Ein Roman über Verkehr
aus dem Norwegischen
von Sabine Gisin
verlag die brotsuppe
Maud und Aud
DER AUTOR
DIE ÜBERSETZERIN
Der Autofahrer unterscheidet sich vom Menschen im Naturzustand mehr als dieser von jedem Insekt.
Today it may be the writer who drives to the sacrifice – tomorrow it may be the reader.
LEISE IN DEN FÜNFTEN GANG: Das Motorbrummen wird ruhiger, der fossile Treibstoff brennt auf Sparflamme, 100, näher an nichts geht nicht.
Während die Stadt näherkommt, wächst die Straße und wird breiter. Bei kaum nennenswertem Verkehr kann das Auto sich frei auf dem Asphaltband bewegen, das sich über die Landschaft strafft, in sie hineinschneidet, als quellte die Erde über ihren Leibgurt hinaus. Früher am Abend sind Autos in nicht allzu argen Fluten in die Stadt hineingefahren und aus ihr hinaus; jetzt müssen nur noch wenige irgendwohin. Jetzt hat fast niemand mehr irgendwo zu sein. Die ganze Verkehrsüberwachung ist, mit Ausnahme der düsteren Umrisse der da und dort stationierten Blitzgeräte – wo rote Pupillen plötzlich aufflackern können –, eingestellt.
Es hat eingedunkelt, es ist dunkel geworden. Doch die Dunkelheit verfügt, näher in Augenschein genommen, über Abstufungen – in Augenschein genommen ist die Dunkelheit gar nicht so dunkel. Die Tannenwipfel formen eine Zackenborde gegen den fast blauen, nein blauschwarzen Nachthimmel. Unter der Vegetation wirkt es, als stünden die kalkbleichen Böschungen noch im Schatten einer anderen Zeit. Mit der es diese Zeit mit ihren wechselnden, hektischen Lichtverhältnissen nicht aufnehmen kann.
Das Auto gleitet über das Band, durch das Land.
Das stetige Brummen lässt an Schlaf denken, an andere Motoren, Kühlschränke und stille Stunden, unbekannte Stunden. Ein solches Geräusch wird mit der Zeit vergessen, verschwindet es aber, wie etwa ein Tuch wegflattern kann, öffnet es eine andere, größere Stille.
Soll es sich nicht bemerkbar machen, muss das Brummen stetig sein und klingen, wie es immer klingt; das stetige Brummen soll den Innenraum füllen, durch das Rückgrat vibrieren und sich in einem Dunkel aus weichem Gewebe auflösen. Dann wirkt es ebenso natürlich wie der Atem, ja, beinahe an ihn gekoppelt, der aus diesem anderen, inneren Dunkel ein- und ausströmt, das man auch nicht betrachten kann, ohne dass es sich auflöste. Zwischen diesen Dunkeln, beide ein wenig feucht, liegt eine trockene Zone, das dem Auto eigene Klima.
Eine Stunde ist vergangen, seit das Auto startete, die Bedingungen fürs Vorankommen haben sich unterwegs verbessert. In den ersten, flackernden Minuten fegte einzig ein Lichtkegel über den Kiesweg, während die Karosserie rüttelte; ab und zu schnellten unten Steine auf, ein Geräusch, als würde jemand mitten in der Nacht von einem wilden Gedanken geweckt. Der Lichtkegel manövrierte durch die größten Löcher in der Fahrbahn, hielt aber an für einen Elch, der, einem historischen Einsprengsel gleich, stehenblieb, ein altes, hier in den Wäldern umherflackerndes Bild, bevor er langsam näherkam und an der Motorhaube schnupperte; ein großer grauer Kopf, graues Licht in den Augen. Eine andere Organisation der Welt. Ein Raumschiff.
Auch das Auto gehört, für das Tier, zu einer anderen Ordnung. Es bedeutet eine Gefahr, die das genetische System, die übergeordnete Intelligenz der Spezies, noch nicht erfolgreich hat registrieren oder einprogrammieren können.
Wer lernt, stirbt. Wer überlebt, hat nicht verstanden.
Eine Unruhe, ein Umherwerfen im Schlaf.
Dann ist alles wie zuvor.
Danach riss sich die Straße zusammen, zog einen Asphaltmantel über, verdeckte ihre gröbsten Gebrechen, wollte quasi raus unter die Leute. Schon bald werden unter dem Nachthimmel Häusergruppen sichtbar, zu kleinen Mustern geordnet, auf Hügelkuppen, an Böschungen und Südseiten drapiert. Je näher an der Stadt, desto größer sind diese Konglomerate, als bereitete sich die Stadt vor, bliese sich auf. Und drinnen, in farblich abgestimmten Zwei- und Vierpersonenheimen in kurzen Straßen benannt nach Blumen und Bäumen, die zwischen den Häusern und in den dahinterliegenden Wäldern in jedem wundersamen Frühling blühen und schwellende Knospen treiben, in diesen Häusern gibt es stabile, vernünftige Räume mit Funktionen und Lösungen, die Leben nach den Vorgaben ihrer Bewohner und deren Beschaffenheit ermöglichen. Jedes Bedürfnis, jede Funktion hat einen eigenen Raum, das ist praktisch und hygienisch; Wasser und Abläufe bauen den Wirtsorganismus aus, Sensoren erweitern die Anwesenheit. Lichter schalten sich ein, Herdplatten schalten sich aus. Die Temperatur sinkt in der Nacht um fünf Grad. Dein Heim ist nüchtern und auf dein Leben abgestimmt.
Von allen Räumen hat nur das Auto einen eigenen Raum, einen Carport.
Der Autoraum sammelt, was das Haus zerteilt. Das Auto bietet dem Körper einen Weg aus dem Körper. Das Auto ist sowohl eine Atmosphäre als auch ein Fahrzeug, das sich darin bewegen kann.
Steig in mich ein, sagt das Auto.
Reise in mir.
Von oben gesehen kann man diese Ansiedlung als irdisches, etwas eckiges Sternzeichen begreifen (Krabbe, Kratzspuren, Swastika). Aber aus dem Innern der Räume sieht die Welt anders aus, von hier aus ist die Stadt auch nicht die zunehmende Lichtkonzentration, an dessen äußerstem Rand dieses Zeichen liegt. Nein, von hier aus ist die Stadt kein Sternhaufen, sondern ein bestimmter Abstand, eine praktische Größe, eine Frage von Verkehr und Zeit. Eine halbe Stunde hin und her, hin oder her, an einem oft nur mit Mühe in vierundzwanzig Stunden unterzubringenden Tag. Hier leben die Leute ihre Leben, hier runden sie ihren Tag ab, längst schläft auch die Größte, aber vielleicht ist die Kleinste wieder aufgewacht und schaut aus dem oberen Stockbett durchs Fenster, von dort sieht sie das Auto auf der großen Straße, das vorbeifahrende Scheinwerferpaar, leuchtend und doch leerer als der Abend rundum, sozusagen eingesperrt im eigenen Licht?
Farbe und Automarke schreibt sie nicht mehr auf. Das war im letzten Sommer, jetzt ist sie zu alt und zu dieser Tageszeit wäre es sowieso unmöglich. Etwas verschiebt sich in den Eltern, wenn die Kinder ihre Gewohnheiten ändern.
Das Auto schert über die Straße, die sich verzweigt und das Auto seitlich weggeleitet. Es landet auf einem offenen, öden, in weißes Licht getauchten Platz, hält an bei vier Tanks à 20.000 Liter Treibstoff, hinaufgesaugt vom Meeresboden, draußen im offenen Meer aus nach altnordischen Göttern benannten Feldern; messerfrische, steintote Götter, Eintagsfliegengötter, wie die Jugendlichen, die man auf anderen, bemannten Stationen findet; in Dienst genommen auf einem Reservoir von Millionen Jahren, organisches Material, von der Zeit zu diesem Fluidum verarbeitet, das jetzt, raffiniert und prozessiert, ein letztes Mal unter der Asphaltkruste hervorgepumpt wird, an einer Tanksäule am Rande von Oslo, in ein Auto, das diese Zufuhr braucht, um kehrtmachen und dorthin zurückfahren zu können, wo es herkam. Ein schwarzer Mercedes.
Jetzt mit vollem Tank.
Der Motor kann wieder starten.
Dann ist es derselbe ruhige Brand.
ES IST EINE FRISCH GEWALZTE ASPHALTSTRASSE, genauer gesagt: Es ist ein frisch gewalzter Asphaltstreifen, der die halbe Straße ausmacht. Die andere Hälfte ist alt und grau und liegt einige Zentimeter tiefer im Gelände, darauf fahren die Autos in kleinen Kolonnen vorbei, die sich zuvor hinter den transportablen und provisorischen Ampeln als Schlangen gebildet haben.
Die Straßenarbeiter sind heimgefahren, der Asphalt ist neu und dunstet. Die fette Masse ist immer noch warm unter den Fußsohlen des Mädchens, das hinaus auf das schwarze Band gegangen ist und nun leichte Spuren hinterlässt. Bei jedem Schritt zirpt es, wenn der klebrige Stoff nachgibt und festhält, nachgibt und festhält. Es erinnert sie ans Mandelkuchenessen. Sie hat Lust, die Straße zu essen.
Als sie sich hinlegt und einen Engel machen will, wird die Kontaktfläche zu groß. Die Oberfläche nimmt den Abdruck ihres Körpers nicht an und die Armbewegungen – die Flügelschläge – haben zu wenig Bodenhaftung. Erst als sie wieder aufsteht, entsteht eine kleine Kuhle unter dem Hintern. Und zwischen Fäden und Streifen des dünnen Stoffs, die vom Rücken des Kleids abgerissen sind, lässt sich, wenn man nachsieht, erahnen, dass der neuen Straße ihr erster Unfall geschehen ist, und dass der Asphalt auch das Blumenmuster angenommen hat.
RUTH MERETE BORE IST TOT, steht da.
Sollte es wirklich Anzeige heißen, Todesanzeige. Ist dieses Wort nicht etwas abgenutzt, denkt einer.
Ruth Bore, Ruth Bore. Die schüchterne Brünette aus der Kantinenschlange, denkt ein anderer und sieht dabei einen dünnen, grauen Wollpulli, Brille; einen leicht über den Wasserhahn gebeugten Rücken, vorsichtig mit dem Strahl. Ganz im Gegenteil, Korrektur: Hart schlägt das Wasser ins Glas. Winzig kleine Tropfen hängen wie Tau in den Wollfäden.
Das ist der Unfall, von dem ich gehört habe, denkt eine mit einem Anflug von Heiterkeit, den sie nicht unterdrücken kann, der daher rührt, etwas zu wissen, das erst jetzt an andere verbreitet wird.
Jemand erinnert eine Nacht mit zwei Körpern, die nebeneinander lagen, zwei nackten Körpern, die die Wärme des anderen spürten, ohne sich wirklich nahezukommen, und jetzt, wo er das Kreuz über Ruths Namen sieht, spürt er wieder das ungebrochene Siegel und die Gewissheit jener Nacht:
Das ist nicht das Leben, das ich leben will.
Ach, das ist doch die, die jeden Samstag eine Tüte Twist kauft, welchen Tag haben wir heute?
Seinen Namen hat sie nicht angenommen. Immer hat sie etwas zurückbehalten.
Sie, die gemessen hat, um wie viel der Meeresboden unter den Plattformen absank.
Fünfter Stock, Nordflügel, dritte Tür links. Blaue Landkarte. Grüner Spannteppich. Zentimeter pro Jahr.
Ausgerechnet sie, die nach Dänemark unterwegs waren, ein schrecklicher Gedanke, als wäre das das Schlimmste, die geplatzte Ferienreise. Aber die Mädchen hatten sich so gefreut. Die ersten Familienautoferien, sagte Jon.
Mit ihr habe ich gespielt, Ruth, so hieß sie doch, zwei oder drei Sommer lang, die Sommersprossen und die Zöpfe, das einbrechende morsche Holz, die Stille während des Falls, und dann, da musste ich gerade wieder erwacht sein, die Kälte am Rücken, fauliger Geruch und Feuchtigkeit, ihre verängstigte, in ihr eigenes Echo verfangene Stimme, dort, weit oben … Ruth … oder hieß sie Kristine?
Das ist doch die bei Phillips Petroleum, die zurückhaltende Geologin, aber was für ein Temperament sie hatte, damals, wie war das nochmal, diese Sitzung, jedenfalls stand sie auf, knallrot im Gesicht, es ging um einen Bericht, den man bei der Entscheidung nicht berücksichtigt hatte, sie fühlte sich übergangen, irgendetwas war da.
Ich holte deinen Körper aus dem Wrack, ich kannte dich nicht, aber ich legte dich auf den Boden und sammelte dich ein. Ich half, deine Töchter freizubekommen, und ich hoffe, sie erleben eines Tages etwas, das so gut ist, wie das hier schlecht. So richtig, wie das hier falsch.
An ihr blieb kein Spitzname hängen, sie konnte nur Ruth sein. War für weichere Namen quasi zu steif.
Der Mann und die Töchter liegen im Spital, hängen an dünnen Lebensfäden, an dünnen Todesfäden. Manche reißen und manche werden gezwirbelt. Alle Fäden sind schwarz.
Ist das nicht der Mann, den ich letztes Jahr in der Zeitung gesehen habe, der gerade fertiggestellte Straßenabschnitt. Jon, doch, doch.
Sie war ganz sicher noch nicht durch. Niemand kennt die Stunde, das stimmt. Aber ihre Zeit war noch nicht gekommen.
So jung, 1981 minus 1949, aber ich muss aufhören, solche Sachen zu lesen, aufhören, diese Seiten aufzuschlagen und aufhören, wegen Menschen, die ich nie gekannt habe, feuchte Augen zu bekommen. Das ist unwürdig.
Er hat es offenbar geschafft, vorläufig jedenfalls, wer sagte nochmal, das sei unwahrscheinlich? Fuhr direkt von der Straße ab, direkt in den Fels. Und die Töchter, die Zwillinge, was für ein Leben erwartet die jetzt?
Bore. Kannte ich nicht mal einen, der so hieß? Der eine Importfirma in Lillestrøm hatte? Dem ein Drittel des Trabers Slogum Tor gehörte? Etwas nervöser Typ. Große Hände. Seltsam, wie gut man sich an manche erinnert. Habe ihn einmal getroffen. Hätte ihn immer wiedererkannt, überall.
Entrissen, so etwas können die gut schreiben, doch Abschied braucht Zeit. Man muss sich an die Gedanken gewöhnen, die keine Antwort bekommen, warten, bis der Mangel sie zersetzt.
Die vom Volleyballtraining, so nah am Netz und nie darin. Der Blick von der anderen Seite, der mich nie zu sehen schien. Als wäre das Netz wirklich eine Grenze. Gut im Blocken.
Ich schäle mich.
Ich schäle mich frei von den Wagen
Werfe Schale um Schale von mir,
Wagen um Wagen.
Merke, indem ich mich schäle,
werfe ich von mir auch Fleisch und Blut.
Werfe viel Menschliches von mir.
Der Mensch und seine Wagen folgen einander.
Oft stirbt er in seiner Rüstung.
Oft erinnert man ihn
nur, wie er in seiner Rüstung war
mit dem Wagen rundum.
DIE STRASSE WÄCHST, DIE STRASSE WEITET SICH und geht dabei in die Kurve, Jon Berre atmet: Der Atem ist in ihm, der Atem ist ein Körper im Körper, der Atem atmet. Jon Berre öffnet die Augen und starrt auf den Felsen, durch Glas, aber dort, im Scheibenglas, hängen Ruths Augen, in der Brille. Im Glas im Glas. Sie schaut auf denselben Felsen wie er, er sucht ihren Blick, sie kann den seinen nicht suchen. Der Stein ist hermetisch, grauweiß, knotig. Die Frontscheibe und die Brille wollen der Straße dahin folgen, wo sie sich weitet, da wird die Sicht versperrt und die Straße kippt. Glas splittert. Das Blut zirkuliert außerhalb des Körpers. Jemand schreit, grübelnd, quasi so, als wollte er sich selbst an das Schreien erinnern. Nein, wie ein Kind schreit, wenn es nicht mehr weiß, was es sonst tun kann, wenn der Schmerz abgeklungen ist. Das Blut schlängelt achtlos dahin und ist aus ihm hinausgewachsen, deutlich sieht er die Arterien, unter denen er wie eine Ausbeulung hängt. Eine Hand streckt sich aus seinem Bauch und hält etwas Davongleitendes; es schlägt mit einer Schwanzflosse, als es verschwindet. Er kann vermutlich sehen und hören, wagt aber nicht mehr, sicher zu sein und zwingt die Augen, die Augen zu öffnen, die Ohren, die Ohren zu öffnen: Das Zimmer, in dem er liegt, löst sich auf und ein anderes erscheint, auch hier liegt er, aber der eintönige Schrei kommt aus einem anderen Raum. Er öffnet den Mund, schreit und hört nichts. Vielleicht hat er gar nichts geöffnet und hat das gehört. Dass er nicht an denselben Stellen anfängt und aufhört wie früher, versteht sich, ein äußerer Kreislauf hat sich an seinen gekoppelt, mit all diesem Blut, Plasmadepot in Plastikdämmen, Ruths Blick sitzt in jeder Glasscherbe und fixiert weiterhin den Stein. Die Scherben zirkulieren mit dem Blut, leiten ihren Blick durch ihn. Das Blut fühlt sich hart an, als wäre es dabei, sich in einem gesprengten Adernetz festzufahren. Immer wieder will er das Steuer an sich und die Schläuche, die ihm den scharfen Saft einführen, wegreißen, bekommt sie aber nicht zu fassen. Sie geben ihm eine weitere Spritze und sagen, er müsse zu seinem eigenen Besten Bettruhe halten. Ohne dieses Außerkörperliche könne er jetzt keinesfalls sein.
AUD UND MAUD SITZEN AUF DER RÜCKBANK, als der Betriebschef die Kontrolle verliert, als die Familie aus dem Alltag und von der Fahrbahn gerissen wird und eine unter ihnen, Ruth Bore, von einer Sekunde auf die nächste fertig ist mit allem, was sie ausgemacht hat. Der Fels tat nichts dafür oder zuwider, der Fels stand, wo er stand, und stoppte das schnelle Fleisch, das umherirrende Fleisch, stoppte die Reise des kühnen Fleischs, und von allem, was Ruth gewesen war, blieb fast nur das Gesicht intakt, eine Scheibe, zitternd auf einer beweglichen Schicht aus Fleischfladen und Splittern, mit halboffenem Mund, als hätte sie sich etwas allzu Unbekanntem und Plötzlichem vorstellen wollen. Zu schwarz, um zu sein. Zu hart.
Etwa fünf Minuten davor, aber schon tief in einer anderen Zeit, sehen die Mädchen ihre lebende Mutter zum letzten Mal, dieses Gesicht, das ihre lebende Mutter ist. Fünf Minuten in einer anderen Zeit dreht sich die Mutter zu ihnen um, das Gesicht hat kaum Platz für sich selbst, der Mund ist verzogen, als sie ihn öffnet und etwas sagt, die Brille ein wenig auf der Nase verrutscht, sie muss mit einer Hand danach greifen und sie richten. Es sind diese Bewegungen, dieser Ausdruck, die es in die neue Zeit schaffen, nachdem sich das Wenige, das sie sagen wollte, aufgelöst hat oder einfach registriert wurde, so, wie man einen Druck von einer atm registriert, die Luft, die man atmet, das ganz Gewöhnliche. Die Bedingungen für das Leben, wie wir es kennen.
Der Vater darf sich nur mit kleinstmöglichem Spielraum und auf einem Bein weiter durchs Leben schleppen. Und doch ist da, in alldem, ein Wunder geschehen, hören sie;
das Wunder ist, dass es ihnen gelang, aus der zerdrückten Metallplatte, dem geschmolzenen Plastik, dem Geruch nach verbranntem Fleisch und Gummi zwei ziemlich zusammenhängende, zu hundert Prozent lebende Mädchen auszusortieren. Eine der Lebenden ist Aud, hundert Prozent ist viel, versteht sie. Sie ist, trotz der Brüche, immer noch ein Mädchen; die Arme wachsen immer noch aus den Schultern, die Beine beginnen immer noch an den Hüften, obwohl sie einige Schrauben und Schienen einsetzten, die ihr helfen sollen, zu der zusammenzuwachsen, die sie war, und dann zu der, die sie werden sollte. Täglich wird sie justiert und gepflegt und protokolliert, ihr Blut wird getestet. Ab und zu testen sie auch Mauds Blut, um zu sehen, ob es noch gleich ist.
Vom Kopf hat sie Aussicht auf all das. Nur den tiefen Riss in der rechten Gesichtshälfte, von der Schläfe bis zum Mundwinkel, kann sie nicht sehen, aber das Pochen in der Backe kann sie spüren, wie das Blut auf Hochtouren arbeitet, kann sie spüren, und wie sich die Finger danach sehnen, am Schorf zu pulen, der sich unter dem Verband bildet, das kann sie auch spüren. In den Fingern sitzen schon sieben Sommer, Schorfsommer, Hülsensommer, Grassommer in Grün und Rot. Sieben Pul- und Ablösesommer.
Maud hat keinen Riss im Gesicht. Maud hat nur ein wenig Kopfweh und sonst keine Verletzungen. Maud sieht immer noch aus wie sie selbst, außerdem sieht sie aus wie Aud, so, wie Aud früher aussah, es jetzt aber nicht mehr tut.
Ihr Gesicht ist jetzt bei Maud. Ihrer beider Gesicht.
Wenn Aud mit den Fingern über den Verband fährt, kratzt sich Maud an der gleichen Wange, das hilft. Wenn sich Maud mit dem Rücken an die Heizung vor dem Fenster stellt, spürt auch Aud, wie die Haut unter dem dünnen Stoff zu schmerzen beginnt und rutscht im Bett zur Seite.
Aber wenn Maud vor dem Spiegel beim Waschbecken steht, schließt Aud die Augen.
Die Erwachsenen wissen auch nicht recht, was sie sehen, und brauchen den Blick auf neue Art. Hjalmar und Karry machen das, die Lehrer, die Aud besuchen, machen es, nicht nur, weil sie anders aussieht, sondern weil die Mädchen etwas sind, was sie noch nie gewesen sind, nicht so. Zuvor haben sie gelebt, jetzt haben sie überlebt. Jetzt sind sie, auf einmal, am Leben.
Im Fernseher auf dem Fernsehtisch winken zwei Frischverheiratete Aud und Maud zu. Es sind Tscharls und Dai-Änna, Prinz und Prinzessin von Oeïls, oder heißt es Weïls? Sie lächeln und winken, lächeln und winken, aus einem Auto ohne Dach. Und es ist kaum zu fassen, wie langsam sich dieses Auto bewegt. Man kann sich fragen, wozu man ein Auto braucht, wenn es kein Dach hat und so langsam fahren muss. Viele Leute umringen es, wollen schauen, drängen heran. Maud und Aud rücken im Bett näher zusammen. Das Auto schützt wohl ein wenig vor all diesen Leuten. Es schleicht vorwärts, fast als wäre es kein richtiges Auto. Beschleunigte es nur ein bisschen, würden die Leute vielleicht vornüberkippen und darüberkugeln.
Doch das Auto gleitet durch die Menge, die Frischvermählten lächeln im Fernsehen und auf tausenden Filmrollen, sie fahren in die Linsen, ins Zuhause, in die Pupillen. Fahren in die Körper.
Es ist ein Wunder, ein wahres Wunder. Dieses so schüchterne Mädchen, das in einem Kindergarten gearbeitet hat. Da kommt sie jetzt. Sieh, wie sie leuchtet. So keusch, so eingeweiht und doch so unerfahren. Mit dem Göttinnennamen, der den großen Sprung erleichtern wird. Der Nachname, bereit sich zu öffnen und zu lösen, eine aus-gediente Hülle. Spencer. Jetzt kann er loslassen.
Frisch und ausgewachsen sitzt die Prinzessin dort, voller Vertrauen ins Unbekannte; sorglos gegenüber allem, was ihr von nun an entgegenkommt, mit nie gekannter Wucht.
DIE AUTOSCOOTER krachen ineinander, die Halswirbel winden sich wie Peitschenschmitze gegen die Schädel. Die Fahrer sind Kinder, sie steuern ihre Karren, ohne halten zu müssen, ohne tanken, ohne denken zu müssen, sie folgen dem Instinkt, fahren aufeinander auf und ineinander hinein, eifrige kleine Körper, hell jauchzend. Sie weinen, wenn sie doch eine Pause machen und anderen den Platz überlassen müssen, sie lachen, wenn sie sich wieder in die schlittenhaften Autos setzen, die in der Arena unter großen, elektrischen Tentakeln umhertrudeln. Die Eltern stehen ringsum, ohne Gesicht, richtiger gesagt: ohne Gesichtszüge. Wie bei einem Zifferblatt, auf dem man anstelle von Zahlen neue ovale Scheiben findet.
Die fröhlichen Schreie füllen die Nacht wie Schaum.
AUD UND MAUD STREICHEN MIT DEN FINGERKUPPEN über die dünnen blauen Striche in den Armen. Im Spital ist nichts gesund und nichts tot. So ist Kranksein. Der Spitalgeruch unterscheidet nicht zwischen Leben und Tod, alles ist gleich, krank. Medizin ist dasselbe wie Gift. Medizin ist das Metall in der Luft, das Gelbe in den Augen und die Schwere in den Haarspitzen über der Haut. Das ganze Spital ist betäubt, ein Zustand von Schläfrigkeit, Erwachen bedeutet reinen Schmerz.
Die Geräusche sind hier anders als an allen Orten, an denen sie bisher waren. Rundum hören sie Magnetklicken und Luftdruckhauchen, wenn Schranktüren auf- und zugehen, mit einem dumpfen Wehen entfalten sich Leintücher in der Luft, um dann über Matratzen gespannt zu werden; Körper um Körper bleichen diese Leintücher aus, nutzen sie ab, bis man durch sie hindurchsehen kann wie durch Gaze. Ein anderes Knacksen hören sie in den Kehlen alter Leute, in ihren Rollstuhlspeichen auf dem Korridor. Angstvolle Vokale klettern in die Nächte, als kämen sie aus einer ach so tiefen Schlucht. Tagsüber gibt es das Schlurfen und das Knirschen der Krücken, das Ploppen, wenn Plastiktüten geöffnet werden oder die Metallfolie der Tablettenverpackungen platzt. Aber vor allem hören Aud und Maud die Stille, gegen die die Laute überall anstoßen. Im Leintuchausschütteln und Klicken und Knacksen, in den manchmal aufseufzenden Wänden und in widerspenstigen Handschuhen, wenn Hände sie sich überziehen wollen, im Schuhsohlenscheuern auf Epoxidharzböden und dem Arterienklemmenklirren an Rollwägen; in alldem zeigt sich die Stille. Denn die Geräusche finden keinen Einlass in die massive Stille. Sie werden zurückgedrängt, müssen für sich bleiben, werden ausgeschlossen. Die Stille ist etwas, das den Atem anhält und doch nie atmen muss. Die Stille ist auf eine neue Art gefährlich, gefährlich wie der leere Raum unter dem Bett, nicht wie das schwache Kratzen in ihm. Jetzt werden sie sicher nicht mehr in den alten Betten schlafen, wenn Aud repariert ist und sie bei Hjalmar und Karry wohnen werden. Aber einen leeren Raum wird man nur schwer los.
Die Mädchen erwachen und spüren ihren eigenen Atem nicht. Sie glauben, sich im Innern der Stille zu befinden, aber nur, bis neue Laute auftauchen. Sie schließen die Augen, um zu sehen, ob es im Dunkeln stiller ist und hören den Puls wie einen Zug in der Ferne. Sie schauen einander ins Gesicht. Dort ist es bei Maud stiller als bei Aud.
Es ist besser, im Innern der Stille zu sein als außerhalb.
Aud beschließt, so still zu sein, wie sie nur kann.
Auf alles, was anklopft, zu horchen.
Dass Aud nicht mehr sprechen, nicht mehr antworten will, schafft Unruhe. Wenn sie die Sprache verloren hat, muss ihr geholfen werden, sie wiederzufinden. Die Krankenschwestern wollen, dass sie ihnen nachspricht, die Namen der Tiere sagt, die sie auf einer Tafel zeigen, auch die Lippen in ihren Gesichtern bewegen sich wie ein Tier, ein Wurm, wenn sie die Worte formen, die sie sagen soll. Schwan und Spatz. Hase und Fuchs, Bieber und Bär. Das ist die Welt, antwortest du der Welt? Aud sieht, wie sich der Lippenwurm bewegt, er hat weder Kopf noch Schwanz, nur einen Körper, einen ringförmigen Körper, die Laute, die aus dem Ring kommen, ziehen durch den Raum; auch sie prallen an der Stille ab, Dösigkeit rammt sie, sie beginnen, sich zu wiederholen, ein ums andere Mal, bis sie nicht mehr zusammenhalten können, einander in Bahnen immer schneller umschwirren. So lösen sie sich von den Wörtern und die Wörter lösen sich von den Dingen, den Zeichnungen, und wenn das geschieht, öffnet sich ein Wald.
Im Wald ist es kühl und blau. Es ist ein uralter Wald, begreift Aud, ein Wald, der immer da war und sich ihr jetzt geöffnet hat. Wie ein Schrank aufgehen, eine Tür aufgleiten kann. Der Wald heißt Wales, und zwar so, wie das Wort in der Zeitung und auf dem Fernsehbildschirm aussieht: W a l e s. Wales ist eigentlich farblos und doch blau und ein bisschen orange. Das Blau kommt von den Bäumen, nicht vom Himmel, dort oben ist kein Himmel. Sie merkt, dass ihre Mutter in dem Wald ist, irgendwo hinter ihr, während sie nur dasteht und die andere Welt ansieht, die Lautwelt, die abgewiesene Welt, aber sie kann sich nicht umdrehen und die Mutter sehen. Sie ist da, wie ein kühler Luftzug im Nacken, in der Nähe der Stämme rundum. In einem kleinen Schmerz im Handgelenk.
Aud weiß: Jetzt ist sie im Innern der Stille.
Und so alt wie hier ist die Mutter nie gewesen.
Während Aud zwischen den Stämmen in der Stille steht, liegt sie auch im Bett neben einem Rollwagen mit Schachteln und Medikamenten. Maud nestelt an dem kleinen Sortiment herum, das sich hier zusammendrängt, einer Anhäufung von Pillen und braunglasigen Flaschen mit maschinengeschriebenen Etiketten; im matten Widerschein der gebürsteten Stahlplatte wirkt ihre Haut wie gelber Belag, und dieser Belag, der nur ein Abglanz ist, ist auch ein Teich, den Aud vom alten Wald aus sieht. Ein Teich aus gelbem Schmieröl, auf dem Garagenboden. Bis in den Wald riecht es nach diesem Öl, nach feuchtem Zement und eingeschlossener Motorhaube. Maud kann diesen Geruch nicht riechen. Aud kann ihr nicht davon erzählen, nicht von Wales und der Mutter. Maud steht mit ihrem stillen Gesicht mitten in der sprechenden Welt, und Aud kann nicht sagen: Komm.
Aud hebt eine Hand und kratzt in der Luft.
Am Abend, unterwegs in den Schlaf, fünf Rillen Blut in den Augenlidern. Männer und Frauen kommen zu ihr, setzen sich und sprechen, gehen umher und sprechen, testen verschiedene Bewegungen, mit denen sie die Worte in Schwung versetzen, um eine Frequenz zu finden. Aud hört jetzt, dass ihre Stimmen große Decken sind, die die Wörter unter sich begraben. Die Stimmen sind eine andere Haut, die sofort rubbelig und klumpig wird. Andere Besucher probieren es mit Stille, entschließen sich aktiv für Stille, als wollten sie mit Aud mit-schweigen oder als versuchten sie, etwas zu hören, das zu hören sie nicht gewohnt sind, bevor sie, als wäre es abgesprochen, ihrer Wege ziehen.
Darin sind sie sich einig: Etwas stimmt nicht mit Auds Tempo. Wie kann man wiederfinden, was jetzt verlorengeht, weil es gar nicht entsteht, weil ihm sein natürlicher Gang in die Welt abhandenkommt? Eine sich öffnende Kluft ist ein unheimlicher Anblick. Techniken gegen das Entgleiten sind vonnöten. Großmutter Karry hat einige der alten Spielsachen dabei, Puppen, Stoffesel, Lebenslinien zum alten Dasein, Aud holt sie zu sich ins Bett. Es stört die Spielsachen nicht, dass sie schweigt.
Nichts weiß mehr über Stille als sie.
KRANKENSCHWESTER TURID SAHL steht am Fenster und spürt den Drang zu rauchen, da knallt es im Fensterglas, und ein Vogel fällt auf die Erde.
Diese Schläge kommen wie etwas, das sich vom Licht da draußen gelöst hat, plötzlich ist es Fleisch, plötzlich Glas geworden. Einen Moment lang weiß man nicht, was es ist, wo es ist – geschieht das, was passiert, in einem selbst oder außerhalb. Ist es das Herz?, fragt verschreckt das Herz. Draußen und drinnen sind wesentliche Größen in einem Krankenhaus und sobald man versteht, was geschehen ist, finden die Körper zu ihren alten Konturen zurück, ihren eigenen, privaten Umläufen. Turid und die anderen Krankenschwestern müssen ihre Fürsorge begrenzen, damit sie wirken kann, sie müssen sie mit derselben Präzision bemessen, die sie brauchen, wenn sie mit einer Spritzenspitze das Blut suchen, so, wie auch die Kranken von ihrer Krankheit abgegrenzt sein müssen und sich wegen der Gefahr, dass die Krankheit gleichziehen und an Kraft zulegen könnte, nicht erlauben dürfen, sich über sie hinauszustrecken. Man muss ausschalten und selektieren, fokussieren. Leben müssen manchmal auf ihr Minimum schrumpfen, um wieder zu Kräften zu kommen, aber auch, um abtreten zu können.
Auch Turid Sahl bekommt keine Antwort, wenn sie mit Aud spricht, und sie merkt, wie ihre Stimme mit der Zeit eine eigene Spur findet, in die sie verfällt, sobald sie mit denen spricht, die zum Antworten zu alt oder zu krank sind, die aber Menschenstimmen hören sollen; diese Stimme erwartet keine Antwort, erbittet sie auch nicht, und einige Stunden später, bevor der Schlaf sie mit seinem milden Opiat einholt, denkt Turid Sahl, dass sie eigentlich nicht so mit dem Mädchen sprechen will.
Als sie die Augen schließt, hört sie dasselbe Schlagen.
Dieses Mal lässt sie das Herz herein.
WIR VERBRENNEN DAS ÖL. Wir verbrennen das Öl.
Ist es ein Traum, so ist es unmöglich, am Ende aus ihm aufzuwachen.
Nicht der Traum, das Erwachen brennt.
Es gibt Morgen ohne Zweifel: Ein anderer hat da geschlafen. Nicht ich war das. Daher dieser Frost. Ohne die Nacht im Rücken, eine sichere Nacht, ist der Tag so verletzlich. Worin kann man sich ausruhen. Was kann man sein, das man nicht selbst erschaffen muss. Dieser Tag wird zerbrechen; wie ein dürres Laubblatt zwischen den Fingern zerbröseln und zu Streu werden.
Das Öl brennt und wächst nicht nach. Nie mehr Nacht.
Nicht noch einmal.
EIN ZUFÄLLIGER ZEUGE DES GANZEN, hätte gesagt, das Auto sei in normaler Geschwindigkeit in den Tunnel gefahren. Anders gesagt: etwa die Geschwindigkeit, in der die meisten Autos in den Tunnel fahren. Und sollte die Geschwindigkeit einen Hauch zu hoch sein, sinkt sie meist, sobald das Auto sich im Tunnel befindet, da die biologischen Sensoren sich an eine neue Optik, ein dunkleres, quasi gefaltetes Licht gewöhnen müssen und an etwas anderes, schwieriger zu Benennendes, das einem anderen Bereich angehört; etwas, das sich zusammenzieht.
Feuchte.
Steinumschließung.