Zum Buch
Die neuesten Gedichte der Literaturnobelpreisträgerin sind schnörkellos, reduziert und besitzen einen ganz eigenen Ton. Sie lassen einen nicht mehr los. Lakonisch und leicht wenden sie sich an ein Individuum, schwellen an zu einem Chor und weisen auf das große Ganze, das Kollektiv. Lebensgeschichten sind in ihnen verborgen, Segen und Fluch des Alterns, die Kunst, einen Bonsai zu beschneiden, der Verlust einer Reisegefährtin und der Tod der Schwester, die Kunst der Malerei und der Kalligraphie, die Weisheit des Daodejing. Und nicht zuletzt die Labsal der wärmenden Sonne, deren Helligkeit sich an den dunklen Schatten ermessen lässt, die sie wirft.
»Der ganze Schrecken und die ganze Herrlichkeit der Existenz finden sich in diesen Gedichten, die sich fernab des Trubels unserer Zeit abspielen.« Anton Thuswaldner / Die Furche
»Was Glücks Poetik auszeichnet, ist die Macht der Bewahrung, die Verewigung all dessen, was durch äußere Intervention bedroht erscheint, in der Manifestation des Wortes.« Björn Hayer / Frankfurter Rundschau
Zur Autorin
LOUISE GLÜCK hat bisher dreizehn Gedichtbände und zwei Essaysammlungen veröffentlicht. 2020 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet »für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht«. Glück erhielt u. a. auch den Pulitzerpreis, den Bollingen Prize und den National Book Award. Sie lehrt an der Yale und der Stanford University und lebt in Cambridge, Massachusetts.
Zur Übersetzerin
UTA GOSMANN, geb. 1973 in Bochum, lebt in New Haven, Connecticut. Sie ist Lyrikerin, Literaturwissenschaftlerin, Psychoanalytikerin und die Übersetzerin von Louise Glück, Susan Howe und Ellen Hinsey.
Louise Glück
Winterrezepte
aus dem
Kollektiv
GEDICHTE
Aus dem amerikanischen Englisch
von Uta Gosmann
Luchterhand
Für Kathryn Davis
Poem
Gedicht
The Denial of Death
Die Verleugnung des Todes
Winter Recipes from the Collective
Winterrezepte aus dem Kollektiv
Winter Journey
Winterreise
Night Thoughts
Nachtgedanken
An Endless Story
Eine endlose Geschichte
Presidents’ Day
Presidents’ Day
Autumn
Herbst
Second Wind
Neuer Auftrieb
The Setting Sun
Die untergehende Sonne
A Sentence
Ein Satz
A Children’s Story
Eine Kindergeschichte
A Memory
Eine Erinnerung
Afternoons and early Evenings
Nachmittage und frühe Abende
Song
Lied
Acknowledgments
Dank
Day and night come
hand in hand like a boy and a girl
pausing only to eat wild berries out of a dish
painted with pictures of birds.
They climb the high ice-covered mountain,
then they fly away. But you and I
don’t do such things –
We climb the same mountain;
I say a prayer for the wind to lift us
but it does no good;
you hide your head so as not
to see the end –
Downward and downward and downward and downward
is where the wind is taking us;
I try to comfort you
but words are not the answer;
I sing to you as mother sang to me –
Your eyes are closed. We pass
the boy and girl we saw at the beginning;
now they are standing on a wooden bridge;
I can see their house behind them;
How fast you go they call to us,
but no, the wind is in our ears,
that is what we hear –
And then we are simply falling –
And the world goes by,
all the worlds, each more beautiful than the last;
I touch your cheek to protect you –
Tag und Nacht kommen
Hand in Hand wie ein Junge und ein Mädchen
und halten nur ein, um wilde Beeren aus einer Schale zu naschen,
bemalt mit Bildern von Vögeln.
Sie ersteigen den hohen eisbedeckten Berg,
fliegen dann fort. Doch du und ich
tun solche Dinge nicht –
Wir steigen auf denselben Berg;
ich bete, der Wind möge uns emporheben,
doch es hilft nichts;
du duckst dich, um nicht
das Ende zu sehen –
Hinab und hinab und hinab und hinab
bläst uns der Wind;
ich versuche, dich zu trösten,
doch sind Worte keine Lösung;
ich singe dir vor, wie Mutter mir sang –
Deine Augen sind geschlossen. Wir ziehen vorbei
an dem Jungen und Mädchen, die wir zu Anfang sahen;
nun stehen sie auf einer Holzbrücke;
dahinter erkenne ich ihr Haus;
Wie schnell ihr seid, so rufen sie uns zu,
doch nein, es braust der Wind in unseren Ohren,
das ist es, was wir hören –
Und dann fallen wir nur noch –
Und die Welt zieht vorüber,
alle Welten, eine schöner als die andere;
ich streichle beschützend deine Wange –
1. A Travel Diary
I had left my passport at an inn we stayed at for a night or so
whose name I couldn’t remember. This is how it began.
The next hotel would not receive me,
a beautiful hotel, in an orange grove, with a view of the sea.
How casually you accepted
the room that would have been ours,
and, later, how merrily you stood on the balcony,
pelting me with foil-wrapped chocolates. The next day
you resumed the journey we would have taken together.
The concierge procured an old blanket for me.
By day, I sat outside the kitchen. By night, I spread my blanket
among the orange trees. Every day the same, except for the weather.
After a time, the staff took pity on me.
The busboy would bring me food from the evening meal,
the odd potato or bit of lamb. Sometimes a postcard arrived.
On the front, glossy landmarks and works of art.
Once, a mountain covered in snow. After a month or so,
there was a postscript: X sends regards.
I say a month, but really I had no idea of time.
The busboy disappeared. There was a new busboy, then one more, I believe.
From time to time, one would join me on my blanket.
I loved those days! each one exactly like its predecessor.
There were the stone steps we climbed together
and the little town where we breakfasted. Very far away,