© 2021, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-88-0

 

Lektorat: Teresa Profanter

Cover: Jürgen Schütz

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag

ISBN: 978-3-99120-005-5

 

 

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Roland Freisitzer

 

wurde 1973 in Wien geboren und wuchs in Moskau, Warschau, Kapstadt und St. Pölten auf, bevor er sich 1989 erneut nach Moskau begab, um Komposition zu studieren. Der Komponist und Dirigent ist Dozent im Bereich der zeitgenössischen Musik an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Seit mehr als einem Jahrzehnt rezensiert Roland Freisitzer zeitgenössische Literatur. Frey ist sein Romandebüt.

 

Klappentext

 

Von seiner Frau überraschend verlassen, lässt sich Daniel Frey ziellos durch das abendliche Wien treiben. Kurz entschlossen bucht er am nächsten Tag einen Flug nach Tokio. Sein Sitznachbar heißt Daniel Bernhaugen und scheint eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Frey zu haben. Bernhaugen überredet Frey, mit ihm weiter nach Nagasaki zu reisen, wo er mit seiner Frau Naoko eine Buchhandlung betreibt. Frey stimmt schnell entschlossen zu, doch bei der Landung in Nagasaki stürzt das Flugzeug ins Meer. Daniel kommt erst Wochen später als nur einer von sieben Überlebenden in einem Krankenhaus zu sich. Er erinnert sich an nichts. 

Ist er tatsächlich Daniel Bernhaugen, wie Doktor Miyamoto behauptet? Wieso erinnert er sich dann nicht an seine Frau oder an die Buchhandlung? Doch niemand scheint Zweifel an seiner Identität zu haben. Daniel beginnt zu recherchieren und macht dabei eine erstaunliche Entdeckung: Ist er möglicherweise der beim Absturz ums Leben gekommene Daniel Frey, den man in Österreich des Mordes an seiner Frau bezichtigt? 

Die Suche nach seiner Identität wird zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das ihn an seine Grenzen bringt. – Ein Abenteuer, das sein Leben für immer verändern wird.

 

Roland Freisitzer

 

Frey

 

Roman | Septime Verlag

 

 

 

 

Für Julia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder eine ganze Reihe von Geschichten. Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein

 

 

 

 

 

 

 

 

 

World is suddener than we fancy it. World is crazier and more of it than we think, incorrigibly plural.

Louis MacNeice, Snow

Richard Wagner

 

Noch während ich überlegte, was das bedeuten mochte, öffnete sich die Tür und Tetsuya Miyamoto schritt in einem indigoblauen, plissierten und weit geschnittenen Hosenrock auf uns zu, der seinen stämmigen Körper von der Taille abwärts bedeckte und ihn imposant wirken ließ. Darüber trug er eine grau-rote Jacke. Seine Füße steckten in weißen Socken und japanischen Holzsandalen, die etwas unbequem aussahen.

»Sei gegrüßt, lieber Daniel«, sagte er mit einer feierlichen Verneigung. »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Auch wenn du heute leider nicht gekommen bist, um mit mir Wagner oder Bach zu hören.«

»Danke, dass du uns zu so früher Stunde empfängst. Wir wollten auch in die Klinik, nur da ist nichts. Also, das Gebäude gibt es schon … nur ist es tot und verlassen. Dort leben nur Ratten.«

Miyamoto winkte entschieden ab. Er blinzelte, ließ seinen Blick über die Bucht schweifen und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Die Wände haben starken Schimmelbefall«, sagte ich und bemühte mich dabei ruhig zu bleiben. »In den Gängen liegt ein tiefer Teppichboden, der aussieht, als hätte man ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gereinigt. Rattenkötel überall. Ich konnte mein Zimmer finden, das allerdings ebenso verwahrlost war. Nur die Rose in der Vase war frisch.«

Miyamotos rechtes Auge zuckte in unregelmäßigen Abständen und er presste die Lippen aufeinander. »Die Rose war frisch?«

Ich nickte.

»Welche Farbe hatte sie?«, fragte Miyamoto.

»Rot.«

Der Arzt nickte zufrieden.

»Unter uns …«, sagte er mit einer verschwörerischen Geste. »Nachdem du uns verlassen hast, haben wir versucht, alle Spuren des Lebens in der Klinik zu tilgen. Das ist uns gelungen, wie ich sehe. Die Ratten mussten wir dazu leider nur extra aus Hokkaido einfliegen.«

»Ich weiß doch, was ich gesehen habe«, sagte ich mit fester Stimme.

»Daniel, du bist echt witzig. Hör zu, wenn ich deinem Freund geholfen habe, dann fahren wir da gemeinsam hin und ich zeige dir, dass alles so ist, wie es sein soll. Ist das ein faires Angebot?«

»In Ordnung …«

»Abgemacht«, sagte Miyamoto lächelnd und ging an Yuki vorbei zum Auto.

Dabei nickte er ihr knapp zu. Charles grüßte er ebenso mit einem Nicken. Nach einem kurzen Blick auf die Wunde rief Miyamoto ein paar Befehle auf Japanisch in Richtung seiner Villa. Wenige Momente später rollten zwei in Kimonos gekleidete Frauen einen Rollstuhl zum Auto, halfen Charles hinein und schoben ihn ins Haus. Eine davon war definitiv Nachtschwester Sayaka, an die andere erinnerte ich mich auch, nur fiel mir ihr Name nicht mehr ein.

»Macht es euch in der Zwischenzeit doch im Wohnzimmer bequem«, sagte Miyamoto. »Die Wunde eures Freundes sieht nicht besonders gut aus, aber ich kümmere mich um ihn. Es wird sicher ein paar Stunden dauern.«

»Danke.«

»Ich wollte immer schon jemandem helfen, der seit mehr als vierundzwanzig Stunden tot ist. Auch ohne hellseherische Fähigkeiten zu haben weiß ich, dass mir das diesmal gelingen wird.«

Lachend stapfte er ins Haus. Ein paar Meter entfernt sprach Yuki in ihr Telefon, legte aber gleich wieder auf. Ich zündete mir eine Zigarette an. Wem konnte ich eigentlich noch vertrauen? Sagte Charles die Wahrheit? War Yuki irgendwie beteiligt, und wenn ja, wie? Was war mit Naoko passiert? Welche Rolle spielte Miyamoto? Ich hatte keine Antworten, nur Kopfschmerzen. Wieder wählte Yuki eine Nummer, lauschte und beendete den Anruf nach wenigen Sekunden. Diesmal hatte sie nichts gesagt. Sie suchte meinen Blick, hob ratlos die Schultern und kam auf mich zu.

»Naoko hebt einfach nicht ab, es ist zum Verzweifeln. Ich habe ihr auf die Mailbox gesprochen, denke aber nicht, dass sie die Nachricht abhören kann.«

Schweigend schauten wir hinunter auf die erwachende Stadt. Am gegenüberliegenden Hang sah ich die Umrisse des Krankenhauses. Ich bildete mir sogar ein, einige Fahrzeuge und Menschen auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang auszumachen. Oder irrte ich mich im Gebäude?

»Wir müssen sie finden«, sagte ich.

»Ja, unbedingt«, antwortete Yuki.

Ich nickte.

»Komm, gehen wir hinein«, sagte Yuki, die in der Morgenbrise zitterte.

Im Haus begrüßte uns die Frau, an deren Namen ich mich nicht erinnerte. Sie zeigte uns den Weg zu dem nobel und teuer eingerichteten Wohnzimmer. Der Raum war mindestens viereinhalb Meter hoch und sicherlich an die sechzig bis siebzig Quadratmeter groß. An den Wänden hingen grün-goldene Wandtapeten und am Parkettboden lagen edel aussehende Teppiche. Eine Ecke des Wohnzimmers zierte ein Kamin. In der Mitte des Raumes umstellten vier mit grünem Samt überzogene Sitzgarnituren einen kniehohen Holztisch. Direkt über dem Tisch hing ein Kronleuchter, der genauso gut in Neuschwanstein hätte hängen können. Neben dem Kamin war ein mächtiger Spiegel angebracht, der fast die komplette Raumhöhe auslotete. Yuki lenkte meine Aufmerksamkeit auf die dem Spiegel gegenüberliegende Ecke. Ich erkannte einen massiven, goldverzierten Thron. Es wunderte mich nicht, dass Miyamoto laut Wagneropern hörte, hier störte er wahrlich niemanden. Vielleicht saß er dabei auf seinem Thron? Bei der Vorstellung musste ich schmunzeln.

Wir setzten uns und warteten gespannt darauf, was jetzt passieren würde. Wenige Minuten später schob die Frau, die uns ins Wohnzimmer geführt hatte, einen Servierwagen ins Zimmer, auf dem sie Kaffee, Tee, Orangensaft, Kuchen und belegte Brote angerichtet hatte. Sie deckte den Tisch und bat uns zuzugreifen. Beim Geruch des frisch gebrühten Kaffees verstand ich endlich, dass mein Kopfweh vom Hunger herrührte. Trotz aller Liebe zur japanischen Küche hatten mir gutes Brot mit Käse und Wurst gefehlt. Bald darauf lehnten wir satt und zufrieden in den royalen Sitzen.

»Erinnerst du dich wirklich an nichts, was vor dem Absturz war?«, fragte Yuki ein wenig später.

»Nicht wirklich. Ich denke immer wieder, mich an Dinge erinnern zu können, doch dann erkenne ich, dass ich nur Naokos geschilderte Ereignisse kenne. In meiner Wahrnehmung vermischen sich ihre Erzählungen mit dem, was ich für eine Erinnerung halte. Verstehst du, was ich meine?«

Yuki nickte nachdenklich. Ich spürte, dass sie einen Gedanken hinzufügen wollte. Etwas hielt sie allerdings davon ab. Immer wieder schien sie ansetzen zu wollen, es war ein Hin und Her, das von ihrer Unentschlossenheit zeugte. Sie wird es mir schon sagen, wenn der Moment für sie passt.

»Wir sollten hier ein kleines Nickerchen machen, wer weiß, wie lange Miyamoto braucht. Geschlafen haben wir ja fast gar nicht«, sagte ich.

Yuki nickte zustimmend, hatte aber feuchte Augen. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, und lehnte mich gähnend zurück. Weitere Emotionen konnte ich im Moment nicht ertragen. Auch wenn ich mir dabei armselig vorkam. Nach einiger Zeit war Yuki eingeschlafen und ich betrachtete sie diskret. Sie wirkte seltsam kraftlos, fast gebrochen. Ich fühlte mich noch schäbiger als zuvor und setzte mich zu ihr. Ihr schlafender Körper schmiegte sich in stillem Einvernehmen fest an mich. Ihr Kopf fand den Weg auf meine Brust, ich legte meinen Arm um ihre Schultern und meinte, ein fast unhörbares, zufriedenes Seufzen wahrzunehmen. Die Umarmung ist harmlos und freundschaftlich, sagte ich mir. Auch wenn ich tief im Inneren spürte, dass das nicht stimmte. Yukis Nähe fühlte sich unglaublich vertraut an. Bei dieser Erkenntnis überkam mich eine leichte Beklemmung. Ein richtiges Flattern im Bauch. Ich wollte sie streicheln, ihr möglichst viel Nähe geben, Wärme und Sicherheit. Doch wir waren auf der Suche nach meiner Frau. Dieses Begehren musste im Keim erstickt werden, bevor es zu Problemen führte. All das, was da in mir vorging, war falsch. Verboten. Und dennoch konnte ich es nicht ignorieren. Oder gar unterdrücken. Verwirrt streichelte ich Yukis Kopf, küsste ihre Stirn und schloss die Augen.

»Eurem Freund geht es den Umständen entsprechend gut«, sagte Miyamoto, der im Arztkittel wieder vertrauenswürdiger wirkte. »Er hatte bereits viel Blut verloren, doch glücklicherweise konnte ich genug Blutkonserven der notwendigen Blutgruppe organisieren. Die ist sonst recht rar.«

»Danke«, antwortete ich und löste mich verstohlen von Yuki, die mich mit einem verschlafenen Lächeln ansah.

Wieder diese liebenswerten Grübchen.

»Ihr habt hoffentlich gut geruht?«

»Ausgezeichnet. Wie spät ist es?«

»Es ist bereits fünfzehn Uhr«, sagte er und lachte.

»Wirklich? Danke für deine Mühe. Was schulde ich dir?«, fragte ich und nahm irritiert wahr, dass mich Yuki verlegen anlächelte.

»Gar nichts, gern geschehen«, erwiderte Miyamoto. »Es freut mich, dass ich eurem Freund helfen konnte.«

Er setzte sich und musterte uns interessiert.

»Wie gefällt euch meine kleine persönliche Villa Wahnfried?«

»Die Villa ist … beeindruckend«, sagte ich und verkniff mir die Frage nach dem Sinn des Nachbaus.

»Sie ist eine exakte Kopie des in Bayreuth stehenden Originals. Auf der Rückseite des Hauses gibt es im Erdgeschoß noch das Klavierzimmer, natürlich mit einem alten Pierre-Érard-Flügel und einem exakt dem Original entsprechenden Runderker, von dem aus dem man auf einen weiteren Springbrunnen sieht. Dazu noch Küche und Esszimmer. Die Ausstattung der Küche ist natürlich der heutigen Zeit angepasst. Ich fahre ja auch mit einem Auto und nicht mit einer Kutsche. Der hintere Teil des Grundstücks ist bewaldet. Die Zypressen entsprechen nicht dem Original, gefallen mir aber deutlich besser als die deutschen Bäume, die Wagner hatte. Ich weiß nicht mehr, welche es waren. Ein wenig Freiheit darf schon sein, oder etwa nicht? Sagt man bei euch nicht, man solle nicht päpstlicher als der Papst sein? Wenn es schon stilisierte italienische Neurenaissance ist, müssen, meiner Meinung nach, auch mediterrane Bäume her. Oben sind die Schlafzimmer. Im Keller habe ich meine kleine, geheime Privatklinik, von der ihr nun wisst«, sagte er. »Allerdings gehe ich davon aus, dass ihr das für euch behalten werdet. Sonst müsste ich euch nämlich leider töten.«

Er sah uns eine Zeit lang ernst an, bevor er sich nicht mehr zurückhalten konnte und ungeniert loslachte. Yuki sah mich an und verdrehte die Augen. Dann lachten wir mit Miyamoto mit und nickten.

»In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich zwei erstaunlich interessante Patienten hier. Zuerst einen schwer tätowierten Killer, der eine auffallend ähnliche Stichwunde wie euer Freund hatte. Ich könnte mir gut vorstellen, dass derselbe Dolch an beiden Wunden beteiligt war. Das muss ein imposantes Stück sein. Den Kollegen dieses Mannes hat man erst gar nicht zu mir gebracht, sondern gleich in die Leichenhalle transportiert. Dem konnte ich nicht helfen. Und nur wenige Stunden vor euch, da hatte ich einen Mann hier, dem ich leider einen Hoden abnehmen musste. Der war komplett zertrümmert und nicht mehr zu retten. Am Kopf hatte der Typ noch eine Platzwunde. Er meinte, irgendein Ausländer habe ihn mit Krücken niedergeschlagen. Das muss ein richtig gefährlicher Kerl gewesen sein ...«

»Oje, das klingt ja ganz schlimm«, sagte ich und bemühte mich, ein Grinsen zu unterdrücken. »Wer tut denn so etwas?«

Yuki konnte sich das Kichern nicht verkneifen.

»Ja«, sagte Miyamoto, »so etwas kann schon mal passieren, wenn man Aufträge ausführt, die Gewaltanwendung voraussetzen. Einen Hoden hat er immerhin noch. Der Typ ist allerdings stinksauer. Ich denke mir meinen Teil, sehe Zusammenhänge und urteile nicht. Das hier alles kann ich mir nur leisten, weil ich keinen Patienten abweise und manche eine diskrete Privatklinik ohne Meldepflicht bevorzugen. Ihr kennt vielleicht die Geschichte der drei Affen, die nichts sehen, hören oder sagen? Sanzaru, oder sanbiki no saru. Man darf keine Geisel der Moral sein. Dennoch, mein Gewissen drängt mich, euch zu warnen.«

Erwartungsvoll blickte ich Yuki an, die äußerlich ruhig wirkte.

»Ihr habt ein paar Probleme, die richtig unangenehm werden könnten«, fuhr er fort. »Einerseits müsst ihr natürlich Frau Bernhaugen finden. Möglichst rasch, bevor ihr andere auf die Spur kommen. Abgesehen davon, oder damit zusammenhängend, werdet ihr munter von zwei verschiedenen Gruppierungen der Yakuza gejagt. Ein unschönes Wort, oder? Leider ist es in diesem Fall das einzige Wort, das in eurer Lage angemessen ist.«

»Gejagt?«, fragte ich.

»Ja, sie suchen euch nicht nur, sie jagen euch. Die einen haben es jetzt gezielt auf euren Amerikaner abgesehen. Auch wenn ihn die beiden Anfänger nur irrtümlich angegriffen haben. Die hatten sich einfach in der Zimmernummer geirrt, das ist wirklich blöd gelaufen. Sagt man zumindest. Das sind jedenfalls die Typen vom Tomoyama-Clan. Nun wollen sie ihren Kollegen rächen und müssen den Dolch wiederfinden. Dafür werden sie kein Risiko scheuen. Diese Waffe soll, wenn ich das richtig verstanden habe, ein mehrere Jahrhunderte alter Samurai-Dolch sein, der unschätzbar wertvoll ist. Den Dolch einfach zurückzugeben wird nicht reichen, das sage ich euch gleich.«

»Wieso wurde in den Nachrichten gemeldet, dass Charles tot ist?«, fragte Yuki.

»Das weiß ich nicht«, sagte Miyamoto. »Ich denke, der alte Tomoyama will sein Gesicht wahren. Wenn er zwei Profis losschickt, die dann ins falsche Zimmer eindringen und von einem schwindeligen Amerikaner fertig gemacht werden, ist das für jemanden wie ihn wirklich peinlich. Einer tot, der andere verletzt. Und dann verlieren sie auch noch den wertvollsten Familienbesitz, den sie nur für besondere Morde verwenden. Dass das intendierte Opfer den Trubel im Nebenzimmer mitbekam und sich still und leise aus dem Staub gemacht hat, macht die Schmach natürlich noch größer. Deshalb hat er vielleicht seine Kontakte genutzt, um die Wahrheit an seine Bedürfnisse anzupassen. Und Druck auf euren Amerikaner auszuüben. Wer tot ist, kann nur schwerlich ausreisen. Wenn man tot ist, ist das Leben überhaupt viel schwieriger … Auf diese Weise steht er vor seinen Gegnern und Freunden jedenfalls besser da. Doch wie gesagt, das ist nur eine Vermutung. Aber ich weiß natürlich nicht, was im Kopf eines Verbrechers vorgeht«, fügte er schulterzuckend hinzu.

Wieso hatte ich den Dolch nur im Hafenbecken entsorgt? Wie konnte ich nur so blöde sein?

»Die zweite Gruppierung, die hinter euch her ist, ist die vom Tsubuya-Clan. Die suchen Frau Bernhaugen und dich, Daniel. Der Mann, der nur mehr einen Hoden hat, ist der Lieblingsschwiegersohn vom alten Tsubuya. Das solltet ihr vielleicht noch wissen.«

»Weshalb suchen die Naoko und mich?«, fragte ich.

»Das müsstet ihr doch selbst wissen«, sagte er irritiert. »Ich habe nur gehört, dass es mit irgendwelchen Geschäften zu tun hat. Sonst nichts.«

»Scheiße«, entkam es mir.

Miyamoto nickte.

»Was wissen Sie noch«, fragte Yuki. »Wo ist Naoko?«

Jetzt lächelte Miyamoto breit.

»Wieso stellen eigentlich immer nur Frauen die richtigen Fragen?«, fragte er und zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Ich weiß natürlich nicht, ob sie noch dort ist, aber zuletzt konnte man ihr Mobiltelefon am Oda-Fluss in der Nähe des Berg Aso orten. Vielleicht habt ihr eine Idee, wo sie da sein könnte.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich ihn.

»Kontakte, Kontakte …«, antwortete er nachdenklich.

»Da müssen wir hin. Ich denke, ich weiß, wo sie da sind. Da war ich vor einigen Jahren mit Naoko«, rief Yuki.

»Wenn wir das jetzt von dir erfahren haben, dann werden es die Tsubuya-Typen doch auch längst wissen, oder?«

»Daniel«, sagte Miyamoto, lächelte und schüttelte den Kopf, »Yuki hat diese Frage gestellt, weil sie über weibliche Logik verfügt. Du nicht. Und diese Tsubuya-Kerle definitiv auch nicht.«

»In Ordnung, lass uns hinfahren«, sagte ich zu Yuki.

Sie sprang eifrig auf, doch Miyamoto deutete ihr mit einer Kopfbewegung, sich wieder zu setzen.

»Den Amerikaner müsst ihr natürlich mitnehmen. Er kann nicht hierbleiben und sollte euch behilflich sein können. Drei sind immer besser als zwei. Er wird gleich hier sein und dann müsst ihr euch schleunigst auf den Weg machen. Übrigens, ich werde nicht lügen, falls ich nach euch gefragt werde. Ich beantworte jedoch nur konkrete Fragen. Nicht mehr und nicht weniger.«

Wir nickten beide, als Charles im Rollstuhl in den Raum geschoben wurde. Er sah etwas verwirrt aus, wirkte aber generell viel fitter als zuvor. Seine Schulter war professionell verbunden. Er rappelte sich aus dem Stuhl hoch und deutete Schwester Sayaka gegenüber eine Verbeugung an.

»Wie fühlst du dich?«, fragte ihn Yuki.

»Reborn«, sagte er lachend und schüttelte Miyamotos Hand. »Ich hoffe, ich kann mich mal revanchieren.«

»Es hat mich sehr gefreut«, sagte Miyamoto. »Es würde mich freuen, wenn wir uns unter anderen, etwas ruhigeren Umständen wiedersehen. Übrigens, neben dem Spiegel ist eine kleine Tür in der Wand. Dahinter findet ihr meinen Waffenraum. Die Tür ist nicht versperrt und ich werde auch nicht sauer sein, wenn von dort nachher etwas fehlt. Unter uns gesagt, ich würde euch sogar dringend dazu raten, etwas mitzunehmen. Ihr findet dort nicht nur Jagdgewehre, sondern auch verschiedene Pistolen und Kampfmesser. Und Munition natürlich. Charles sollte in der Lage sein abzuschätzen, was ihr davon brauchen könnt. Leider muss ich euch jetzt verlassen. Ich wünsche euch aber viel Glück.«

Winkend eilte er davon.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ERSTER TEIL

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

»Dann legen Sie doch mal los«, sagte Dorn ungeduldig.

Ich hörte ihn die fünfzehn Zentimeter große Wilhelm-Wundt-Büste auf seinem schräg hinter mir platzierten Schreibtisch mit viel Druck hin- und herschieben. Das knarzende Geräusch, das die Büste des Begründers der experimentellen Psychologie dabei machte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich wollte davonlaufen, übte mich jedoch in Wundtscher Selbstbeobachtung und blieb sitzen. Durch das Fenster betrachtete ich den Park, auf den man aus dem abgewetzten Ohrensessel des Therapeuten blickte. In der Hoffnung auf eine Art von Erleuchtung, eine Idee oder irgendeinen Lösungsansatz starrte ich auf die sieben spärlich belaubten Kastanienbäume, die den Park umrandeten. In die Mitte des Parks hatte man einen lieblos gestalteten Kinderspielplatz gesetzt: eine Sandkiste, zwei blaue Wippen, eine rote Schaukel und ein grünes Klettergerüst mit gelber Rutsche. Neben einer der beiden Schaukeln sah ich ein blondes Mädchen seilspringen. Ihr rotkariertes Kleid und ihre langen Zöpfe flogen wild durch die Luft. Ein Anzugträger mit Aktentasche querte den Spielplatz. Mit einem Mal blieb er stehen, fingerte ein Päckchen aus seiner Sakkoinnentasche und zündete sich eine Zigarette an. Er sah dem Mädchen kurz zu und ging weiter. Dorn seufzte und erinnerte mich daran, dass ich auf diesem Termin beharrt hatte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Großartig, ich hatte bereits zehn teure Minuten mit der Beobachtung des Parks verbracht.

»Wir reden heute vermutlich nicht über Ihre Wut und die besprochene Strategie, damit umzugehen«, sagte Dorn.

Ich schüttelte den Kopf.

»Erzählen Sie mir, was Sie bedrückt«, sagte er.

»Meine Frau ...«, erwiderte ich. »Sie hat vor fünf Tagen ein Fernsehgerät gekauft. Während ich dienstlich in London war. Einen riesigen Flachbildschirm, wissen Sie, was ich meine?«

Dorn nickte.

»Was bedeutet das für Sie?«, fragte er. »Stört Sie die Anwesenheit des Fernsehers?«

Ich meinte, dabei einen leicht vorwurfsvollen Unterton in seiner Frage mitschwingen zu hören. Als ob mich der Fernseher allein hierhergeführt hätte! Ich unterdrückte meinen Ärger und erinnerte mich daran, dass nicht alles, was ich im ersten Moment als kritisch oder vorwurfsvoll empfand, auch tatsächlich so gemeint war.

»Nein. Das allein ist es natürlich nicht«, sagte ich.

»Gut. Was ist es dann?«

»Zuallererst hat es mich überrascht. Meine Frau hat sich bisher immer vehement gegen die Anschaffung eines Fernsehers gewehrt. Nicht einmal vor der Fußballweltmeisterschaft durfte ich einen kaufen. ›Schwachsinn, rausgeschmissenes Geld, wozu in die blöde Glotze starren, Volksverdummung, wieso sollten wir ein derart beschissenes Ding daheim stehen haben‹«, zitierte ich Sarah.

Ich blickte zu Dorn, der sich träge am linken Ohr kratzte. Dabei bewegte sich die rechte Hälfte seines imposanten, längst ergrauten Walross-Schnauzers im Rhythmus des Kratzens auf und ab.

»Meinungen ändern sich immer wieder im Leben«, sagte er. »Damit muss man rechnen.«

Ich blickte wieder aus dem Fenster. Als ob ich das nicht wüsste.

»Welche Bedeutung hat der Fernseher für Ihre Frau?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Es ist ja nur ein Fernseher und kein … sagen wir … Liebhaber«, sagte er. »Außerdem haben Sie ja auch etwas davon. Sie können nun endlich daheim Fußball schauen. Allerdings, mit Ihrer Disposition sollten Sie vielleicht Spiele unserer Nationalmannschaft vermeiden … die könnten zu unerwünschten Wutausbrüchen führen.«

Eine junge Frau setzte sich auf eine Bank im Park und zündete sich eine Zigarette an. Als ich ihr dabei zusah, verspürte ich selbst Sehnsucht nach einer Zigarette. Jammerschade, dass ich seit vier Jahren nicht mehr rauchte. Vielleicht sollte ich Sarahs Fernsehwahn einfach ignorieren und hoffen, dass sie bald selbst genug davon hatte.

»Das tatsächliche Problem ist ja in Wahrheit ein anderes«, sagte ich. »Sie sitzt seither rund um die Uhr vor dem Ding und schaut verschwitzten, testosterongesteuerten Kerlen in kurzen Hosen dabei zu, wie sie einander mit Schlägen und Tritten malträtieren.«

Ich drehte mich wieder zu Dorn um und sah ihn mit dem linken Zeigefinger in der Nase bohren. Er lächelte und entfernte den Finger aus der Nase.

»Erzählen Sie bitte weiter!«

War die Ausrichtung des Ohrensessels mit Blick aus dem Fenster strategisch gewählt? Sie erlaubte dem Therapeuten jedenfalls unbeobachtetes Nasenbohren, während er den Ausführungen seiner Klienten lauschte, die mit Blick auf den Park ihrer Kindheit oder sonstigen versteckten Erinnerungen auf den Zahn fühlten.

»Sie sieht nur mehr fern und redet kein Wort mehr mit mir«, sagte ich. »Sie beantwortet keine Fragen, sie ignoriert sie nicht einmal. Sie grüßt nicht, sie reagiert überhaupt nicht. Als hielte sie sich in einer weit entfernten Parallelwelt auf. Natürlich kommt sie auch nicht mehr ins gemeinsame Bett. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch schläft. Wenn ich morgens aus dem Schlafzimmer komme, sitzt sie genauso da wie am Abend zuvor. Nur Essen und Getränke holt sie sich von Zeit zu Zeit aus der Küche.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Dorn.

»Sie lässt die schmutzigen Gläser und Teller, mitsamt den eingetrockneten Essensresten, einfach neben der Spüle stehen. Verpackungsmüll ebenso. So lange, bis ich aufräume, abwasche oder das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler einräume.«

Dorn lachte kurz auf und klopfte mit dem Zeige- und Mittelfinger einen Rhythmus auf die Tischplatte. Er erinnerte mich an eine hinkende Variante des Schlagzeugparts aus Maurice Ravels Bolero. Wenn Dorn nur im Rhythmus bliebe! Seine irritierenden Angewohnheiten gingen mir langsam richtig auf die Nerven.

»Ihre Frau schläft also gar nicht mehr?«, fragte er, als er endlich genug geklopft hatte.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Wenn, dann auf dem Sofa.«

Dorn schwieg, kratzte sich an der Stirn und schaute suchend umher. Er wirkte so offensichtlich ratlos, dass ich zur Beruhigung wieder aus dem Fenster sah. Gerade rechtzeitig, um ein Flugzeug im Landeanflug über die Dächer Wiens in Richtung Schwechat schweben zu sehen.

»Man kann also tatsächlich rund um die Uhr im Fernsehen derartige Kämpfe sehen?«, fragte Dorn.

Ich nickte und erklärte, dass es ein asiatischer Kabelsender sei. Dorn kritzelte ein paar Worte auf ein Post-it. Er wirkte nun hellwach.

»Ich vermute, dass es ein thailändischer Sender ist, wenn ich die Schriftzeichen am oberen Rand des Bildschirms richtig deute«, ergänzte ich.

»Gut zu wissen, danke«, erwiderte er und setzte drei Punkte an das Ende seiner Notiz.

»Sind Sie an dieser Sportart interessiert?«

Dorn ignorierte meine Frage und schloss die Augen. Nach fast einem Jahr Therapie wusste ich, dass er jetzt nachdachte und ich still auf seine Erkenntnis zu warten hatte. Ich sah erneut aus dem Fenster, unschlüssig, ob ich meine Aufmerksamkeit dem Park oder den Flugzeugen zuwenden sollte.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte er endlich, »dann klingt das nicht erfreulich für Sie.«

Ich nickte. Das hatte ich auch längst verstanden. Wozu war ich überhaupt hier?

»Ihrer Frau hingegen scheint dieser Zustand zu behagen, wenn ich all das in Betracht ziehe, was Sie bisher erzählt haben. Sonst hätte sie keinen Grund, derart gegen ihre tägliche Routine und die ungeschriebenen Verhaltensregeln in Ihrer Beziehung zu verstoßen. Es stellt sich nur die Frage, was sie damit bezwecken will«, sagte er mit einem überheblichen Gesichtsausdruck, der wie eine Schuldzuweisung auf mich wirkte. »Im Idealfall könnte es sich um eine vorübergehende Sache handeln. Vielleicht nur eine Verirrung. Oder gar ein Schrei nach Aufmerksamkeit!«

Was dachte er sich bloß dabei, mich anzusehen, als ob ich für Sarahs Fernsehwahn verantwortlich sei? Als hätte ich sie in diesen Irrsinn getrieben. Zorn stieg in mir auf. Lutsch-mich-Mister-Dorngesicht, schrie ich stumm und erkannte, dass ich aus Jonathan Lethems Roman über einen Kleinganoven mit Tourettesyndrom zitiert hatte. Ich musste lachen, weil Dorn im Gegensatz zur Romanfigur nicht darauf reagierte. Das löste mein Problem zwar nicht, aber ich fühlte mich auf der Stelle doch erheblich besser. Ich hatte keine Ahnung, was Sarah mit ihrem Verhalten bezwecken wollte, und zuckte genervt mit den Schultern.

Dorn schnaubte unzufrieden.

Du blöder, überheblicher Pisskopf, du kannst mich mal.

»Ich weiß es natürlich auch nicht«, sagte er. »Es ist ihr wichtig, das steht fest. Nur, was genau ist es? Was steckt dahinter? Diese Fragen sollten Sie möglichst rasch klären.«

Ich wandte mich von Dorn ab und schaute genervt aus dem Fenster. Er konnte mir nicht helfen. Ich hätte meinen Zorn gern laut über den Park hinausgeschrien. Auch wenn das nichts geändert hätte. Das war mir klar. Von einer Lösung meines Problems schien ich noch weiter entfernt als vor dem Termin mit meinem Therapeuten.

Ein alter Mann mit Hund ging langsam an dem Mädchen vorbei, das mittlerweile auf der roten Schaukel saß. Er wandte sich ihr zu, kramte in seinen Hosentaschen und hielt dem Mädchen irgendetwas auf der Handfläche entgegen. Das Mädchen reagierte nicht auf ihn. Der Hund bellte den Mann auffordernd an und erhielt, was der Mann dem Mädchen angeboten hatte. Der Mann schüttelte den Kopf, zündete sich eine Zigarette an und ging langsam weiter.

»Was sagt Ihre Frau denn eigentlich dazu?«, fragte Dorn.

Ich hatte Dorn in der Vergangenheit immer wieder verdächtigt, in Wahrheit zu schlafen, wenn er mir mit geschlossenen Augen zuhörte. Seine Frage bekräftigte meinen Verdacht.

»Wie ich bereits sagte«, erwiderte ich und warf ihm einen verärgerten Blick zu, »sie bekommt außer den Kämpfen überhaupt nichts mit. Sie sagt also kein Wort dazu.«

Er ignorierte meinen Blick und fragte, ob ich nicht versuchen wolle, Sarah durch physische Intervention vom Fernseher abzulenken.

»Es könnte doch zielführend sein, sich selbst zwischen das Gerät und Ihre Frau zu stellen«, fügte er erklärend hinzu.

Daraufhin erzählte ich ihm von meinem kläglich gescheiterten Versuch, sie genau mit dieser Taktik abzulenken. Schilderte, wie Sarah immer wieder eine neue Position gesucht und gefunden hatte, um doch an mir vorbeisehen zu können, und wie ich am Ende entnervt resigniert hatte.

»Wirklich bedauerlich«, sagte Dorn kopfschüttelnd. »Machen Sie sich Gedanken, ob es unter Umständen nicht andere Möglichkeiten gibt, die Aufmerksamkeit Ihrer Frau zu erlangen.«

Warum glaubst du dämlicher Wichser eigentlich, dass ich da bin, wollte ich ihm entgegenschreien, fragte aber stattdessen freundlich lächelnd: »Welche Möglichkeiten meinen Sie?«

Dorn hatte sich mit den Händen rechts und links auf die Tischplatte gestützt, die Ellenbogen in Lauerstellung.

»Sorgen Sie unbedingt für Klarheit. Wenn möglich, gleich heute«, sagte er und stand auf.

Ich nickte.

Schweigend ging er dreimal um den Schreibtisch herum. Ich sah, dass er das rechte Bein dabei ein wenig unkoordiniert nachzog, und fragte mich, ob er auf mehr als mein Nicken wartete. Verstohlen betrachtete er seine Armbanduhr. Kurz darauf seufzte er und wandte seinen Blick scheinbar desinteressiert in Richtung der stummen Kuckucksuhr, ein Erbstück von seiner Großmutter, das er nicht etwa wegen eines schreckhaften Klienten mundtot gemacht hatte, sondern auf Wunsch seiner Frau. Gleich beim ersten Termin hatte ich die Geschichte erfahren, sicherlich wie alle anderen Klienten auch. Da der Blick zur Uhr die letzten fünf Minuten der Sitzung ankündigte, bat ich Dorn um einen weiteren, möglichst zeitnahen Termin und versprach, mich umgehend um die Klärung meines Problems zu kümmern.

»Koste es, was es wolle«, sagte ich.

Dorn setzte sich mit einem seltsam dumpfen Geräusch hin und musterte mich. Er bat mich, bei der Wahl meiner Mittel besonders vorsichtig zu sein.

»Passen Sie auf, hören Sie Ihrer Frau zu und gehen Sie nur nicht brachial vor, wenn Ihnen etwas an Ihrer Beziehung liegt«, sagte er, während er im Terminkalender blätterte. »Achten Sie unbedingt darauf, dass Sie sich immer im Griff haben. Sie wissen ja, zählen, zählen, zählen ... Die Sache ist äußerst delikat, wenn Sie verstehen, was ich meine ... Morgen, siebzehn Uhr?«

Ich nickte, bedankte mich für sein Entgegenkommen und schlüpfte in meine Weste.

»Schön, da wünsche ich Ihnen viel Glück für heute Abend«, sagte er lachend und unterschrieb die bereits ausgefüllte Honorarnote.

Er drückte mir das Kuvert mit der Honorarnote in die Hand und schob mich mit elegantem Nachdruck zur Tür hinaus. Ich verzichtete auf den Fahrstuhl, lief die Treppe hinab, trat hinaus auf die Straße, atmete tief durch und sah mich um. Das Mädchen hatte den Spielplatz bereits verlassen.

Langsam ging ich über den Spielplatz und warf einen Blick hinauf zur Praxis im zweiten Stock. Dabei bildete ich mir ein, eine leichte Bewegung des Vorhangs und dahinter Dorns Umriss zu sehen. Ja, ich würde die Sache mit Sarah heute klären. Egal wie. Es war höchste Zeit. Ich musste einfach ruhig bleiben, dann würde sich alles lösen. Sicherlich gab es eine einfache Erklärung. Ich hatte diesem Fernsehwahn nur zu viel Beachtung geschenkt. Breit grinsend winkte ich in Richtung des Fensters. Ja, heute würde ich das klären!

Ich musste Lebensmittel einkaufen und schlenderte gemütlich zur Straßenbahnhaltestelle. Die Menschen, die mir begegneten, erschienen mir freundlicher und sympathischer als sonst. Ich lächelte ihnen zu und sie erwiderten mein Lächeln. Alles wirkte heller als üblich. Farbiger. Schöner. Ich stellte im Kopf eine Einkaufsliste zusammen und beschloss, auch einen Strauß Rosen für Sarah zu kaufen.

 

 

2

 

Bereits im Stiegenhaus empfing mich das viel zu laute Gejohle aus dem Fernseher. Auf der Suche nach dem Schlüssel durchwühlte ich gereizt meine Tasche, schloss die Tür auf, zog in der Garderobe die Weste aus und betrat mit den Einkaufstüten und dem Strauß Rosen das Wohnzimmer. Ohne aufzusehen, griff Sarah zur Fernbedienung und stellte ein bisschen leiser. Noch immer viel zu laut für ein Gespräch, doch weniger störend als zuvor. Konzentriert folgte sie dem Geschehen im Ring, ließ sich keinen einzigen Tritt entgehen, achtete mit aufmerksamer Miene auf jeden Schlag. Überrascht bemerkte ich, dass sie ein anderes T-Shirt als in der Früh trug. Das mir unbekannte Shirt wirkte alt und abgetragen, der abblätternde Aufdruck über ihrer Brust ließ gerade noch F*CK ME TENDER erkennen.

»Hallo Sarah«, rief ich, zählte bis zehn und versuchte es dann erneut.

Da ich auch diesmal keine Antwort bekam, schleppte ich die Einkäufe in die Küche, ordnete die Lebensmittel in Kühl- und Vorratsschrank ein, beschnitt die Rosen und stellte sie in die Vase. Ich befüllte sie zu einem Drittel mit Wasser und machte mich auf die Suche nach einem Aspirin. Beim Öffnen des Arzneimittelschranks fiel mir Sarahs Föhn auf den Kopf. Der hat da nichts verloren. Verflucht! Kurz darauf fand ich das Aspirin und warf eine Tablette in die Vase. Wie beruhigend doch das zischende Geräusch einer sich im Wasser auflösenden Tablette sein kann. Ich trug den Föhn ins Badezimmer. Beim Händewaschen stellte ich fest, dass Sarah geduscht und Zähne geputzt hatte. Ihre Zahnbürste lag neben dem Becher und das noch immer feuchte Handtuch lag am Boden. In Sarahs Haarbürste hingen mehrere Büschel rotblondgelockter Haare. Es überraschte mich nicht nur, dass sie, erstmals seit dem Kauf des Fernsehers, Körperpflege betrieben hatte, sondern in erster Linie die Gleichgültigkeit, mit der sie gegen die von ihr aufgestellten Ordnungsregeln verstoßen hatte. Ich stellte die Zahnbürste in Sarahs gelben Becher zurück, hob das Handtuch vom Boden auf, roch kurz daran und warf es angeekelt in den Wäschekorb.

»So kann es nicht weitergehen«, sagte ich und trat mit den Blumen an Sarah heran. »Hallo Schatz, schau, Rosen. Ich dachte, die könnten dir gefallen.«

Im nächsten Moment ärgerte ich mich bereits über den Nachgeschmack der Unterwürfigkeit, den meine Worte hinterließen. Sarahs Augen schweiften keine Sekunde vom Bildschirm ab. Ich setzte mich auf die schräg gegenüber der Couch platzierte Récamiere und beobachtete sie. Das ausgewaschene, viel zu weite T-Shirt und die wilden Locken verliehen Sarah eine unerwartet vulgäre und doch erregende Ausstrahlung. Ihr Mienenspiel drückte aus, dass nichts auf der Welt diesem Wettkampf auf dem Bildschirm Konkurrenz bieten konnte. Dabei bewegten sich ihre Pupillen fahrig hin und her. Bei besonders harten Treffern leckte sie sich über die Lippen und griff sich in den Schritt. Ich kannte meine Frau seit fast acht Jahren. So hatte ich sie noch nie erlebt.

»Wir müssen reden. Du kannst mich nicht einfach ausblenden. Du siehst und hörst mich doch … Sarah?«

Ich spürte, wie der Jähzorn in mir anschwoll. Er wuchs wie eine Flutwelle in mir an und ich wusste, dass es nur mehr Sekunden dauern würde, bevor ich die Kontrolle über mich verloren hatte. Mit einem Schrei sprang ich auf und riss das Stromkabel des Geräts so heftig aus der Steckdose, dass diese schlaff aus der Mauer hing. Verputz rieselte zu Boden. Ein kümmerliches Zischen begleitete das Kollabieren der Kampfszene am Bildschirm.

Unheilvolle Stille füllte den Raum, bis Sarah mit dem Keuchen begann, das ihre schlimmsten Wutanfälle ankündigte. Ich drehte mich zu ihr und wusste, dass ich jetzt ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher war. Ihre grünblauen Augen funkelten mich verächtlich an. Dreißig, neunundzwanzig, achtundzwanzig … Ich ließ mich wieder in die Récamiere sinken und atmete tief durch.

»Was soll das, du Arschloch«, schrie sie nach einigen Momenten Stille.

Sarah strahlte eine derbe Aggressivität aus, die ich bisher nie an ihr erlebt hatte. Auf gewisse Weise verdorben, ungehemmt und doch sehr erregend. Ich wehrte mich gegen die beginnende Erektion und zählte übertrieben langsam von zwanzig abwärts. Bei sieben hatte ich mich wieder unter Kontrolle.

»Was genau meinst du?«, fragte ich sie, bemüht, ruhig und kontrolliert zu wirken.

»Du hast den verdammten Stecker gezogen, du blöder, gehirnamputierter Schlappschwanz«, fauchte sie und ich spürte einige Tröpfchen Spucke im Gesicht. »Wie kommst du nur auf die beschissene Idee, den verfickten Stecker zu ziehen? Das geht dich alles gar nichts an. Das ist mein Leben. Lass mich gefälligst in Ruhe«, kreischte sie.

Sarahs Wut schien keine Grenzen zu kennen. Wie konnte Feindseligkeit das Gesicht einer geliebten Person nur so schnell zu einer schaudervollen Fratze entstellen? Sarahs Intelligenz, ihre Sanftheit und ihre Vernunft, Wesenszüge, die ich an ihr liebte – alles wie weggefegt!

»Ach so, es geht mich nichts an?«, fragte ich mit schneidender Stimme.

»Nein!«

»Wir sind seit acht Jahren ein Paar, so mit Vertrauen und Respekt und dem ganzen Drumherum, das damit verbunden ist! Eigentlich sollte das heißen, dass wir wie Erwachsene kommunizieren und dem Partner Erklärungen bieten, wenn wir auf einmal vor einem Fernseher dahinvegetieren. Würde ich zumindest sagen. Ja, du vegetierst vor dem Fernseher dahin! Das ist doch nicht normal. Du tust so, als würdest du mich weder hören noch sehen. Das ist richtig krank … Meinst du nicht, dass du mir zumindest eine Erklärung schuldest? Eventuell verstehe ich es ja! Versuch! Es! Doch! Einfach! Verdammt noch mal!«