1. Auflage 2021
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Sämtliche Inhalte in diesem Buch geben die Meinung der Autoren wieder. Diese müssen nicht zwangsläufig den Meinungen und/oder Ansichten des Diplomatic Council und/oder seiner Mitglieder entsprechen.
Bei diesem Buch handelt es sich um ein Gemeinschaftswerk folgender Autoren:
Andreas Dripke
Hang Nguyen
Claude Piel
Detlef Schmuck
Dr. Harald Schönfeld
Helmut von Siedmogrodzki
Stephanie Stoerk
Dr. Horst Walther
Alle Autoren sind Mitglieder im Diplomatic Council, einem globalen Think Tank mit offiziellem Beraterstatus bei den Vereinten Nationen (UNO).
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Printed in the Federal Republic of Germany.
Gestaltung, Cover und Satz: IMS International Media Services, Wiesbaden
Gedruckt auf säurefreiem Papier.
Print ISBN: 978-3-94-7818-36-5
E-Book ISBN: 978-3-94-7818-37-2
„Was wird die Zukunft bringen?“ gehört zu den fundamentalen Fragen sowohl jedes Einzelnen als auch der Menschheit insgesamt. Und doch ist die Frage falsch formuliert: Denn die Zukunft wird uns nicht „gebracht“, sondern sie wird „gemacht“. Es liegt an uns allen, sie gemeinsam selbst zu gestalten.
Aus dieser Erkenntnis heraus wurde vor mehr als einem Jahrzehnt das Diplomatic Council (DC) gegründet. Es ist ein Think Tank, eine „Denkfabrik“, und ein „Do Tank“, eine Handlungsgemeinschaft. Man kann das Diplomatic Council als einen „Club der klugen Köpfe“ ansehen, die indes nicht nur denken und ihre Erkenntnisse in Büchern wie dem vorliegenden Werk darlegen, sondern die auch handeln, die im wahrsten Sinne des Wortes Hand anlegen. Das Diplomatic Council agiert als Not-for-profit-Organisation rund um den Globus, um wirtschaftliche Prosperität zu stärken, geleitet von der festen Überzeugung, dass eine florierende Wirtschaft, die den Menschen Wohlstand beschert, zu den besten Friedensgaranten überall auf der Welt gehört. Daher überträgt das Diplomatic Council das Ziel der globalen Völkerverständigung in ein ökonomisches Mandat. Die Methodik eines weltweiten Wirtschaftsnetzwerkes wird hierzu mit der diplomatischen Kommunikationsebene der Staaten verknüpft. Somit erschließt das Diplomatic Council seinen Mitgliedern eines der hochwertigsten globalen Kontaktnetze für Wirtschafts- und Sozialfragen.
Um Mitglied im Diplomatic Council zu werden, muss man übrigens keineswegs Diplomat sein. Jeder kluge Kopf mit dem Herz auf dem richtigen Fleck kann sich um eine Mitgliedschaft bewerben. Die Mehrzahl der Mitglieder sind Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft. Der Name Diplomatic Council drückt indes aus, dass die Organisation direkten Zugang zur Staatengemeinschaft hat. Botschafter beinahe aller Länder gehören zum Mitgliederkreis und tragen die Erkenntnisse und Handlungsempfehlung des Diplomatic Council an ihre Regierungen heran.
Die Vereinten Nationen (United Nations Organisation, UNO) haben das Diplomatic Council in ihren engsten Beraterkreis aufgenommen. In diesem Sinne sind alle Autoren des vorliegenden Buches UNO-Berater, deren Stimmen rund um den Globus Gehör finden. Die Mehrzahl der UNO-Konferenzen und Sessions finden in einem mehr oder minder geschlossenen Kreis statt; die Öffentlichkeit ist nur sehr eingeschränkt zugelassen.
Umso bemerkenswerter ist es, wenn sich unter dem Titel „Denken 5.0“ einige der klügsten Köpfe des Diplomatic Council zu einem gemeinsamen Werk zusammengefunden haben, um ihre Vorstellungen von der Zukunft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die in diesem Buch vorgestellten Themen sind durch die Bank weg wichtig, aber das Themenspektrum erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wollte man alle Sujets von Bedeutung ansprechen, wäre der Band mehrere Tausend Seiten dick geworden. Daher hat sich der Verlag des Diplomatic Council, DC Publishing, entschieden, einige ausgewählte Autoren zu Wort kommen zu lassen, um drängende Zukunftsfragen sorgfältig recherchiert, meinungsstark und zugleich anschaulich und leicht lesbar darzustellen.
Dabei geht es um die großen Themen wie Krieg und Frieden oder die Zukunft Europas und die Lehren aus der Pandemie ebenso wie um besonders aktuelle Themen wie die Führungskräfte der Zukunft, die Zukunft des Finanzwesens und die damit verbundene künftige Rolle von Digitalgeld (Kryptowährungen) sowie die Bewahrung unserer Privatsphäre angesichts einer schier unaufhaltsamen Digitalisierung unseres Lebens. Aus der Summe aller Beiträge entsteht ein Bild unserer Zukunft, das dem geneigten Leser bzw. der geneigten Leserin zu helfen vermag, ein Stück weit nach vorne zu blicken und sich auf Entwicklungen vorzubereiten, die auf uns alle zukommen werden.
In diesem Sinne wünsche ich eine spannende Lektüre!
Ihre
Hang Nguyen
Secretary General Diplomatic Council
Andreas Dripke, Executive Chairman Diplomatic Council
Ausgangsbeschränkungen, Versammlungsverbote, Schließung beinahe aller Geschäfte durch behördliche Anordnungen, innerdeutsche Reisewarnungen – noch nie wurden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so viele Grundrechte so umfassend und so flächendeckend in geradezu abenteuerlicher Geschwindigkeit eingeschränkt wie in der Pandemie 2020/21. Hätte jemand 2019, als das Jubiläum zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes gefeiert wurde, diese gravierenden Einschränkungen des Grundgesetzes, wie sie ein Jahr später stattfanden, vorhergesagt: Er wäre als ein Schwarzseher ausgelacht worden. 2020/21 hingegen lautete die Devise: Tausche Freiheit gegen Sicherheit und Gesundheit.
Das war in der Notsituation wohl gerechtfertigt und staatsrechtlich erlaubt. Aber es sollte auf keinen Fall eine Blaupause werden für die Zukunft.
Die Pandemie 2020/21 hat das staatliche Risikomanagement rund um den Globus auf eine harte Probe gestellt, härter als bei der Finanzkrise 2008. Das Ausmaß, in dem die Regierungen die Probe bestanden haben, variiert von Land zu Land. Hoffentlich haben alle Länder dazugelernt, um bei der nächsten Krise schneller und besser das Risikomanagement zu übernehmen. Doch welche Lehren hat Deutschland aus den Ausnahmejahren 2020/21 gezogen?
„Seit Generationen haben sich die Menschen nicht mehr so verwundbar gefühlt“, brachte das German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) schon während der Pandemie die Lage der Nation auf den Punkt. 1 Obgleich Deutschland mit günstigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in das Jahr 2020 gestartet war, deckte die Krise „das Fehlen substantieller, eigentlich gesetzlich vorgeschriebener Ressourcen auf der Ebene der Kommunen und der Länder sowie den Mangel an strategischen Reserven bei Personal, Material und Infrastruktur beim Bund auf“, beschrieb das GIDS-Institut der Bundeswehr die Situation. Engpässe bei lebenswichtigen Gütern wie Medikamenten und Schutzausrüstung zeigten, wie abhängig Deutschland von globalen Lieferketten sei „und dies schon bei Produkten, die für eine weltweit bewunderte Industrienation kein Thema sein sollten“. „Um strategische Autonomie zurückzugewinnen, muss in Zukunft mehr auf die Diversität der Zulieferer, auf Vorratshaltung und die Vermeidung von Redundanzen geachtet werden. Die Bewirtschaftung bestimmter Ressourcen, deren Bedeutung oft erst im Verlauf einer Krise deutlich wird, muss frühzeitiger erkannt und zentral gesteuert werden.“ Die Erkenntnisse aus der Krise sind also eindeutig. Jetzt kommt es „nur“ noch darauf an, sie danach alsbald umzusetzen.
Zur Aufarbeitung der Krise, heißt es vom GDIS-Institut, „gehört deshalb eine schonungslose Untersuchung der Frage, warum die Welt offensichtlich so blind in die Katastrophe gerutscht ist.“ Sicherlich hat sich nach der Krise eine Pandemiewirtschaft etabliert, die Deutschland besser für den nächsten Viren-Überfall vorbereitet. Produktionskapazitäten für Atemschutzmasken, Schutzkleidung und Beatmungsgeräte sollten auf jeden Fall dazu gehören, da es als wahrscheinlich gilt, dass die nächste Pandemie wiederum einen Angriff auf unser Lungensystem zum Kern hat.
Eine der Fragestellungen in der Krise lautete: Haben wir in der Bundesrepublik Deutschland durch das Coronavirus einen Notstand und kommen damit die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze zum Zuge? Es wäre das erste Mal. Der Notstand ist dadurch definiert, dass er den Staat ernsthaft gefährdet. In den Notstandsgesetzen ist von Kriegsgefahr, inneren Unruhen und Naturkatastrophen die Rede, nicht von einer Pandemie. Ob eine Übertragung auf die Pandemiesituation rechtens (gewesen) wäre, ist eine Diskussion unter Juristen, die den Rahmen des vorliegenden Werkes sprengen würde.
Fazit: Das Parlament ist gut beraten, nach der Krise zu entscheiden, ob die Notstandsgesetzgebung möglicherweise auf den Fall einer Pandemie oder ähnliche Situationen wie etwa einem Hackerangriff auf die Infrastrukturen des Landes ausgeweitet werden sollte. Dann sollten diese Fälle im Grundgesetz eindeutig benannt werden, um diesbezüglichen Unsicherheiten im Krisenfall vorzubeugen.
Eine der Befürchtungen im politischen Alltag drehte sich um die Handlungsfähigkeit von Parlamenten. Konkret lautete die Frage: Ist der Deutsche Bundestag auf Dauer beschlussfähig, wenn wegen Ansteckungsgefahr und Krankheit nur noch wenige Abgeordnete den Weg in den Plenarsaal finden. Zur Vorbeugung unterbreitete Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble den Vorschlag, in der Krise Plenarsitzungen virtuell zu organisieren oder ein Notparlament einzurichten, wie es für Kriegszeiten vorgesehen ist. 2 Für beides wäre eine Grundgesetzänderung erforderlich. Doch der Vorschlag des Präsidenten fand bei den Parteien keinen Anklang. Tatsächlich blieb der Bundestag während der Pandemie handlungsfähig.
Diese Handlungsfähigkeit des Bundestags in der bislang größten Krise der Bundesrepublik Deutschland ist ein gutes Zeichen für eine funktionierende Demokratie über die Krise hinaus.
In der Pandemie hatte man seit 2020 zeitweise den Eindruck, dass die Bundesrepublik Deutschland vor allem von Wissenschaftlern regiert wird. Die Erkenntnisse und Prognosen der Wissenschaft bildeten die Grundlage für alle wesentlichen politischen Entscheidungen während der Krise.
Bemerkenswert waren die Ergebnisse einer Umfrage mitten in der Krise, nach der sich 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland dauerhaft in der Politik mehr Gehör für Wissenschaftler wünschen.3 Dass nährt die Hoffnung, dass die Politik in den 2020ern rationaler statt emotionaler verläuft.
Die Bundesregierung war in der Krise gut beraten, ihre politischen Entscheidungen auf nachvollziehbare wissenschaftliche Grundlagen zu stellen. Insbesondere hat es sich bewährt, über die fachliche Beratung durch das Robert-Koch-Institut mit der Leopoldina eine interdisziplinäre Wissenschaftsakademie an der Seite zu haben, ergänzt durch das Paul-Ehrlich-Institut. Mit diesem Konstrukt ist Deutschland auch für die nächste Katastrophe gut vorbereitet, wobei die fachliche Beratung je nach Lage von anderer Seite zu erfolgen hat, beispielsweise durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) im Falle eines Hackerangriffs auf die IT-Infrastrukturen.
Die mit der Corona-Krise in zahlreichen Ländern und auch in Deutschland eingeführten staatlichen Überwachungsmaßnahmen werden nach der Pandemie nicht abgeschafft werden. Die Regierungen nutzen den Krisenmodus aus, um eine dauerhafte und umfassende Bespitzelung und Regulierung der Bevölkerung einzuführen. Diese Befürchtung äußerte schon während der Pandemie 2020/21 der Whistleblower Edward Snowden, der 2013 mit seinen Enthüllungen tiefe Einblicke in das Ausmaß der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken von Geheimdiensten gegeben hatte.4
Tatsächlich war die Geschwindigkeit, mit der sich digitale Überwachungsmaßnahmen während der Pandemie durchsetzten, beinahe vergleichbar mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus. Mit der Begründung Infektionsketten erkennen und durchbrechen zu wollen, war die Handyortung von Anfang an im Spiel. Die Erfassung von Lokationsdaten bot sich ebenso unmittelbar an, um festzustellen, ob Menschen sich an die Quarantäne halten, also tatsächlich zu Hause bleiben, und ob es zu Menschenansammlungen kommt.
In China und vielen anderen asiatischen Staaten wie Singapur, Taiwan oder Südkorea war die Nutzung der Handydaten zur Ortung schon frühzeitig in der Krise ein probates Mittel, um die Bevölkerung zu überwachen. In Deutschland legte das Bundesgesundheitsministerium in der Krise 2020 den Entwurf für ein neues Infektionsschutzgesetz vor, nach dem die Telekommunikationsdienste Daten an das Robert-Koch-Institut übermitteln sollten, um die Ortung von Kontaktpersonen Infizierter zu ermöglichen. Der Entwurf fiel in der zunächst vorgelegten Form nicht zuletzt aufgrund massiver Proteste durch, aber er verdeutlichte, wie rasch der Staat unter der Flagge der Krisenbewältigung auf höchstpersönliche Daten der Bevölkerung zugreifen möchte.
Ein Bewegungsprofil, wo man sich wie lange aufhält, gehört zu den sensibelsten Informationen eines Menschen. Denn letztlich geht es dabei nicht nur um geografische Daten, sondern man erfasst, in welchen Gegenden sich jemand aufhält, welche Geschäfte oder Restaurants er besucht, in welchen Hotels er absteigt und vieles mehr. Wenn man zudem die Ortungsdaten aller Menschen überwachen würde, ließe sich daraus unmittelbar erkennen, wer sich wie oft und wo mit wem trifft.
Zum Hintergrund: Die heimliche Ortung von Smartphones ist längst Usus in Deutschland. Durch sogenannte „Stille SMS“ greifen Polizei, Verfassungsschutz, Zollfahndung und weitere staatliche Stellen regelmäßig auf Mobilgeräte Verdächtiger zu, um heimlich Bewegungsprofile zu erstellen.5 Das stellt keine „Verschwörung“ dar, sondern ist bekannter und erlaubter Behördenalltag bei der Verbrechensbekämpfung. Eine neue Dimension erhält die „stille Überwachung“ indes, wenn sie im großen Stil auf weite Teile der Bevölkerung und auf lange oder gar unbestimmte Zeit ausgedehnt würde. Genau dies war die Befürchtung der kritischen Stimmen, die sich sorgten, dass die Pandemie 2020/21 den Weg ins Orwell‘sche Jahr „1984“ ebnet. Für die Zukunft lässt sich festhalten: Jede Generation hat neu darum zu kämpfen, dass George Orwell niemals Realität wird.
Das Innenministerium hat bereits 2020 in einem internen Papier die ökonomischen Folgen eines Corona-Shutdowns durchgerechnet. Das Worst-Case-Szenario, also der schlimmste anzunehmende Fall, in dem Papier als „Abgrund“ bezeichnet, las sich wie die Apokalypse. Laut Analyse könnte die Wirtschaftsleistung in Deutschland um 32 Prozent einbrechen und die Wirtschaftsleistung der Industrie sogar um 47 Prozent zurückgehen. Wörtlich hieß es in dem vertraulichen Papier: „Dieses Szenario kommt einem wirtschaftlichen Zusammenbruch gleich, dessen gesellschaftliche und politische Konsequenzen kaum vorstellbar sind.“6 Allerdings: Dieser schlimmstmögliche Fall, der von den Medien vielfach zitiert wurde, wäre nur eingetreten, wenn es überhaupt nicht gelungen wäre, die Pandemie zu kontrollieren und einzudämmen. Doch genau das ist gelungen. Im mildesten Szenario („Schnelle Kontrolle“) ging die Analyse von einem Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um vier Prozent und der industriellen Wertschöpfung um neun Prozent in 2020 aus. Dies entspräche in etwa der Rezession in der Weltwirtschaftskrise 2009.7
Indes ist davon auszugehen, dass viele Industrien die Produktionszahlen von vor der Krise auf einige Jahre nicht wieder erreichen werden. Schließlich werden sich die verfügbaren Einkommen deutlich reduziert haben und das Konsumverhalten der Bevölkerung wird sich nach der Krise sicherlich neu ausrichten.8
Die 2020er Jahre werden rückblickend als Wirtschaftswunder 2.0 in die Geschichte eingehen, anknüpfend an die Ludwig-Erhard-Zeit des Wiederaufbaus von 1949 bis 1963. Doch während es nach dem Zweiten Weltkrieg darum ging, die Trümmer beiseite zu räumen und die Industrie wieder zum Laufen zu bringen, geht es heutzutage vor allem um Innovationen. Deutschland muss es gelingen, bei Themen wie Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Big Data, Biotech, Fintech, Digitalisierung und über alle Branchen hinweg der Startupszene Platz zum Aufblühen zu bieten. Am besten geht dabei der Staat voran mit einer umfassenden Digitalisierung über alle öffentlichen Bereiche hinweg, von E-Health bis E-Government.9 Experten rechnen damit, dass Deutschland frühestens im Jahr 2028 wieder auf den Wachtumspfad zurückkehrt, der 2020 so jäh unterbrochen wurde.10
Conclusio: Je nach Institut und Experte wurde ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung um sieben bis über 30 Prozent erwartet, wobei 30 Prozent als unwahrscheinlich gelten. Zum Vergleich: In der Weltwirtschaftskrise des vergangenen Jahrhunderts ging die Gesamtleistung der deutschen Wirtschaft in 1930 um sieben Prozent, in 1931 um 16 Prozent und in 1932 um 17 Prozent zurück. Auf jeden Fall lässt sich festhalten: Der industrielle Kern Deutschlands hat die Corona-Pandemie gut überlebt. Die Kreativität der Familienunternehmen, innovativen Mittelständler und krisenerprobten Selbstständigen und Freiberufler versprechen eine berechtigte Hoffnung, dass die deutsche Wirtschaft auch künftige Krisen mehr oder minder gut überstehen wird.
Eine Pandemie, die sich über die gesamte Menschheit ausbreitet – das war ein unwahrscheinliches Szenario, das höchstens für ein Hollywood-Drama zu taugen schien. Und doch gab es lange vor dem Jahr 2020 ernstzunehmende Wissenschaftler, die vor eben dieser Gefahr eindringlich gewarnt hatten. Es war ein „Schwarzer Schwan“, ein Ereignis, das so unwahrscheinlich erscheint, dass man es „eigentlich“ ausschließt. Doch wenn man die Welt genauer betrachtet, gab es in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Ereignissen, die einem schwarzen oder zumindest einem grauen Schwan nahekamen.
Terroristen entführen Passagierflugzeuge und steuern sie in die Zwillingstürme des World Trade Center in New York, die daraufhin zusammenbrechen mit rund 3.000 Todesopfern. Es war undenkbar – und doch geschah es am 11. September 2001. Ein islamistischer Terrorist lenkt einen schweren Sattelschlepper in eine Menschenmenge auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz an der Gedächtniskirche – geschehen am 19. Dezember 2016. Niemand hatte diese Terrorvariante zuvor in Betracht gezogen; erst seitdem werden Märkte gegen Lkw-Terror durch Barrieren geschützt. Eine neonazistische Terrororganisation ermordet über acht Jahre lang in Deutschland still und heimlich Menschen mit Migrationshintergrund – unvorstellbar, bis das mörderische Treiben der NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) von 1999 bis 2007 im Jahr 2011 auffiel. Ebenso undenkbar schien lange Jahre hinweg, dass jemals ein Mitgliedsland der EU aus der Europäischen Union wieder austritt – bis uns Großbritannien mit dem Brexit 2020 eines Besseren belehrte. Was heißt das für die Zukunft? Es lohnt sich, Szenarien in Betracht zu ziehen, die so unwahrscheinlich sind, dass man sie für unmöglich hält.
Genau das will der Begriff „Schwarzer Schwan“ aussagen. Über Jahrhunderte hinweg war es in Europa klar, dass ein Schwan „natürlich“ weiß ist, der „schwarze Schwan“ war der Inbegriff des Unmöglichen, sozusagen als Antipode des „weißen Schimmels“, Inbegriff des Pleonasmus. Es war ein Irrtum. Denn es gibt ihn sehr wohl, den schwarzen Schwan, auch Trauerschwan genannt – nur ist sein natürliches Verbreitungsgebiet in Australien und Neuseeland – damals zu weit weg, um wahrgenommen zu werden, heute, im Zeitalter der Globalisierung, praktisch um die Ecke – und zwischenzeitlich sogar in einigen Gegenden Europas.
So kann das Undenkbare, das scheinbar Unmögliche, zur Realität werden. Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass es für Politik wie Gesellschaft, für die Gemeinschaft wie für jeden einzelnen sehr wohl sinnvoll ist, gelegentlich das Undenkbare zu denken und sich die Frage zu stellen, wie wir als Gemeinschaft und wie man selbst auf den Fall, der „eigentlich“ niemals eintreten kann, vorbereitet ist.
Hang Nguyen, Secretary General Diplomatic Council
Aus dem stetigen internationalen Austausch mit den Mitgliedern des Diplomatic Council aus aller Welt ergeben sich immer wieder neue Einsichten, aus denen sich maßgebliche Trends herauskristallisieren lassen. Einige der wichtigsten Entwicklungen sind in diesem Kapitel angerissen, vom Aufstieg Chinas über die Gefahren der scheinbar unaufhaltsamen Zerstörung unseres Planeten und die potenziellen Auswirkungen der digitalen Disruption bis hin zu den Chancen und Risiken der Genmanipulation.
Über Jahrzehnte hinweg war das Handeln der chinesischen Regierung auf einen Stichtag ausgerichtet: den 1. Oktober 2049. An diesem Tag feiert die Volksrepublik China nämlich ihren 100. Geburtstag. Staatspräsident Xi Jinping scheint fest entschlossen, sein Land bis dahin zur Nummer 1 auf der Welt zu machen: wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Um sein großes Ziel zu erreichen, bleiben ihm also weniger als 30 Jahre, in denen es ihm gelingen muss, die USA zu überrunden, um den Sieg davonzutragen.
Angesichts des historischen Datums vor Augen wird China keine Maßnahmen scheuen, seinen Weltmachtanspruch durchzusetzen. Wer die chinesische Entwicklung analysiert, muss sich stets über diese unbeugsame Zielsetzung, der sich in China alles unterzuordnen hat, im Klaren sein. Die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Volksrepublik China am 1. Oktober 2019 zeigten je nach Blickwinkel eindrucksvoll oder erschreckend die Strategie: Niemand könne „das chinesische Volk und die chinesische Nation auf dem Weg nach vorne stoppen“, deklamierte Staatschef Xi Jinping auf seiner Festrede am Tiananmen-Platz in Peking. Keine Macht könne den Fortschritt des chinesischen Volks und der Nation aufhalten. Um den Anspruch zu untermauern, verband er die 70-Jahr-Feier mit der bis dato größten Waffenschau in der Geschichte.
Die militärische Ausrüstung sei „komplett selbst produziert“, stellte das chinesische Militär klar, dass man nicht auf technologische Unterstützung aus dem Ausland angewiesen ist. Es sollte die „unabhängige Innovationsfähigkeit“ der chinesischen Verteidigungsindustrie demonstrieren. Vor allem: „Das chinesische Militär wird resolut die nationale Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen verteidigen.“
Eine gemeinsame Studie der Havard-Universität und des Kieler Institut für Weltwirtschaft aus dem Jahr 2019 kam zu dem Schluss, dass die Auslandsforderungen der Volksrepublik China bei rund sechs Billionen Dollar liegen. Das sind etwa 50 Prozent mehr, als die offiziellen Statistiken ausweisen. Beinahe überall auf der Welt werden Infrastrukturprojekte, darunter Kraftwerke, Pipelines, Brücken, Tunnel, Straßen, Eisenbahnstrecken, Dämme, Schulen, Krankenhäuser oder Satelliten, mit chinesischen Milliarden errichtet. Nach dem Schock der Lehman-Brothers-Pleite in den USA mit Auswirkungen auf die ganze Welt hat das immense Investitionsvolumen aus China die letzte Finanzkrise erheblich abgemildert. Doch es sind durchweg Kredite, die aus China kommen; die Staaten werden die Summe also künftig mit Zins und Zinseszins zurückzahlen müssen. Laut Harvard/Kiel-Studie sind 152 Staaten (!) durch beinahe 5.000 Kredite und Hilfszahlungen an China gebunden, die sich zusammen auf die genannten sechs Billionen Dollar summieren.
In Chinas Plan, zur Weltmacht aufzusteigen, spielt Osteuropa eine entscheidende Rolle. Seit 2012 galt das Konzept „16 + 1“ als Synonym für 16 Länder in Osteuropa, elf davon in der Europäischen Union, und „1“ für China. Im April 2019 kam Griechenland hinzu, es sind seitdem 17 plus 1 Staaten.
Was zeichnet die 17+1-Länder im chinesischen Plan aus? Die Antwort ist eindeutig: In diesen Ländern will China durch Investitionen in Infrastruktur langfristigen wirtschaftlichen und politischen Einfluss nehmen – und letztlich den Einfluss aus Washington, Berlin oder Paris zurück drängen. Das unterscheidet diese 17+1-Gruppe sehr deutlich etwa von Deutschland oder Frankreich, wo es China darum geht, über Firmenbeteiligungen und Akquisitionen an Know-how heranzukommen und soweit möglich technologisch relevante Unternehmen zu übernehmen. In Deutschland gibt es besonders viele sogenannte „Hidden Champions“, außerhalb ihrer jeweiligen Branche eher unbekannte Unternehmen, die innerhalb ihrer Branche teilweise über mehr als 50 Prozent Marktanteil weltweit verfügen. Für China stellen diese Firmen eine strategisch äußerst interessante Beute dar. Anders in der Region 17+1: Dort setzt China sein Geld ein, um die wenig entwickelten und eher ärmeren Länder mit attraktiven Investitionsversprechungen zu locken. Straßen, Brücken, Häfen, Eisenbahnstrecken, Telekommunikationsnetze, Kraftwerke – die Liste der von chinesischer Seite geförderten Infrastrukturvorhaben in Osteuropa ist lang. Häufig handelt es sich dabei um solche Projekte, die von der EU nicht als förderungswürdig eingestuft wurden.
Chinas Marsch in die Zukunft steht geradezu diametral zu dem Schrumpfungsprozess und die Selbstfokussierung in Europa. Während sich die Länder Europas um die Folgen der Migration kümmern, das europäische Währungssystem zu stabilisieren trachten, um die Menschenrechte bangen oder sich um die Umwelt und das Klima sorgen, setzt China auf Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, Robotik und Raumfahrt – alles Gebiete, auf denen Europa bestenfalls politische Ankündigungen vorzuweisen hat, denen nur wenige Taten gefolgt sind. In Deutschland wird das schnelle Internet beinahe gefordert, seit es das Internet überhaupt gibt; Funklöcher gehören in der viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt zum Alltag. Die Autonation Deutschland erlebte nach dem Dieseldesaster und dem Wandel zu autonom fahrenden Wagen mit neuen Antrieben einen Umbruch, dessen Ausgang äußerst ungewiss ist. Wenn die Bundesregierung ankündigte, drei Milliarden Euro bis 2025 in Künstliche Intelligenz zu investieren, so kam das dem sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein gleich.
Die Zuspitzung der Spannungen zwischen China und den USA hat zweifelsohne das Potenzial für einen Dritten Weltkrieg, vielleicht eine territoriale Auseinandersetzung im asiatisch-pazifischen Raum, möglicherweise der „Große Krieg“. Ein militärischer Konflikt ist zwar keineswegs unausweichlich, aber eben auch nicht unmöglich.
Historiker sprechen von der „Thukydides-Falle“ in Anlehnung an Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges von 431 bis 404 vor Christus. Der griechische Historiker Thukydides nannte als „wahrster Grund“ für die damalige weltkriegsartige Zäsur den Aufstieg Athens und die Furcht der Spartaner vor einem immer weiter erstarkenden Herausforderer. China scheint fest entschlossen, sein Militär über alle Streitkräfte hinweg spätestens bis zum 100. Jahrestag der Volksrepublik 2049 auf Weltklasseniveau zu trimmen.
Viele Produktionsstätten waren geschlossen, Reisen auf ein Minimum reduziert, Berufspendler fielen aus, weil sie im Home Office arbeiteten – 2020/21 waren rund um den Globus Erholungsjahre für Umwelt und Klima. So konnten beispielsweise in Indien seit Jahrzehnten erstmals wieder viele Menschen aus Hunderten von Kilometern Entfernung den Himalaya sehen. Viele Chinesen erlebten ihre Millionenstädte so frei von Smog, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatten. Die CO2-Emissionen sanken binnen weniger Wochen um ein Viertel. Für Italien und viele weitere Länder zeigten Satellitenaufnahmen aus dem Jahr 2020 deutliche Verbesserungen bei der Luftqualität.
Wenn es je eines Beweises bedurft hätte, dass die Umweltverschmutzung durch Einschränkungen des menschlichen Tuns kurzfristig signifikant zu reduzieren ist, so wurde dieser Beweis 2020/21 auf jeden Fall erbracht. Allein 2020 sank der Ausstoß von Kohlendioxid um 2,4 Milliarden Tonnen im Vergleich zum Vorjahr.
Der Corona-Lockdown hat der Umwelt und dem Klima indes nur eine kurze Verschnaufpause verschafft – mehr nicht. Denn eine langfristige Verbesserung erreicht man nur mit gezielter Klima- und Umweltpolitik, die Produktionsstrukturen, Infrastrukturen sowie die Konsum- und Mobilitätsmuster nachhaltig verändert. Wenn die Wirtschaft nach der Krise wie zuvor läuft und der Verkehr wieder unverändert rollt, nehmen auch die Emissionen rasch wieder zu. Was angesichts der Corona-Gefahren zu Beginn der Dekade häufig übersehen wurde: 2020 war das wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnung. Extrapoliert man diese Entwicklung, steuert die Erde auf eine Erwärmung um drei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu.
Die Corona-Pandemie könnte ein Klacks sein gegen das, was der Menschheit bevorsteht, wenn die Erderwärmung weiter anhält, die Meeresspiegel steigen und die Artenvielfalt abnimmt. Vielleicht waren die Jahre 2020/21 als ein Warnschuss zu verstehen. Vieles deutet darauf hin, dass der Zusammenbruch unserer Umwelt nach einer Vorwarnphase ebenso disruptiv unser Leben verändern wird wie das Virus. Der sicherste Weg in diese nächste Katastrophe besteht wohl darin, unser Leben nach der Pandemie einfach so weiterzuführen wie zuvor.
Expertenstudien berechnen für das Jahr 2070 eine Jahresdurchschnittstemperatur von etwa 29 Grad Celsius, von der rund 3,5 Milliarden Menschen betroffen wären, falls es nicht gelingt, den Ausstoß der Treibhausgabe zu mindern. Mit diesen Temperaturen befänden sie sich außerhalb der klimatischen Nische zwischen elf und 25 Grad, die der Mensch seit mindestens 6000 Jahren bewohnt. Die überheißen Gebiete lägen vor allem in Südamerika, Afrika, Indien, Südostasien und in Nordaustralien. Über die mit dieser Temperaturverteilung verbundenen Migrationswellen lässt sich nur spekulieren, doch man kann wohl davon ausgehen, dass sie gewaltig sein werden.
So erwärmt sich beispielsweise die Arktis schon seit mehr als drei Jahrzehnten etwa doppelt so schnell wie alle anderen Erdregionen. Das renommierte Wissenschaftsmagazin Spektrum nannte schon 2019 das Auftauen von immer mehr Permafrostböden „die Zeitbombe im hohen Norden.“ Die Dauerfrostböden auf der Nordhalbkugel der Erde – also im Norden Sibiriens, Kanadas, Alaskas und des Tibet-Plateaus – machen immerhin etwa ein Viertel der Landfläche der Erde aus. Rund die Hälfte Russlands befindet sich im Permafrost, etwa 3,5 bis vier Prozent der Schweizer Alpen ebenfalls. Eine Gefahr für das Klima besteht darin, dass durch den allmählichen Rückgang des Permafrosts die dort gespeicherten Kohlendioxidmengen freigesetzt werden – und diese sind gewaltig. In diesen Permafrostböden dürften zwischen 1100 und 1500 Milliarden Tonnen Kohlendioxid gespeichert sein, deutlich mehr als in der gesamten Atmosphäre der Erde, die rund 800 Milliarden Tonnen enthält. Schon bis 2100 könnten die sich rasch erwärmenden Dauerfrostböden etwa 140 Milliarden Tonnen Kohlendioxid freisetzen und damit zur Erderwärmung beitragen. Als weitere Folgen gelten Überflutungen, Instabilitäten ganzer Landstriche und heute noch kaum abschätzbare Auswirkungen.
Schon der im Jahr 2019 vorgestellte „Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services“ der Vereinten