«
»Sobald er kann.«
Piggy stieg tropfnass aus dem Wasser, stand nackt da und wischte sich die Brille mit einer Socke ab. Das einzige Geräusch, das in der Vormittagshitze zu ihnen drang, war das lange, knirschende Getöse der Brecher am Riff.
»Woher weiß er, dass wir hier sind?«
Ralph lümmelte im Wasser herum. Der Schlaf umfing ihn wie die Spiegelungen, die in ihrem allumfassenden Spiel mit der strahlenden Lagune im Widerstreit lagen.
»Woher weiß er, dass wir hier sind?«
Weil, dachte Ralph, weil, weil. Das Getöse vom Riff war ganz weit weg. »Das sagen sie ihm am Flughafen.«
Piggy schüttelte den Kopf, setzte seine blitzende Brille auf und sah zu Ralph hinunter. »Die nicht. Hast du nicht gehört, was der Pilot gesagt hat? Von wegen Atombombe? Die sind alle tot.«
Ralph kletterte aus dem Wasser, baute sich vor Piggy auf und durchdachte dieses ungewöhnliche Problem.
Piggy blieb beharrlich. »Das ist doch eine Insel, nicht?«
»Ich bin auf einen Felsen gestiegen«, antwortete Ralph langsam, »ich glaub schon, das hier ist eine Insel.«
»Die sind alle tot«, sagte Piggy, »und das hier ist eine Insel. Keiner weiß was, wo wir sind. Dein Dad nicht, niemand …« Seine Lippen zitterten, und seine Brille beschlug. »Vielleicht sterben wir hier.«
Bei diesen Worten schien die Hitze noch zuzunehmen, bis sie schwer auf ihnen lastete und die Lagune sie mit ihrem gleißenden Schimmer blendete.
»Ich hol meine Sachen«, murmelte Ralph. »Da drüben.«
Er stapfte durch den Sand, ertrug die feindselige Hitze, überquerte die Terrasse und fand seine verstreut herumliegenden Kleidungsstücke. Sich das graue Hemd wieder anzuziehen war irgendwie angenehm. Dann kletterte er die Kante des Absatzes hinauf und setzte sich in den grünen Schatten eines Baumstamms. Piggy schleppte den Großteil seiner Sachen unter dem Arm und zog sich hoch. Dann setzte er sich vorsichtig auf einen umgestürzten Baumstamm in der Nähe der kleinen Felswand, die zur Lagune hinaus ging; über ihm zitterten die wirren Spiegelungen.
Nach einer Weile sagte er: »Wir müssen die anderen finden. Wir müssen etwas unternehmen.«
Ralph erwiderte nichts. Das hier war eine Koralleninsel. Vor der Sonne geschützt, gab er nichts auf Piggys böse Vorahnungen, sondern träumte vor sich hin.
Piggy blieb beharrlich. »Wie viele sind wir denn?«
Ralph kam herüber und stand jetzt neben ihm. »Keine Ahnung.«
Hier und da strichen leichte Windstöße über die spiegelglatte Wasseroberfläche unter der sengenden Hitze. Als diese Brisen die Rampe erreichten, wisperten die Palmblätter, und Flecken verwischter Sonne glitten über ihre Körper oder regten sich wie helle, geflügelte Wesen im Schatten.
Piggy sah zu Ralph hinauf. Die Schatten auf Ralphs Gesicht waren umgekehrt: oben grün, unten hell von der Lagune. Ein Sonnenfleck kroch ihm übers Haar. »Wir müssen etwas unternehmen.«
Ralph stierte durch ihn hindurch. Hier war endlich jener nie ganz erreichte Phantasieort wahr geworden. Ralph verzog die Lippen zu einem freudigen Lächeln, und Piggy, der dieses Lächeln als Zeichen der Anerkennung deutete, lachte verzückt auf. »Wenn das wirklich eine Insel ist …«
»Was ist denn das da?« Ralph hatte aufgehört zu lächeln und zeigte in die Lagune. Zwischen den farnigen Wasserpflanzen lag etwas Cremefarbenes.
»Ein Stein.«
»Nein. Eine Muschel.«
Plötzlich platzte Piggy schier vor Aufregung. »Stimmt. Eine Muschel! So eine hab ich schon mal gesehen. Bei jemandem an der Hauswand. Meeresmuschel hat er die genannt. Er hat da reingepustet, und dann ist seine Ma gekommen. Die sind ganz wertvoll …«
Neben Ralphs Ellbogen neigte sich ein Palmsprössling über die Lagune. Unter seinem Gewicht riss schon die Erde auf, bald würde er umstürzen. Ralph entwurzelte das Stämmchen, stocherte damit im Wasser herum, und die glänzenden Fische schossen in alle Richtungen davon. Piggy beugte sich gefährlich weit vor.
»Vorsicht! Du machst sie noch kaputt …«
»Sei still.«
Ralph sprach ganz abwesend. Die Muschel war interessant und schön, ein passendes Spielzeug; doch noch immer traten die lebhaften Bilder seines Tagtraums zwischen ihn und Piggy, der darin keine Rolle spielte. Der Schössling bog sich und schob die Muschel über die Wasserpflanzen. Ralph nutzte eine Hand als Drehpunkt und drückte mit der anderen nach unten, bis sich die Muschel tropfend aus dem Wasser hob und Piggy sie zu fassen bekam.
Jetzt, da die Muschel nicht mehr nur ein Gegenstand war, den man sehen, aber nicht anfassen konnte, wurde auch Ralph ganz aufgeregt. Piggy plapperte: »– eine Meeresmuschel; ganz ungeheuer wertvoll. Ich wette, wenn du eine kaufen wolltest, müsstest du zig, zig Pfund bezahlen – er hatte sie an der Gartenmauer, und meine Tante –«
Ralph nahm Piggy die Muschel ab, und ein wenig Wasser floss über seinen Arm. Die Muschel war dunkelcremefarben, hier und da mit verblassenden rosa Tupfen. Zwischen der Spitze, die zu einem kleinen Loch abgeschliffen war, und den rosigen Lippen der Öffnung war die Muschel etwa fünfundvierzig Zentimeter lang, drehte sich ein wenig wie eine Spirale und war mit einem zarten geprägten Muster überzogen. Ralph schüttelte Sand aus der tiefen Öffnung.
»– machte Muh wie eine Kuh«, sagte Piggy. »Er hatte auch ein paar weiße Steine und einen Vogelkäfig mit einem grünen Papagei. Er hat nicht in die Steine gepustet, natürlich nicht, und er meinte –«
Er holte Luft und strich sanft über das glänzende Ding in Ralphs Händen. »Ralph!« Der blickte auf. »Das können wir benutzen, um die anderen zu rufen. Dann können wir uns treffen. Wenn die uns hören, werden sie schon kommen …« Er strahlte Ralph an. »Das hast du doch gemeint, nicht? Deshalb hast du doch die Muschel aus dem Wasser gefischt?«
Ralph strich sich die blonden Haare nach hinten. »Wie hat dein Freund in die Muschel gepustet?«
»Er hat irgendwie gespuckt«, meinte Piggy. »Meine Tante hat’s mir nicht erlaubt, wegen meinem Asthma. Er meinte, man muss hier rausdrücken.« Er legte eine Hand auf seinen vorgewölbten Unterleib. »Versuch du, Ralph. Ruf du die anderen.«
Unsicher führte Ralph das kleine Ende der Muschel an den Mund und pustete. Aus dem Mund der Muschel drang nur ein Rauschen, mehr nicht. Ralph wischte sich das Salzwasser von den Lippen und versuchte es noch mal, doch die Muschel blieb stumm.
»Er hat irgendwie gespuckt.«
Ralph schürzte die Lippen und presste Luft in die Muschel, die ein leises, furzendes Geräusch von sich gab. Das amüsierte die Jungs so sehr, dass Ralph zwischen ihren Lachanfällen noch eine Weile weiterprustete.
»Er hat von hier unten gedrückt.«
Ralph verstand, was er meinte, und pustete mit dem Zwerchfell Luft in die Muschel. Sofort tönte das Ding. Ein tiefer, rauer Klang dröhnte unter den Palmen, breitete sich im undurchdringlichen Wald aus und hallte vom rosafarbenen Granit des Bergs wider. Vogelschwärme flatterten aus den Baumkronen auf, und im Unterholz quiekte etwas und rannte davon.
Ralph nahm die Muschel von den Lippen. »Krass!« Nach dem rauen Ton der Muschel klang seine eigene Stimme wie ein Flüstern.
Wieder legte er das Muschelhorn an die Lippen und blies hinein. Wieder dröhnte der Ton. Dann drückte er fester, der Ton sprang um eine Oktave in die Höhe und wurde zu einem grellen Geschmetter, noch lauter als zuvor. Piggy rief etwas, sein Gesicht strahlte, seine Brille blitzte. Die Vögel kreischten, kleine Tiere huschten davon. Ralph ging die Puste aus; der Ton fiel um eine Oktave, wurde leiser, war nur noch ein Rauschen der Luft.
Die Muschel war stumm, ein glänzendes Horn; Ralphs Gesicht war ganz dunkel vor Atemlosigkeit, und die Luft über der Insel voller Vogelgezeter und Widerhall. »Das hört man meilenweit, da wette ich.« Ralph kam wieder zu Atem und blies eine Reihe von kurzen Trompetenstößen.
Piggy rief: »Da ist einer!«
Hundert Meter weiter am Strand war ein Kind unter den Palmen aufgetaucht. Es handelte sich um einen vielleicht sechsjährigen Jungen, stämmig und blond, mit zerrissener Kleidung, das Gesicht von klebrigem Obstbrei verschmiert. Aus ersichtlichem Grund hatte er die Hose heruntergelassen und sie nur halb wieder hochgezogen. Er sprang von der Palmenterrasse auf den Sand hinunter, und die Hose rutschte ihm zu den Knöcheln; er zog die Füße heraus und trabte zur Rampe. Piggy half ihm hoch. Ralph pustete weiter, bis im Wald Stimmen zu hören waren. Der kleine Junge hockte sich vor Ralph und schaute strahlend zu ihm auf. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass etwas Wichtiges vor sich ging, machte er ein zufriedenes Gesicht und schob sich den einzigen sauberen Finger, einen rosigen Daumen, in den Mund.
Piggy beugte sich zu ihm hinunter. »Wie heißt du?«
»Johnny.«
Piggy murmelte den Namen vor sich hin und rief ihn dann zu Ralph hinüber, der sich aber nicht dafür interessierte, sondern weiterblies. Sein Gesicht war ganz rot vor gewaltiger Freude, diesen ungeheuren Lärm zu erzeugen, und sein Herz ließ das gespannte Hemd zittern. Die Stimmen im Wald kamen näher.
Jetzt zeigten sich am Strand Anzeichen von Leben. Der Sand, der unter dem Hitzedunst flimmerte, verbarg verstreut über die Meilen viele Gestalten; Jungs kämpften sich durch den heißen, hellen Sand zur Rampe durch. Drei kleine Kinder, nicht älter als Johnny, tauchten überraschend ganz in der Nähe auf, wo sie im Wald Früchte verschlungen hatten. Ein kleiner dunkler Junge, nicht sehr viel jünger als Piggy, teilte das Gestrüpp, trat auf die Rampe und lächelte alle freundlich an. Es wurden immer mehr. Sie folgten dem Beispiel des unschuldigen Johnny, setzten sich auf die umgestürzten Palmen und warteten. Ralph pustete weiter kurze, durchdringende Trompetenstöße. Piggy bahnte sich einen Weg durch die Menge, fragte nach den Namen und runzelte bei dem Versuch, sie sich zu merken, die Stirn. Die Kinder zeigten ihm gegenüber denselben Gehorsam, den sie auch den Männern mit den Megaphonen gezeigt hatten. Manche waren nackt und trugen die Kleidung bei sich, andere waren halbnackt oder mehr oder weniger in Schuluniformen gekleidet, grau, blau, braun, mit Jacken oder Pullovern. Es gab Abzeichen und sogar Leitsprüche, auch farbige Streifen auf Strümpfen und Pullovern. Sie setzten sich auf die Baumstämme im grünen Schatten und steckten die Köpfe zusammen, braune und blonde Köpfe, schwarze, kastanienbraune, rötliche, mausgraue; sie murmelten, flüsterten, musterten Ralph und grübelten. Endlich geschah etwas.
Die Kinder, die allein oder zu zweit den Strand entlangkamen, überquerten die Grenze von Hitzeflimmern zum nahen Sand und gelangten in Sichtweite. Als Erstes konnte man eine schwarze Gestalt erkennen, wie eine Fledermaus, die über den Sand tanzte, erst später sah man den Körper darüber. Die Fledermaus war der Schatten des Kindes, den die senkrecht fallende Sonne auf einen Fleck zwischen den flinken Füßen hatte schrumpfen lassen. Noch unter dem Trompeten bemerkte Ralph das letzte Paar, das über einem flatternden schwarzen Fleck die Rampe erreichte. Die beiden Jungs mit ihren spitzen Köpfen und den flachsfarbenen Haaren warfen sich zu Boden und lagen da, Ralph angrinsend und hechelnd wie Hunde. Sie waren Zwillinge, und alle schauten überrascht und ungläubig auf die fröhliche Verdoppelung. Sie atmeten gemeinsam, sie grinsten gemeinsam, sie waren stämmig und lebhaft. Mit feuchten Lippen starrten sie Ralph an, und sie schienen nicht genug Haut zu haben, so dass ihre Gesichtszüge überdehnt wirkten und ihnen die Münder offen standen. Piggy beugte seine blitzenden Brillengläser zu ihnen hinunter, und man konnte zwischen den Trompetenstößen hören, wie er ihre Namen wiederholte. »Sam, Eric, Sam, Eric.« Dann kam er durcheinander; die Zwillinge schüttelten die Köpfe, zeigten auf den jeweils anderen, und die Menge lachte.
Endlich hörte Ralph auf zu trompeten und setzte sich; das Muschelhorn baumelte an einer Hand, der Kopf senkte sich auf die Knie. Während die Echos verhallten, versiegte auch das Lachen, und Stille breitete sich aus.
In dem diamantenen Dunst des Strandes tastete sich etwas Dunkles voran. Ralph entdeckte es als Erster und schaute zu, bis die entschlossene Aufmerksamkeit seines Blicks alle Augen in die Richtung lenkte. Dann trat die Kreatur aus den Luftspiegelungen auf klaren Sand, und sie erkannten, dass dieses Dunkle nicht allein aus Schatten bestand, sondern vor allem aus Kleidung. Das Geschöpf entpuppte sich als eine Gruppe von Jungs, die fast im Gleichschritt in zwei parallelen Reihen marschierte und merkwürdig exzentrische Kleidung trug. In den Händen hielten sie kurze Hosen, Hemden und andere Kleidungsstücke, doch jeder Junge hatte eine eckige schwarze Kappe mit einem silbernen Abzeichen. Ihre Leiber waren von Kehle bis Knöchel in schwarze Umhänge mit einem langen silbernen Kreuz auf der linken Brust gehüllt, am Halsansatz befand sich ein Rüschenkragen. Die Tropenhitze, der Abstieg, die Suche nach Essbarem und nun dieser schweißtreibende Marsch über den sengend heißen Sand hatte ihnen das Aussehen von frisch gewaschenen Pflaumen verliehen. Der Junge, der sie kommandierte, trug dasselbe Gewand, doch war sein Abzeichen an der Kappe golden. Als seine Mannschaft etwa zehn Meter vor der Rampe angekommen war, rief er einen Befehl, und sie blieben stehen, keuchten, schwitzten, schwankten im grellen Licht. Der Junge trat vor, sprang mit wehendem Umhang auf die Rampe und linste in die für ihn fast völlige Dunkelheit. »Wo ist der Mann mit der Trompete?«
Ralph, der ahnte, dass der Junge sonnenblind war, antwortete: »Es gibt keinen Mann mit einer Trompete. Nur mich.«
Der Junge kam näher, schaute auf Ralph herab und verzog dabei das Gesicht. Der blonde Junge mit der cremefarbenen Muschel auf den Knien überzeugte ihn nicht. Er machte schnell kehrt, und sein schwarzer Umhang plusterte sich auf. »Da ist also kein Schiff?«
Der Junge in dem weiten Umhang war groß, schlank und knochig; seine Haare unter der schwarzen Kappe waren rot. Sein Gesicht war zerknautscht und sommersprossig, wirkte hässlich, aber nicht dumm. Zwei hellblaue Augen starrten enttäuscht, ja fast verärgert. »Ist hier denn kein Mann?«
Ralph sprach ihn von hinten an. »Nein. Wir halten eine Versammlung ab. Komm und mach mit.«
Die enge Reihe der bemäntelten Jungen verlor langsam die Ordnung. Der große Junge brüllte sie an. »Chor! Stillgestanden!« Müde gehorchte der Chor, stellte sich in Reih und Glied auf und schwankte in der Sonne. Einige aber begannen leise zu protestieren. »Aber Merridew. Bitte, Merridew … können wir?«
Dann plumpste einer der Jungen mit dem Gesicht voran in den Sand, und die Reihe brach auseinander. Sie wuchteten den umgefallenen Jungen auf die Rampe und ließen ihn dort liegen. Merridew starrte sie an und versuchte zu retten, was zu retten war. »Also gut. Setzt euch. Lasst ihn in Ruhe.«
»Aber Merridew.«
»Der kippt doch ständig aus den Latschen«, fuhr Merridew fort. »Auf Gibraltar und in Addis Abeba auch; und bei der Morgenandacht ist er über den Kantor gefallen.«
Bei dieser letzten abfälligen Bemerkung kicherten die Chormitglieder, die sich wie schwarze Vögel auf den übereinanderliegenden Stämmen verteilt hatten und Ralph voller Interesse beäugten. Piggy fragte keinen von ihnen nach dem Namen. Diese uniformierte Überlegenheit und die beiläufige Autorität in Merridews Stimme schüchterten ihn ein. Er stellte sich neben Ralph und beschäftigte sich mit seiner Brille.
Merridew wandte sich an Ralph: »Gibt es denn keine Erwachsenen?«
»Nein.«
Merridew setzte sich auf einen Stamm und sah sich in der Runde um. »Dann werden wir uns wohl um uns selbst kümmern müssen.«
Piggy, der sich auf Ralphs anderer Seite sicher fühlte, sprach verschüchtert: »Dafür hat Ralph ja eine Versammlung einberufen. Damit wir entscheiden können, was zu tun ist. Wir kennen jetzt ein paar Namen. Das da ist Johnny. Die beiden da – das sind Zwillinge, Sam und Eric. Wer ist denn Eric? Du? Nein – du bist Sam …«
»Ich bin Sam …«
» …und ich Eric.«
»Wir sollten besser alle Namen kennen«, meinte Ralph, »also, ich bin Ralph.«
»Die meisten wissen wir schon«, sagte Piggy. »Hab ich gerade abgefragt.«
»Kindernamen«, entgegnete Merridew. »Warum sollte ich denn Jack sein? Ich bin Merridew.«
Ralph drehte sich schnell zu ihm um. Das war die Stimme von einem, der wusste, was er wollte.
»Dann«, fuhr Piggy fort, »dann ist da noch der Junge – ich hab’s vergessen …«
»Du redest zu viel«, unterbrach ihn Jack Merridew. »Schnauze, Fettsack.«
»Er heißt nicht Fettsack«, rief Ralph, »er heißt Piggy!«
»Piggy!«
»Piggy!«
»Oh, Piggy!«
Ein Sturmgelächter brach aus, und selbst die Kleinsten fielen mit ein. Die Jungs bildeten einen geschlossenen harmonischen Kreis, nur Piggy war außerhalb: Er lief rot an, senkte den Kopf und putzte erneut seine Brille.
Schließlich versiegte das Gelächter, und die Namensnennung ging weiter. Da war Maurice, der zweitgrößte der Chorknaben neben Jack, stämmig und dauergrinsend. Da war ein schmächtiger, verstohlener Junge, den keiner kannte, der sich in einem inneren Zwang des Vermeidens und der Heimlichkeit abseits hielt. Er murmelte, sein Name sei Roger, und verstummte wieder. Bill, Robert, Harold, Henry; der Chorknabe, der ohnmächtig geworden war, saß an eine Palme gelehnt da, lächelte Ralph blass an und sagte, er heiße Simon.
Jack sprach: »Wir müssen entscheiden, was wir für unsere Rettung tun.« Es gab Gemurmel. Er wolle nach Hause, sagte Henry, einer der kleineren Jungs. »Halt den Mund«, meinte Ralph beiläufig. Er hob das Muschelhorn. »Ich finde, wir brauchen einen Anführer, einen, der entscheidet.«
»Einen Anführer! Einen Anführer!«
»Das übernehme ich«, stellte Jack überheblich fest, »ich bin Chorist im Domkapitel und Schülersprecher. Ich kann ein Cis singen.«
Wieder Gemurmel.
»Also gut«, meinte Jack, »ich …« Er zögerte.
Roger, der dunkle Junge, rührte sich und sprach: »Wir stimmen darüber ab.«
»Ja!«
»Abstimmen, wer Anführer ist!«
»Lasst uns abstimmen –«
Diese Abstimmung erwies sich als ein fast ebenso unterhaltsames Spielzeug wie die Muschel. Jack wollte schon protestieren, aber die lautstarken Forderungen wechselten von dem allgemeinen Wunsch nach einem Anführer dazu über, Ralph direkt auszurufen. Keiner der Jungs hätte einen guten Grund dafür nennen können. Piggy hatte am meisten Intelligenz bewiesen, Jack war der offenkundigste Anführer. Aber an Ralph, der dasaß, war eine Ruhe, die ihn von den anderen abhob: seine Größe, sein gutes Aussehen, vor allem aber hatte er das Muschelhorn, auch wenn das niemandem direkt ins Auge fiel. Wer damit trompetet hatte, wer mit dem zarten Ding auf den Knien auf sie gewartet hatte, hob sich von ihnen ab. »Er mit der Muschel.«
»Ralph! Ralph!«
»Der da mit dem Trompetending soll Anführer sein.«
Ralph hob eine Hand und bat um Ruhe. »Also gut. Wer will Jack als Anführer?« Lustlos gehorsam hob der Chor die Hände.
»Wer will mich?« Augenblicklich hoben sich alle anderen Hände, nur die von Piggy nicht. Dann reckte auch er widerwillig die Hand. Ralph zählte. »Also bin ich Anführer.«
Der Kreis der Jungs applaudierte. Auch der Chor klatschte mit; die Sommersprossen auf Jacks Gesicht verschwanden in dem vor Demütigung rot angelaufenen Gesicht. Er stand auf, entschied sich dann aber anders und setzte sich noch unter dem Applaus wieder hin. Ralph, eifrig darum bemüht, ihm etwas anzubieten, sah ihn an. »Der Chor gehört natürlich zu dir.«
»Er könnte die Armee sein –«
»Oder die Jäger –«
»Oder –«
Die Farbe wich wieder aus Jacks Gesicht. Ralph bat erneut mit einer Handbewegung um Ruhe. »Jack kommandiert den Chor. Sie können – was sollen sie sein?«
»Jäger.«
Jack und Ralph grinsten sich mit schüchterner Zuneigung an. Die anderen unterhielten sich rege.
Jack stand auf. »Also gut, Chor. Klamotten aus.«
Die Chorknaben standen auf, als sei die Stunde zu Ende, sie schnatterten und schleuderten ihre Umhänge ins Gras. Jack legte seinen Umhang auf den Baumstamm neben Ralph. Seine grauen Shorts klebten vor Schweiß. Ralph musterte sie bewundernd, und als Jack den Blick bemerkte, erklärte er: »Ich wollte gerade über den Hügel da steigen, um zu sehen, ob rundherum Wasser ist. Da hat uns deine Muschel gerufen.«
Ralph lächelte, und reckte um Ruhe bittend, das Muschelhorn in die Höhe. »Alle mal herhören. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Ich kann nicht einfach so entscheiden, was zu tun ist. Wenn das hier keine Insel ist, dann werden wir vielleicht ganz schnell gerettet. Wir müssen also herausfinden, ob das hier eine Insel ist. Alle bleiben hier und warten und gehen nicht weg. Drei von uns – nicht mehr, sonst kommen wir nur durcheinander und verlieren uns unterwegs aus den Augen – drei von uns gehen auf eine Expedition und finden es heraus. Ich gehe, Jack und, und …« Er sah sich im Kreis der eifrigen Gesichter um. Es mangelte nicht an Jungs, aus denen er auswählen konnte. »Und Simon.«