Hale-Bopp
Im Bann des
Kometen
Alle Rechte vorbehalten.
Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter
Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.
Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit
Zustimmung des Verlags möglich.
Die Handlungen sind frei erfunden.
Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.
www.verlag-der-schatten.de
Erste Auflage 2021
© Coverbilder: Depositphotos solarseven, ESO/E. Slawik
Covergestaltung: © Shadodex – Verlag der Schatten
© Bilder Innenteil: Depositphotos solarseven, ESO/E. Slawik, E. Kolmhofer, H. Raab; Johannes-Kepler-Observatory, Linz, Austria http://www.sternwarte.at) – eigenes Werk
Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten
© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-
Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel
ISBN: 978-3-98528-002-5
Kometen! Sie galten als böse Omen, als himmlische Vorboten irdischen Übels. Aber nicht nur früher löste das Auftauchen eines Kometen Angst und Schrecken bei den Menschen aus.
1996/97 weckte ein außergewöhnliches Objekt am Nachthimmel die Aufmerksamkeit der Menschen und veranlasste sie dazu, den Blick nach oben zu richten. Es war der Komet Hale-Bopp (C/1995 O1). Ungewöhnlich war sein dünner Natriumschweif, der ihn (neben den bereits von anderen Kometen bekannten Gas- und Staubschweifen) zu etwas Besonderem machte.
Doch gerade dieser Natriumschweif hat zwischen dem 20. Mai 1996 und dem 9. Dezember 1997 – 569 Tage lang – immer wieder Ungewöhnliches bewirkt. Kleine Ereignisse, von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren hat, weil die Betroffenen geschwiegen haben. Begebenheiten mit weitreichenden Folgen, die jedoch unter Verschluss gehalten wurden …
Bis heute, denn wir haben diese Geschichten aus der Dunkelheit ans Licht gezerrt. Wir lüften den Schleier, den die Vergangenheit über diese Geheimnisse gelegt hat.
Inhalt
Im Schweif des Kometen
© Ralf Raabe
Die Prophezeiung
© Sabine D. Jacob
Ein Dorf in Angst
© P.C. Thomas
[T]Raumfluchten
© Adrian Paddags
Die Beobachtung
© Monika Grasl
Der lange Mann
© M.C. Born
Anna
© Andreas Faber
Aussichtspunkt
© Yann Krehl
Der genozidale Besucher aus dem All
© K.W. Brand
The Changer – Hale-Bopps Vermächtnis
© Eve Grass
Hale-Bopps Baby
© Anna Graupner
Das Wesen der Freiheit
© A. K. Buchmann
Jenseits des Kometen
© Andreas Dörr
Der Fund
© Piet Woudenberg
Die offene Tür
© Bettina Ickelsheimer-Förster
Über Hale-Bopp
Der Komet Hale-Bopp (C/1995 O1) wurde am 23. Juli 1995 unabhängig voneinander durch Alan Hale in New Mexico und Thomas Bopp in Arizona entdeckt, als diese den Kugelsternhaufen M 70 im Sternbild Schütze beobachteten. Die erste unbewusste Ablichtung des Kometen geschah bereits 1993 von dem Siding Spring Observatorium (Australien) und wurde entdeckt, als Archivmaterial erneut gesichtet wurde. Man vermutete früh, dass er in der Nähe der Sonne sehr hell werden würde. Die Vorhersage bestätigte sich, als er sein Perihel (seinen sonnennächsten Punkt) am 1. April 1997 durchlief. (Der Erde am nächsten war er bereits am 22. März 1997.) Hale-Bopp wurde daher auch als »Der Große Komet von 1997« bezeichnet. Er war wahrscheinlich der am meisten beobachtete Komet des 20. Jahrhunderts und einer der hellsten. Der Komet konnte über einen Zeitraum von 18 Monaten mit bloßem Auge beobachtet werden – doppelt so lange wie der bisherige Rekordhalter Flaugergues (»Der Große Komet von 1811«).
Besonders machte Hale-Bopp vor allem sein Natriumschweif, den er neben den bereits von anderen Kometen bekannten Gas- und Staubschweifen besaß. Außerdem konnten ein erhöhtes Deuteriumvorkommen nachgewiesen werden sowie einige organische Verbindungen (u.a. Ameisensäure). Da sich zwei Helligkeitsspitzen im Kometen zeigten, wurde angenommen, dass Hale-Bopp aus zwei Kernen bestehe. Der Annahme liegen jedoch lediglich theoretische Analysen zugrunde und keine direkte Beobachtung eines zweiten Kerns. Nach diesen Analysen soll der zweite Kern einen Durchmesser von rund 30 km haben, während der Hauptkern rund 70 km Durchmesser hat. Beide Kerne sollen in einer Entfernung von rund 180 km alle 3 Tage um ihre gemeinsame Achse rotieren. Dies wurde jedoch nie nachgewiesen.
Zu den bekanntesten Kometen des 20. Jahrhunderts zählt auch der Halleysche Komet (offiziell 1P/Halley), der 1910 und 1985 zu sehen war. Ralf Raabe hat diesen in seiner Geschichte »Im Schweif des Kometen« aufgegriffen.
Paranoia und Aberglaube
In vielen Kulturen wurden Kometen als böse Omen betrachtet und mit großem Misstrauen verfolgt, auch heute noch wird ihr Erscheinen regelmäßig von Paranoia und Aberglauben begleitet. Vielleicht aufgrund seiner langen Helligkeitszunahme und seiner ungewöhnlichen Größe wurde Hale-Bopp Anlass so vieler bizarrer Überzeugungen und Theorien.
Im November 1996 nahm der Amateurastronom Chuck Shramek aus Houston, Texas ein CCD-Bild des Kometen auf, in dessen Nähe ein unscharfes, etwas in die Länge gezogenes Objekt zu sehen war. Als er mithilfe seines elektronischen Sternkatalogs den Stern nicht identifizieren konnte, benachrichtigte Shramek den Radiosender Art Bell, er habe ein saturnähnliches Objekt gesehen, welches Hale-Bopp folge. In Wirklichkeit war es der Stern SAO141894. Er erschien nicht in Shrameks Computerprogramm, weil seine Benutzereinstellungen ungenau waren.
Ende März 1997 begingen 39 Mitglieder der Sekte Heaven’s Gate unter der Führung von Marshall Herff Applewhite angesichts des erschienenen Kometen Massenselbsttötung. Ihr Motiv war, dass sie ihren Erdkörper verlassen und zu dem Raumschiff reisen würden, welches den Kometen begleite.
Realität und Fiktion
Diese Anthologie enthält erfundene Geschichten, die nie passiert sind. Die Storys entspringen allein der Fantasie der Autor*innen.
Jedoch greifen die Geschichten neben der Erwähnung des Natriumschweifs auch andere bekannte Fakten auf wie das Deuteriumvorkommen oder die organischen Bestandteile. Und auch die Geschichte um die Sekte Heaven’s Gate taucht immer wieder auf. Alle anderen Begebenheiten sind lediglich erfunden.
Et numquam coelo spectatum impune cometen.
Und niemals ist am Himmel ungestraft ein Komet gesehen worden.
Claudian (370 bis 404 n. Chr.)
Ich hatte Giles seit dem Studium nicht mehr gesehen, und wir standen uns auch damals nicht besonders nahe. Einmal lud er mich auf das Gut seiner Eltern ein zu einer Fuchsjagd, an die ich mich aus verschiedenen Gründen lieber nicht erinnern möchte.
In Oxford jedenfalls sah man ihn häufiger in den Pubs als in der College-Bibliothek. Sein Vater überwies ihm allmonatlich ein hübsches Sümmchen, und so bildete Giles das Zentralgestirn einer Gruppe von Erstsemestern, die auf seine Kosten freitags bereits betrunken waren, noch ehe die Glocken von St. Mary neun Uhr geschlagen hatten.
Da ich selbst nicht mit einem reichen Elternhaus gesegnet war und dazu mit einem saftigen Studienkredit in der Kreide stand, mied ich jenen Kreis und steckte meine Nase in die Bücher, um mich auf die Examen vorzubereiten.
Seitdem waren rund zwanzig Jahre vergangen, und ich war nicht wenig überrascht, als mich eines Abends sein Anruf im Hotel erreichte. Zu jener Zeit hielt ich mich in London auf, um mit meinem Verleger über den neuen Roman zu sprechen. Giles hatte von Emma, einer gemeinsamen Bekannten, die mir die Flüge bucht, von meiner Anwesenheit erfahren. Er sei wegen einer Erbschaft in der Stadt und würde mich gern sehen, um mir eine – wie er sich ausdrückte – merkwürdige Geschichte zu erzählen.
Mir fiel keine glaubwürdige Ausrede ein, und so verabredeten wir uns in einem indischen Restaurant in der Nähe des Britischen Museums. Bei meinem Eintreffen wartete Giles bereits auf mich. Er strahlte über das ganze Gesicht und schien sich aufrichtig zu freuen, mich zu sehen. Als er sich erhob, um mich zu begrüßen, konnte ich mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Auch an ihm waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: Er hatte einige Pfunde zugelegt, und die akkurat gescheitelten blonden Haare lichteten sich.
Ein pakistanischer Kellner brachte die Speisekarten, und wir sprachen kurz über meine Arbeit. Giles wusste von meiner Kündigung bei der Zeitung und dass ich einige Romane veröffentlicht hatte; doch in seiner entwaffnenden Art machte er keinen Hehl daraus, keines meiner Bücher gelesen zu haben.
Dann berichtete er mir von sich, wie es ihm nach dem Tod seines Vaters gelungen war, das Gestüt vor dem Ruin zu retten. Trotz seines launigen Tons hörte ich heraus, wie schwer diese Jahre für ihn, dem im Leben alles geschenkt worden war, gewesen sein mussten. Das Gespräch glitt hinüber zu Bekannten aus Studientagen, was aus ihnen geworden war, wer wen geheiratet hatte und wo sie nach der Scheidung lebten.
Ein Schweigen trat ein, nachdem der Kellner die Vorspeisenteller abgeräumt hatte, nur unterbrochen vom Geschirrgeklapper und Gemurmel der anderen Gäste. Allmählich begriff ich, dass er den wahren Grund unserer Verabredung zu vermeiden suchte.
Jetzt wurde ich neugierig. »Wir sind nicht hier«, wagte ich mich vor, »um Erinnerungen aufzufrischen, oder?«
Er trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem Tischtuch und sah mich prüfend an, bevor er zu sprechen begann. »Mein Vater hatte einen Bruder. Onkel Charles war unverheiratet und galt als – nun, sagen wir – ein wenig wunderlich. Die beiden hatten schon vor meiner Geburt miteinander gebrochen.« Er schwieg einen Moment.
»Eine Frau?«, vermutete ich und begann bereits wieder das Interesse zu verlieren. Eifersuchtsdramen unter Geschwistern gehören in die unterste literarische Schublade.
Ein spöttisches Lächeln überzog sein fülliges Gesicht. »Welche Art Romane schreibst du eigentlich?« Das Lächeln verflog. »In gewisser Weise spielt eine Frau in dieser Geschichte eine Rolle – vielleicht aber auch nicht. Das ist der springende Punkt, über den ich mir nicht im Klaren bin.«
»Und das zu verstehen, soll ich dir helfen?«
Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Onkel Charles lebte zurückgezogen im Haus meiner Großeltern. Zurückgezogen ist wohl ein wenig untertrieben: Er hockte eigentlich nur in seiner Bibliothek und verließ niemals das Haus. Vom Personal war lediglich noch eine Haushälterin da; sie versorgte ihn und war seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Kurz vor seinem Tod schrieb er mir einen Brief, in dem er mich bat, ihn in Somerset zu besuchen. Er war über neunzig und ich der letzte männliche Verwandte. Er wollte wohl sehen, an wen sein Landhaus aus der Zeit von Queen Anne einmal fallen würde. Er selbst öffnete mir die Tür und führte mich durch die ungelüftete Eingangshalle in die Bibliothek, ein zweistöckiger Saal mit Galerie. Deckenhohe Bücherregale verloren sich im Halbdunkel. Es roch nach Leder, Staub und altem Papier. In der Mitte des Raums entdeckte ich die Umrisse einer Sesselgruppe und eines altmodischen Holzglobus, in dessen Innerem man unwillkürlich Hochprozentiges vermutete. Er ließ sich in einen der abgewetzten Ledersessel sinken und bedeutete mir mit einem Nicken, seinem Beispiel zu folgen. Ein bernsteinfarbener Strahl der Abendsonne, in dem Staubpartikel tanzten, fiel auf das Gesicht des Greises; seine eingeschrumpfte Gestalt schien von dem Ohrensessel verschlungen zu werden. Mein Blick wanderte hinauf zur Galerie, dem Ursprung dieser Lichtquelle. An der Westseite wurden die endlosen Reihen der Bücherregale durch Fenster unterbrochen. Das Licht drang durch das einzige nicht mit Samtvorhängen verdunkelte Fenster. Ein Teleskop reckte sich dort in den Himmel. Irgendwie fiel es in der spätviktorianisch eingerichteten Bibliothek aus dem Rahmen, weil es sich dabei nicht um ein messingblitzendes Relikt dieser Epoche handelte, sondern um ein modernes und vermutlich sehr leistungsstarkes Spiegelteleskop. Noch immer schwieg mein Gegenüber. Unter seinem prüfenden Blick rutschte ich unbehaglich in meinem Sessel hin und her, während ich die verschatteten Regalreihen betrachtete. Trotz des Zwielichts glaubte ich zu erkennen, dass keiner der zahllosen ledergebundenen Bände jünger als hundert Jahre alt sein mochte. Onkel Charles schien zu erraten, in welche Richtung meine Gedanken wanderten, denn nach einer Weile sagte er mit einer Stimme, die wie welkes Laub klang: ›Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich habe all diese Bücher nicht gelesen. Einige, gewiss. Aber ich habe vor langer Zeit damit aufgehört.‹ Er gab ein heiseres, wie Papier raschelndes Lachen von sich, dann beugte er sich vor und in seine leblos wirkenden Augen trat ein Funkeln. ›Willst du wissen, warum?‹ Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, auf meine Uhr zu sehen, und rang mir ein Lächeln ab. Man sagt ja, Blut ist dicker als Wasser, und schließlich war er mein Onkel, aber eben ein Onkel, der niemals Teil meines Lebens gewesen war. Daran änderte auch die in Aussicht gestellte Erbschaft nichts – so gelegen sie mir kommen mochte. Er lehnte sich wieder in den Sessel und legte die Fingerspitzen aneinander. ›Es war der 20. April, einen Monat nach meinem sechzehnten Geburtstag, doch noch immer hielt der Winter das Land in seinem frostigen Griff. Ich hatte die Gewohnheit, hier oft noch lange nach Mitternacht zu lesen. Anders als dein Vater, der in seinem Abschlussjahr in Oxford als Schlagmann das Ruderteam zum Sieg gegen Cambridge führte, zog es mich zu den Büchern. Ich muss dich nur ansehen, um zu wissen, dass du ihm in dieser Hinsicht nachschlägst. Während er mit seinen sportlichen Erfolgen Aufmerksamkeit und Anerkennung auf sich zog, durchstöberte ich diese Welt aus Papier.‹ Er machte eine Gebärde, die den ganzen Saal zu umfassen schien. In der Erwartung, er käme endlich zur Sache, beschloss ich seine Spitze gegen meinen Vater und mich zu überhören. ›Als Junge segelte ich mit Odysseus zwischen Charybdis und Skylla, reiste mit Sindbad zum Magnetberg, zog mit Marco Polo nach China, hörte Long John Silvers Holzbein über Deck stelzen, tauchte mit Kapitän Nemo auf den Grund des Ozeans, ging mit Ismael auf die Jagd nach dem Weißen Wal – kurz, ich verträumte meine Kindheit an einem Ort, der alle Orte zu bergen schien.‹ Mit diesen Worten versetzte er den Globus in Drehung. Das ratternde Geräusch der langsamer werdenden Kugel zerstörte meine Hoffnung, es könne sich um eine Hausbar handeln; die Aussichten auf einen Sherry standen schlecht. ›Eines Nachts arbeitete ich an einem der Schreibtische oben in der naturgeschichtlichen Abteilung. Ich erinnere mich genau, es war in dem Jahr, als der Halleysche Komet die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzte. Seit jeher haben die Menschen Kometen als astrologische Unglücksboten gedeutet, die Missernten, Seuchen, Hungersnöte und Kriege ankündigen; und auch im Jahr 1910 kursierten Weltuntergangsprophezeiungen: Astronomen hatten im Schweif des Kometen eine giftige Blausäureverbindung entdeckt, und man vermutete, dass sie in der Atmosphäre die gewaltigsten Explosionen beim Durchgang der Erde durch den Schweif hervorrufen würde, in deren Verlauf die Welt unweigerlich untergehen würde. Eine wahre Kometenhysterie war die Folge, angeheizt von den Zeitungen, die sogar von Selbstmorden verängstigter Menschen zu berichten wussten. Aber natürlich blieb der Weltuntergang aus.‹ Wieder ließ er sein papierenes Lachen ertönen, dann spannte sich sein Körper, und ein seltsamer Glanz trat in seine Augen. ›Diese Narren begriffen nicht, was man in der Antike schon wusste. Das Wirken der Kometen ist nicht mit den beschränkten Begriffen der Schulweisheit zu erfassen. Sie sind signa fatalia, astrologisch deutbare Zeichen des Makrokosmos, die den Mikrokosmos unmittelbar beeinflussen, Werkzeuge der göttlichen Vorsehung, die unser Leben …‹ Onkel Charles hielt unvermittelt inne. Er hatte sich in Rage geredet, Speicheltropfen sprühten ihm bei jedem Wort aus dem Mund, sein runzliges Gesicht glänzte vor fiebriger Erregung. In mir regte sich erstmals der Verdacht, dass der alte Knabe in seiner Einsamkeit den Verstand verloren hatte, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als einen Drink – weit fort von hier. Mein Gesicht musste meine Sorge um seine geistige Gesundheit gespiegelt haben, denn er lehnte sich zurück, holte tief Luft und schlug einen ruhigeren Ton an. ›Wo war ich? Ach ja, es war kurz nach Mitternacht und der Wind peitschte den Schneeregen gegen die Fenster der Bibliothek. Als ich meinen Schreibtisch verließ, um eine Passage bei Plinius nachzuschlagen, in der er einen Zusammenhang zwischen der Erscheinung eines Kometen und dem Auftreten der Pest in Sparta herstellt, fiel mir ein Buch ins Auge, das halb aus dem Regal herausragte. Zuerst dachte ich, jemand hätte diesen Band nach Gebrauch nachlässig zurückgestellt. Erst später begriff ich, dass dieses verfluchte Buch von mir – und nur von mir – gefunden werden wollte. Stell dir meine Überraschung vor, als ich den Titel auf dem Rücken des Quartbandes las: Leben und Abenteuer des Charles Robert Melmoth, Esq. Mein Name, mein eigener Name in goldgeprägten Lettern auf dem Rücken eines kalbsledernen Einbandes! Mein erster Gedanke war, dass dies die Lebensbeschreibung eines mir unbekannten Vorfahren gleichen Namens sein müsse. Doch als ich das Buch aus dem Regal zog und die knisternden Seiten aus Dünndruckpapier umblätterte, stellte ich zu meiner Bestürzung fest, dass es mein Leben war, mein eigenes Leben, das ein nicht genannter Autor hier beschrieb. Das erste Kapitel schilderte in geraffter Form meine ersten Lebensjahre mit all jenen Begebenheiten, derer ich mich noch gut entsann, wie den kleinen Gemeinheiten deines Vaters. Andere Erinnerungen stellten sich erst beim Lesen ein und wieder andere waren mir gänzlich entfallen. Je weiter ich las, desto detailreicher wurden die Beschreibungen der Gefühle und Gedanken meines erwachenden Bewusstseins, geschrieben aus der Sicht einer Romanfigur in der dritten Person. Schließlich kam ich zu dem Abschnitt, in dem ich mich entschloss, jenem Hinweis bei Plinius nachzugehen, und stattdessen das Buch fand, das ich jetzt in Händen hielt. Ich las, wie mir in diesem Moment mit ganzer Wucht die Bedeutung dieses Funds aufging: Dieses teuflische Buch beschrieb nicht nur mein vergangenes Leben, sondern auch meine Zukunft – eine Zukunft, die ich noch ungeschrieben glaubte. Entsetzt schlug ich das Buch zu. Nachdem ich meine erste Verwirrung gemeistert hatte, wurde ich von Zweifeln und Fragen bestürmt: Sollte der Verlauf meines Lebens, sollten alle Ereignisse, die mir einst widerfahren, alle Entscheidungen, die ich treffen würde, sollte all das bereits von einer höheren Macht, einem allwissenden Autor bestimmt worden sein? Sollte die göttliche Gabe der Willensfreiheit, mit der ich mich ausgestattet glaubte, nichts anderes sein als eine Illusion, ein metaphysischer Scherz? In meine Bestürzung mischte sich Zorn auf den unbekannten Autor, der mich der Freiheit der Wahl beraubt und mir mein künftiges Leben gestohlen hatte. Ich zögerte weiterzulesen. Denn ist Unwissenheit im Hinblick auf das eigene Schicksal nicht ein Segen? Wie sollte ich weiterleben, wenn ich schon jetzt, am Anfang meines Weges, sichere Kenntnis darüber hätte, welche meiner Träume und Hoffnungen sich als eitel erweisen würden? Ebenso wüsste ich um jeden unerwarteten Glücksfall, wie ein Kind, das vor der Zeit seine Weihnachtsgeschenke entdeckt und sich so der Vorfreude beraubt sieht. Auch wäre ich dazu verdammt, jedes vom Schicksal bestimmte Unglück ohnmächtig zu erwarten. Das Leben wäre mir vergällt, ein fatalistisches Warten auf den Tod, um selbst dessen Stunde und Umstände ich wüsste. So zu leben hieße, wie ein Komet auf eine unabänderliche Bahn gezwungen zu sein. Und doch triumphierte die Neugier über Furcht und Zweifel. Ich beschloss, nur wenige Seiten weiterzublättern, um zu sehen, was mir in naher Zukunft widerfahren würde. Träfen diese Ereignisse ein, so würde ich später – mit klarem Kopf – entscheiden, was mit diesem Buch anzufangen sei. Mit zitternden Händen fand ich jene Textstelle, an der ich die Lektüre unterbrochen hatte, und las dort, wie ich eben dies tat. Dann fasste ich einige Seiten und blätterte beherzt um. Dabei spürte ich, wie diese Seiten am Goldschnitt klebten. Sie waren noch nie aufgeschlagen worden. Der Abschnitt beschrieb die Rede meines künftigen Schwiegervaters bei der Verlobungsfeier mit Cynthia Blackwell, einer Cousine zweiten Grades – ein Mädchen, dessen Bekanntschaft ich noch nicht einmal gemacht hatte. Ich erfuhr, wann und wie ich Cynthia kennengelernt hatte: Es würde in diesem Sommer bei einer Teegesellschaft in Brighton geschehen. Als ich so meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt fand, ließ ich den Band fallen und entfloh der Bibliothek, rannte hinaus in die Kälte der Nacht, rannte immer weiter, nur fort von diesem entsetzlichen Buch. An das, was dann geschah, erinnere ich mich nicht mehr; später hieß es, ich hätte in der Dunkelheit die Orientierung verloren und wäre erschöpft in eine Schneewehe gesunken. Die Diener fanden mich, bevor ich an Unterkühlung starb. So trug ich nur leichte Erfrierungen und eine Lungenentzündung davon. Aber in Fieberträumen verfolgte mich wieder und wieder der Gedanke an das Buch. In den klaren Momenten klammerte ich mich an die Hoffnung, das alles könnte nur ein Albtraum gewesen sein. Nach einigen Wochen war ich wiederhergestellt und wagte mich in die Bibliothek zu jener Stelle, an der ich es hatte fallen gelassen.‹ Er deutete dorthin, wo sich das Teleskop auf seinem Stativ erhob. ›Aber das Buch war fort. Ich befragte das Hauspersonal – damals hatten wir noch welches –, doch niemand konnte sich erinnern. Vergeblich durchforschte ich die Regalreihen. Schließlich verfiel ich auf den Gedanken, es könne in die zweite Reihe geschoben worden sein, als jemand ein anderes Buch zurückgestellt hatte, und zog Band für Band aus dem Regal – ohne das Buch zu finden. Ich begann jedes einzelne Regal zu durchsuchen. Es gibt keinen Katalog, aber diese Bibliothek umfasst einige zehntausend Bücher, und so schleppten sich die Wochen dahin. Der Schnee war längst dem zarten Grün des Frühlings gewichen, und in mir war die Überzeugung gereift, dass dieses Buch nicht aus unserer Welt stammen konnte, dass es mit der Annäherung des Kometen erschienen und mit ihm wieder verschwunden war. Eines Tages erreichte uns ein schwarz umrandeter Brief der Familie Blackwell: Cynthia war bei einem Theaterbrand im Londoner Westend ums Leben gekommen. Diese Nachricht stürzte mich in heftigste Verwirrung. Ich zweifelte aber keinen Augenblick daran, dass ihr grausiger Tod auf unerklärliche Weise mit meinem verbotenen Blick in die Zukunft verbunden war. Schwer lastete auf meinem Gewissen die Schuld, die ich auf mich geladen hatte. Und doch mischte sich in die Trauer um das arme Mädchen die Erleichterung darüber, mit dieser frevelhaften Tat den Lauf meines Lebens auf eine andere Bahn gezwungen zu haben, wieder Herr über mein Tun und Lassen zu sein. Meinen Eltern blieb mein Zustand nicht verborgen, sie verordneten mir Luftveränderung. So kam es, dass ich die Sommerfrische tatsächlich in Brighton verbrachte. Ich versuchte ihrem Tod einen Sinn abzuringen, während ich einsam auf der Strandpromenade flanierte oder mich im Gewirr der Gassen zu verlieren hoffte, ohne das Mädchen, dem hier zu begegnen mir das Schicksal bestimmt hatte. Ich hatte den Fluss der Zeit in ein anderes Bett geleitet; der künftige Lauf meines Lebens konnte nun nicht mehr jenem Leben entsprechen, welches das Buch beschrieben haben musste. Und doch ergriff sein verheißungsvoller Titel Besitz von meiner Fantasie; ich verlor mich in Spekulationen darüber, was das für Abenteuer gewesen sein mochten, die jener andere Charles erlebt haben würde. Gewiss, als Kind hatte ich Abenteuerromane verschlungen und mir nicht selten die kolossalsten Gefahren ausgedacht, die ich als Seefahrer, Entdecker oder Eroberer glanzvoll überstehen würde. Ein abenteuerliches Leben, wie es der Buchtitel ankündigte, in Wirklichkeit zu führen, hatte ich weder erstrebt noch erwartet. Nun sah ich mich bestätigt, denn ich hatte begriffen, dass jede Entscheidung nicht nur Folgen für unser eigenes Schicksal hat, sondern auch für das der anderen. Ich hatte den unglücklichen Tod meiner Cousine zu verantworten. Und wer vermag zu sagen, an welchem weiteren, vielleicht noch größeren Unglück ich schuldig geworden bin – oder noch sein würde? Geboten nicht Vernunft und Moral, sich eines Wirkens in der Welt zu enthalten? Um nicht weiter in den Strudel von Verstrickung, Irrtum und Schuld gerissen zu werden, verzichtete ich darauf, mir eine Anstellung zu suchen, eine Familie zu gründen und überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Von deinem Vater und dem Rest der Welt als weltfremder Bücherwurm verlacht, zog ich mich an diesen Ort zurück, bestrebt meinen Mitmenschen Beschwernis weder zu geben noch solche von ihnen zu empfangen. Der Komet würde nach sechsundsiebzig Jahren wiederkehren, und ich hoffte, dieses Ereignis noch zu erleben. Ein ganzes Leben hatte ich Zeit, um auf die Rückkehr von Komet und Buch zu warten.‹ Er machte eine Pause und ließ seinen erloschen wirkenden Blick durch die Bibliothek wandern. ›In meiner Jugend erschienen mir die Bücher wie Schätze auf dem Grund des Meeres, die nur darauf warteten, von mir gehoben zu werden. Inzwischen langweilen sie mich. Was suchen wir in Büchern anderes als uns selbst? Und was hatte mir diese Bibliothek schon zu bieten, wenn ich wusste, dass dieses eine Buch existierte, in dem ich mein anderes, nicht gelebtes Leben finden würde? Nach all den Jahren ist es endlich so weit: In wenigen Tagen wird Halleys Komet sein Perihel, den sonnennächsten Punkt, durchlaufen. Die Bedingungen für die Beobachtung …‹ Dabei deutete er mit dem Kinn in Richtung Teleskop. ›… sind in der südlichen Hemisphäre weitaus günstiger, aber das ist ohne Belang. Mein Interesse gilt nicht dem Kometen, sondern dem, was er im Gefolge hat. Das Buch wird zurückkehren, das weiß ich einfach. Und diesmal werde ich es lesen, werde erfahren, welches Leben mein Alter Ego geführt hatte – jenes Leben, das nicht das meine war.‹
Ich hatte die ganze Zeit über, in er mir diese verschrobene Geschichte erzählt hatte, geschwiegen und hegte nun keinen Zweifel mehr daran, dass der alte Zausel in seiner Einsiedelei ein paar Sparren im Dachstübchen verloren haben musste. Nach dieser Offenbarung wahnhafter Ideen wusste ich nicht, was ich hätte sagen sollen – und so schwieg ich. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und ich erahnte mehr, als dass ich es sah, wie er sich aus seinem Sessel stemmte. Dankbar nahm ich das als Zeichen zum Abgang. Er begleitete mich in die dämmrige Eingangshalle. Wir hatten schon fast die Haustür erreicht, als ich plötzlich seinen Griff an meinem Arm spürte; wortlos wies er auf eines der Ölporträts in schwerem Goldrahmen. Ein Mädchen, fast schon eine junge Frau, mit hochgestecktem, rehbraunem Haar und intelligenten Augen lächelte uns aus der Vergangenheit an; ein spöttischer Zug lag um ihre Mundwinkel. Sie trug ein weißes Kleid, wie man es wohl nach der Jahrhundertwende getragen haben mochte. Mir fiel besonders die italienische Kamee auf, die sie an einem fliederfarbenen Seidenband um den Hals trug. Ich ahnte, dass dies Cynthia Blackwell gewesen sein musste.
Im letzten Zug nach Dorset dachte ich nach über die fixe Idee des Alten von einem Buch, das es nicht geben konnte, und seinen Entschluss, sein Leben wegen einer absurden Buße auf die kleinsten nur denkbaren Bahnen zu begrenzen. Ich empfand Mitleid mit dem alten Kauz, der seine Erdentage auf so kleinmütige Weise verschwendet hatte. Keine zwei Wochen später erhielt ich die Nachricht von seinem Tod.«
Giles hielt in seinem Bericht inne und winkte dem Kellner wegen der Rechnung; doch meine Vermutung, dass dies noch nicht das Ende der Geschichte war, wurde nicht enttäuscht. »Ich habe mit dem Arzt gesprochen, der den Totenschein ausgestellt hat. Plötzlicher Herzstillstand. Bei einem Zweiundneunzigjährigen alles andere als überraschend. Die Haushälterin fand ihn neben seinem Teleskop, dort, wo er das Buch gefunden haben wollte.«
»Und du glaubst jetzt«, hakte ich ungläubig nach, »dass ihm dieses Buch, sozusagen im Schweif des Kometen, wirklich erschienen ist? Dass er gestorben ist, weil ihn das, was er darin gelesen hat, so sehr aufgeregt hat? Giles, ich bitte dich. Das klingt wie eine viktorianische Schauergeschichte. So was kann man heute nicht mehr ernst nehmen, geschweige denn schreiben. Vielleicht als eine Parabel auf das postmoderne Unbehagen des Individuums angesichts einer verwirrenden Vielfalt konkurrierender Lebensentwürfe oder auf die philosophische Frage nach Freiheit oder Determination des menschlichen Willens …«
»Du verstehst nicht«, unterbrach er mich und schüttelte energisch den Kopf. »Laut Totenschein trat der Tod genau in dem Moment ein, als der Halleysche Komet seinen sonnennächsten Punkt überschritten hatte.«
»Zufall«, hielt ich dagegen. »Und auf die Minute genau lässt sich das ohnehin nicht feststellen.«
Giles zuckte mit den Schultern und quirlte den Stiel seines leeren Weinglases zwischen den Fingern. »Vielleicht war es ja gar nicht dieses Buch, das wieder aufgetaucht war«, sagte er zögerlich und blickte in das Glas, als suche er auf dessen Grund die Wahrheit. »Vielleicht ist mit dem Kometen etwas anderes erschienen. Und das ist der Grund, warum ich dir das alles überhaupt erzählt habe. Erinnerst du dich? Das ist der Punkt der Geschichte, über den ich mir nicht im Klaren bin. Der Arzt sagte, die Bibliothek sei erfüllt gewesen von einem unerklärlichen Geruch nach verbrannter menschlicher Haut … Und die Hand meines Onkels hielt etwas umklammert. Es kostete einige Mühe, ihm das zu entwinden, was er im Todeskampf jemandem entrissen haben musste.«
Giles kramte einen kleinen Gegenstand aus der Innentasche seines Tweed-Jacketts hervor und legte ihn in die Mitte des weißen Tischtuchs.
An einem angesengten, fliederfarbenen Seidenband hing eine altmodische Kamee.
Anmerkung:
Der Komet Halley, auch Halleyscher Komet und offiziell 1P/Halley genannt, zählt zu den bekanntesten Kometen. Er ist sehr lichtstark und kehrt im Mittel alle 75,3 Jahre wieder. Zuletzt kam er 1986 in Erdnähe; seine nächste Wiederkehr wurde für das Jahr 2061 berechnet.
Letzte Periheldurchgänge: 20. April 1910, 9. Februar 1986.
Vorhersage: 28. Juli 2061.
Komet 1P/Halley, 8. März 1986 (W. Liller, Easter Island, part of the International Halley Watch (IHW) Large Scale Phenomena Network.)
Dr. Ralf Raabe wuchs in Norddeutschland auf und studierte zunächst Wirtschaft, um nach der Promotion freiberuflich als Personalentwickler für Banken und Industrieunternehmen zu arbeiten. Mitte dreißig erfüllte er sich den lang gehegten Lebenstraum: Er studierte Germanistik.
Mit den Fächern Deutsch und Wirtschaft ging er ins Lehramt. Zu den neuen Aufgaben als Lehrer gehörte die Pressearbeit für seine Schule. Dabei entdeckte er seine Begeisterung fürs Schreiben und entschied sich für ein nebenberufliches Journalismus-Studium. Heute vermittelt er freiberuflich seine Freude am Umgang mit Sprache.
23. Juli 1995
Bethany zog einen Holzkübel Wasser aus dem Brunnen. Staub umwirbelte ihre Ledersandalen. Braune Felder mit ausgetrockneten Maisstengeln, azurblauer Himmel soweit das Auge reichte. Dunkle Wolkenmassen quollen am Horizont empor, versprachen seit Wochen Regen, der jedoch ausblieb. In der Ferne strich eine Windhose über die Äcker, dornige Windhexen vor sich hertreibend, trockenes Geäst, ziellos übers Land streifend. Dieser Teil des Mittleren Westens gehörte zum Maisgürtel der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Mais stand in undurchdringlichen Reihen, bedeckte Tausende von Hektar, nur da und dort durchbrochen von Grünland oder Getreideflächen. Jahre später, ab dem ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, würde der Sojaanbau mit dem Mais konkurrieren, und Schweine- und Rindermast würden das Landschaftsbild prägen.
Im Jahr 1995, als der Komet Hale-Bopp, für das menschliche Auge noch unsichtbar, von Forschern entdeckt wurde, zeichnete sich diese Entwicklung jedoch noch nicht ab.
In jeder Hand einen eisenringbeschlagenen Holzkübel stapfte Bethany wieder in Richtung der Ställe. Das Wasser in den Eimern war trübe, die Böden nicht erkennbar. Noch vier Wochen ohne Regen und der Brunnen würde versiegen. Das Dorf hatte sein Scherflein beigetragen, die Felder bestellt wie ihre Vorväter und inbrünstig gebetet; der Rest lag in Gottes Hand.
Imsy hatte die Dürre während einer ihrer Anfälle vorausgesagt. Bethany zweifelte an Imsys prophetischer Gabe, laut gesagt hätte sie das niemals. Sie sah in Imsy eine fünfzehnjährige Geisteskranke, ein Kind von Eltern mit einem gemeinsamen Stammbaum.
Bethany ging durch die geöffnete Stalltür. Der Geruch von Maissilage, Kuhdung und Stroh wehte ihr entgegen. Ein leichter Luftzug kühlte ihr erhitztes Gesicht. Auf der Diele, dem breiten Gang zwischen dem Vieh, stellte sie die Eimer ab, legte ihre Hände ins Kreuz und beugte sich nach hinten. Sie ließ ihren Kopf zweimal kreisen, um die Verspannungen in den Schultern zu lockern, bevor sie die Eimer wieder anhob.
Auf jeder Seite der Diele dämmerten sechs Kühe vor sich hin, angebunden an senkrecht stehenden Balken. Bei Bethanys Auftauchen hoben sie die schweren Köpfe.
Die Schwarzbunte begann zu brüllen. Bethany stellte einen Eimer vor sie hin, in den das Tier sofort sein Maul versenkte. Als es den Kopf hob, war der Eimer geleert. Wassertropfen glitzerten in den feinen Härchen um ihr Maul. Bis zum nächsten Eimer Wasser würde sich die Schwarzbunte noch gedulden müssen. Den anderen Kübel trug sie zur Mitte der Reihe. Die Goldbraune dankte es ihr mit feuchtem Blick. Bethany kraulte gedankenverloren den Schopf zwischen den Hörnern, während sie die andere Hand auf ihren gewölbten Bauch legte.
Diese trockene Hitze bringt uns alle noch um, dachte sie. Und dieser beständige Wind raubt uns den letzten Nerv. Irgendwann dreht hier jemand durch.
Aus der Küche, die durch eine Tür mit dem Stall verbunden war, hörte sie die Stimmen von Alex, ihrem Mann, und Reverend Gordon. Alex und Bethany waren beide in Hellshelter geboren, der Reverend hatte sie getauft, konfirmiert und vor einem Jahr getraut. Ihr Glaube, der Bestandteile verschiedener konventioneller Religionen vermischt und auf einen neuen Nenner gebracht hatte, nannte sich die »Freikirchler des Heiligen Geistes«.
Gegründet wurde die Kirche von einer Handvoll Siedler, die im Zuge der Landvergabe zur Erweiterung der Eisenbahnstrecke um 1870 hier in Kansas sesshaft geworden war. Damals verließen Tausende von religiösen Anhängern wie Mennoniten, Familien mit amischem Hintergrund und zig anderen Glaubensrichtungen ihre Heimat auf der Suche nach einer besseren Zukunft.
In Hellshelter gab es nur diese eine Kirchengemeinde. Fremde waren als Gäste jederzeit herzlich willkommen, sie wurden mit selbst gebackenem Brot, mariniertem Fleisch vom Grill und selbst gebranntem Maisschnaps bewirtet, jedoch war noch nie jemand von außen zugezogen. Wohin auch? Alle Häuser waren bewohnt, und es gab keinen Grund, neue zu bauen, da alles Alte instand gehalten wurde. Jetzt wuchs die vierte Generation heran, und die Einwohner fühlten sich tief verwurzelt mit dem Boden, der Mais und Getreide lieferte, und mit ihrer Gemeinschaft, die für Liebe und Geborgenheit sorgte. Grundsätzlich sträubte man sich nicht gegen Veränderungen, ging Unbekanntes jedoch mit Bedacht an.
Durch Hellshelter führte lediglich eine Landstraße. Sie endete in einem Wendehammer, der direkt vor dem Gemüsegarten und dem Küchenfenster des Reverends verlief. Links von seinem Haus befand sich das Gemeinschaftshaus für Gottesdienste und andere Zusammenkünfte. Von hier führte eine baumbewachsene Allee zum Gemeindeanger. Eine abfallende Blumenwiese lenkte den Blick auf einen von Trauerweiden umstandenen See, auf dem Enten schnatterten. Im Zuge der Dürre lag sein Ufer brach, auf dem Wasser schwammen braune Algenklumpen. Hier würde in zwei Wochen das Maisfest stattfinden.
Auf halber Strecke wurde die Landstraße durch einen Zebrastreifen nebst einer Ampelanlage geteilt, die für die sichere Querung der Schulkinder sorgen sollte, allerdings noch nie funktioniert hatte. Niemand sah einen Sinn darin, diesen Umstand zu beheben.
Wohnhäuser, Ladenlokale und weitere Gebäude säumten die Straße. Es gab einen Imbiss (Hank), einen Friseursalon (Hanks Tochter und Schwiegersohn, Letzterer konvertierter Amisch), einen Gemischtwarenladen (Henriette, Hanks Frau, die ihn leitete, nannte ihn allerdings »euren Supermarkt«, als würde er allen gehören. »Die Zahnpasta ist in eurem Supermarkt im Angebot!«) sowie einen Kurzwarenladen mit Stoffen, Bändern und Zwirn (Daphne). Eine Apotheke (Frings) und eine Tankstelle (Imsys miteinander verwandte Eltern Ike und Anny) rundeten das Bild ab. Fühlte sich jemand krank, wandte er sich an die Witwe Chloe. Sie bewirtschaftete einen großen Kräutergarten, dem sie Pflanzen für ihre Salben und Tinkturen entnahm. In ernster gesundheitlicher Bedrängnis blieb einem der Weg in die fünfzig Meilen entfernte Stadt Roxbury, fast jeder im Ort verfügte über einen Personenkraftwagen. Von der Landstraße, die durch Hellshelter führte, waren die Farmen nur zwischen den Gebäuden hindurch auszumachen, wenn die Felder abgeerntet oder frisch bestellt waren. Ansonsten versperrte der drei Meter hohe Mais den Blick auf die Gehöfte.
Die Haushalte verfügten über Radios, aus denen jeden Abend um halb acht die Stimme von Reverend Gordon ertönte. Die Radiostation von Hellshelter war der Stolz der Einheimischen. Hier las Ms Dierks aus klassischen Romanen vor, Schulkinder aus ihren Aufsätzen und die Farmer berichteten von Erfolgen oder Problemen bei der Feld- oder Stallarbeit. Alles, was die Gemeinde betraf, wurde auf diesem Sender verkündet oder diskutiert. Selbstverständlich konnten auch andere Radiosender empfangen werden. Doch wem nutzte die Werbung für ein Haarshampoo, das es in »eurem Supermarkt« nicht zu kaufen gab? Aber die Musik, ach ja, die Jugendlichen und ihre Musik. Die Eltern versuchten den Kindern beizeiten klarzumachen, dass die gemeindeeigenen Lieder von Gottes Liebe dem Seelenheil zuträglicher waren als die Hits von Madonna oder Michael Jackson.
Private Fernseher gab es nicht. Wer unbedingt wollte, konnte sich im Schulgebäude, in dem sämtliche Kinder unterrichtet wurden (der eine länger, der andere kürzer) Sendungen anschauen und sich dafür die Schlüssel von Ms Dierks, der Lehrerin, ausleihen (»… aber nicht so lang, um zehn muss ich im Bett sein.«). Bei der Schlüsselrückgabe fragte Ms Dierks den Fernsehsüchtigen nach Strich und Faden über die Sendungen aus und ob »man etwas daraus gelernt habe«, wobei sie über ihre Brillengläser hinweg den Vergnügungssüchtigen aufmerksam von oben bis unten musterte. Davon abgesehen: Wer einmal einen Fernsehabend auf einem Holzstuhl mit rechtwinkliger Lehne vor einem Pult (»… aber bitte weder essen noch trinken im Klassenzimmer!«) verbracht hatte, fand schnell heraus, dass der Spaßfaktor gegen null tendierte, zumal immer nur einer allein den Schlüssel bekam. So fristete der Fernseher ein weithin inaktives Dasein.
Die Stimme des Reverends klang gleichmäßig und ruhig. Jeden Sonntag begann Reverend Gordon nach dem Mittagessen, das ihm die Witwe Chloe zubereitete, seine Runde über die landwirtschaftlichen Betriebe, erkundigte sich nach Neuigkeiten, notierte Informationen für die Radiosendungen, erteilte Rat und nach einem gemeinsamen Gebet Gottes Segen für die folgende Woche.
Deshalb blieb Bethany sonntags länger im Stall als Alex. Sie melkten gemeinsam, danach ging Alex duschen und sich umziehen, während Bethany neben den Rindern und Kälbern im Nebengebäude auch die Kühe auf der Diele tränkte und fütterte, was sonst Alex bewerkstelligte.
Noch sechs gefüllte Eimer, dann wären die Tiere versorgt. Es wurde Zeit, dass der Graben, aus dem die Viehtränken gespeist wurden, wieder Wasser führte. Das Wasserholen aus dem Brunnen und das Eimerschleppen wurden bei diesen Temperaturen und durch ihre Schwangerschaft zur Qual. Ende August würde endlich ihr Baby geboren. Das Kleine wärmte Bethany von innen wie ein verschluckter Bollerofen.
Sie werden sich über das Maisfest unterhalten, mutmaßte Bethany. Der Mais bot in diesem Jahr einen verheerenden Anblick. Ein Großteil der Saat war nicht aufgegangen, die anderen Pflanzen kümmerten in der gleißenden Sonne dahin mit verbrannten Blättern und einer Höhe unter einem Meter. Die Farmer hatten lange überlegt, ob sich eine Nachsaat lohne. Ähnlich wie im letzten Jahr. Da hatte der Himmel Ende Juni doch noch ein Einsehen gehabt und seine Schleusen geöffnet. Trotzdem war der Ertrag sehr bescheiden ausgefallen. Kleine, milchzahngroße Körner besetzten nur die Hälfte der Kolben. Die Blätter waren zum größten Teil verwelkt, strohig. Doch die Feuchtigkeit reichte immerhin zum Silieren des Erntegutes, sodass das Futter über den Winter genügte. Die Weizenflächen hatte man im letzten Jahr in der Hoffnung auf Regen im Mai neu bestellt. Gott sei Dank war die Rechnung aufgegangen. Mit dem Verkauf von Weizen- und Milchprodukten hielt sich die Gemeinde derzeit jedoch mehr schlecht als recht über Wasser.
Aber wir sind dankbar für das, was der Herr uns gibt. Nur seiner Gnade verdanken wir unser tägliches Brot.
In diesem Jahr hatte die Dürre erneut zugeschlagen. Die Weidegräser behielten ihre bräunliche Färbung, die Feuchtigkeit des Morgentaues genügte ihnen nicht zum Wachsen. Und der Boden enthielt kein Wasser mehr, das er den Pflanzen angedeihen lassen konnte.
Bei jedem Schritt flogen kleine Staubwölkchen auf. Passierte ein Auto, hing seine Staubfahne minutenlang in der dort windstillen, gleißenden Hitze vor Hanks Imbiss.
Heftige Regenfälle brachten nur kurzfristige Erleichterung, es fehlte ein gleichmäßiger Landregen. Begierig sogen die Pflanzen das Wasser in sich auf, zögernd ergrünten die Flächen.
Doch mit der Wucht eines Hurrikans waren Anfang Juni Heuschrecken über die Maisflächen hergefallen.
Auch diese Plage hatte Imsy prophezeit.
Die Wolken, die den lang ersehnten vermeintlichen Regen bringen sollten, stellten sich als eine noch größere Katastrophe als die Dürre heraus. Ausladende Schwärme sirrten in der Luft, umschwirrten die Köpfe der hilflos starrenden Farmer. Was die fliegenden Insekten nicht schafften, erledigte ihre Brut, die sich fokussiert und gefräßig ihrer Eihülle entledigte. Kein Zipfel Grün war vor ihnen sicher. Jeder Keim, ob Gras oder Kraut, fiel ihren Mandibeln zum Opfer. Wie Zangen bohrten sich ihre Mundwerkzeuge in die Pflanzenteile, fressend und trinkend zugleich, um sich unaufhaltsam vorwärts zu bewegen. Nach sich zogen sie eine breite Schneise, die den Boden der Erosion preisgab. Die Kinder versuchten die Grashüpfer zu verscheuchen, indem sie Schöpfkellen auf Töpfe schlugen, woraufhin sich ein Teil des Schwarmes erhob, um sich über das benachbarte Feld herzumachen. Es erwies sich als nutzloses Unterfangen, das der Verbreitung dieser Plagegeister nur Vorschub gewährte. Pestizide einzusetzen untersagte ihr Glaube, der Leben und Tod in Gottes Hand legte. Daher verbot sich auch das Anzünden oder Absammeln dieser Geschöpfe, die doch ebenfalls Lebewesen aus der Hand Gottes waren, wie Reverend Gordon ihnen gebetsmühlenartig versicherte, wenn eines seiner Schäfchen Zweifel äußerte.
Jetzt war es Ende Juli, und die Menschen im Dorf fragten sich, wie sie das Vieh durch den Herbst und Winter bringen sollten. Die ältesten Tiere wurden auf einigen Höfen bereits geschlachtet.
Ein Schatten fiel auf den Betonboden. Bethany drehte sich herum, folgte ihm mit den Augen. Im Gegenlicht erkannte sie die Silhouette Imsys. Bethanys Pupillen passten sich dem einfallenden Sonnenlicht nach kurzer Zeit an.
Imsy trug einen naturfarbenen Überwurf aus Leinen, der aus einem gerade geschnittenen Rücken- und Vorderteil genäht worden war. Um ihre Taille wand sich ein aus Maisstroh geflochtener Gürtel. An seinen Enden hingen – was? Behaarte Lederbeutel? Fellfetzen? Knochen? Auch bei genauerem Hinschauen konnte Bethany die Anhängsel nicht klar definieren. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit jetzt auf Imsy, und die Frage nach dem seltsamen Gürtelschmuck verschwand in ihrem Unterbewusstsein.
Imsys Teint war milchweiß, hellblonde Wimpern umrandeten wässrig blaue, mandelförmige Augen in einem runden Gesicht. Ihre Nasenkuppe verlief flach, verschmolz mit dem Gesicht, als sei sie aus Wachs gegossen. Sie erinnerte an die Schnauze eines Mopses. Die Nase verlieh Imsy etwas Niedliches, Hilfloses, was in irritierendem Kontrast zu der Kälte in ihren Augen stand. Eine klare Kinnlinienkontur war nicht erkennbar über dem kurzen Hals. Sie war von gedrungener Gestalt, wirkte ein wenig aufgedunsen. Bethany hatte jedoch schon mehrfach erlebt, wie stark Imsy war. Die Wassereimer zu schleppen wäre für sie ein Klacks. Körperliche Arbeit machte ihr nichts aus, nur mit dem Denken war das so eine Sache. Manchmal saß Imsy stundenlang auf einem steinernen Findling, den das Dorf den Gebetsstein nannte. Er ragte einen halben Meter über die Wasseroberfläche des Sees. Hier sprachen die Stimmen zu ihr, denen sie mit vorgeschobenem Unterkiefer und nach oben gerichtetem Blick lauschte. Die Dorfbewohner zischten sich dann zu, dass Imsy wieder »auf dem Stein sitzt«. Jeder wusste, dass sie von dort neue Prophezeiungen mitbrächte, die sie zuerst dem Reverend erzählen würde. Über den Äther schickte er diese in die Haushalte, in denen die Leute mit gefalteten Händen den Atem anhielten und auf – endlich mal – positive Neuigkeiten hofften. Zu oft waren sie in der Vergangenheit enttäuscht worden.
Imsy trug weinrot-dunkelblau geringelte Strumpfhosen zu schlichten Holzklumpen. Mit gesenktem Kopf hielt sie ihren Blick starr auf Bethany gerichtet, die Hände auf dem Rücken.
Der Luftzug, der durch den Rundbogen der zweiflügeligen Stalltür drang und den Bethany noch vor ein paar Minuten als Erleichterung empfunden hatte, ließ sie jetzt erzittern. Ihr Baby bewegte sich. Es drehte sich unruhig, trat, strampelte. Bethany faltete ihre Hände über ihrem Bauch, begegnete ihrem Ungeborenen mit einem beruhigenden Streicheln.
»Hallo Imsy«, sagte Bethany leichthin, ein mulmiges Gefühl verdrängend. »Willst du mir helfen Wasser schleppen? Es ist so heiß.«
Langsam drehte Imsy den Kopf von links nach rechts, ohne ihren Blick von Bethany zu lösen.
»Also bist du nicht gekommen, um mir zu helfen. Schade. Bist du mit dem Fahrrad hier?«
Wieder schüttelte Imsy bedachtsam den Kopf.
Sie machte zwei langsame Schritte auf Bethany zu, grinste mit schiefem Mund, als sie ihre zur Faust geballte rechte Hand hinter dem Rücken hervorholte und in Bethanys Richtung streckte.
Ihre Hand öffnete sich.
Bethany beugte sich darüber, um im Dämmerlicht besser erkennen zu können, was Imsy ihr zeigen wollte. Zuerst dachte sie, dem Mädchen fehle der Zeigefinger. Dann sah sie, dass er angewinkelt war.
In der Hand des Mädchens lag ein schwarzer Hahnenkopf, der rote Kamm und die gelben Augen stachen grell aus dem schwarzen Gefieder hervor.
Langsam hob Imsy den Zeigefinger, auf dem der Hahnenkopf steckte, sodass auch dieser Bethany anstarrte.
Angewidert prallte die Schwangere zurück.
Mit einer raschen Bewegung kam die andere Hand zum Vorschein. Der schwarz befiederte Vogelkadaver schien in Bethanys Richtung zu flattern. Imsy hielt ihn an einem Flügel, der andere hing schlaff von dem toten Tier herab. Blut tropfte aus dem offenen Hahnenhals auf den Boden. Imsy schlug den Hahn gegen Bethanys gewölbten Bauch. Gutturale Laute drangen aus ihrem Mund. Speichelbläschen sammelten sich in ihren Mundwinkeln, als sie weiterhin unablässig mit dem Torso auf Bethany einhieb.
Ohne zu überlegen, hob Bethany die Hand und schlug ihr heftig ins Gesicht.
Imsy öffnete langsam den Mund.
Ja, damit hast du nicht gerechnet, dachte Bethany.
Doch Imsys Mund verzog sich zu einem niederträchtigen Grinsen. Sie holte zum letzten Schlag aus, riss ihren Arm mit dem kopflosen Federvieh nach vorn und schleuderte ihn Bethany ins Gesicht, viel zu schnell, als dass diese hätte ausweichen können.
Plötzlich verkrümmten sich Imsys Gliedmaße. Ihre Fingerspitzen schienen ihre Schlüsselbeine erkunden zu wollen, ihr Rumpf beugte sich. Sie knallte auf den Betonboden.
Bethany schrie auf und fuhr erschrocken zurück. Sie versuchte sich zu fassen und kniete sich neben das krampfende Mädchen, das in einem epileptischen Anfall den Kopf nach hinten überdehnte, wodurch der Mund offen stand. Seine gurgelnden Laute bildeten Speichelschaum in seinem Rachen, der sich bis in die Mundhöhle wölbte und sich in den Mundwinkeln verfing. Er schien den gesamten Schädel auszufüllen, quoll aus Imsys Augenwinkeln, benetzte die wasserblaue Iris, bis sie seine weiße Farbe annahm. Sie schien zu erblinden.