Über dieses Buch:
Es hat eine lange Zeit gedauert, bis ich den Mut und die Klarheit aufbringen konnte, meine Autobiografie zu schreiben. Ich wollte eine Geschichte der Momente erzählen, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin – der Höhen und Tiefen, der Triumphe und Erschütterungen, der Katastrophen und der Träume. Auch wenn es im Verlauf meiner Karriere und meines sehr öffentlichen Privatlebens unzählige Geschichten über mich gab, war es unmöglich die Vielschichtigkeit meiner eigenen Erfahrungen in einem einzelnen Magazin-Artikel oder einem zehnminütigen TV-Interview zu vermitteln. Und selbst wenn mir das gelang, wurden meine Worte immer durch eine andere Person gefiltert, hauptsächlich, um ein bestimmtes Bild von mir zu entwerfen.
Dieses Buch entstand aus meinen Erinnerungen, meinen Fehltritten, meinen Kämpfen und meinen Songs. Ungefiltert. Ich bin tief eingetaucht in meine Kindheitserinnerungen und habe dem verängstigten kleinen Mädchen in mir eine Stimme gegeben. Ich habe die einsame und ehrgeizige Jugendliche sprechen und die betrogene und erfolgreiche Frau, die ich geworden bin, ihre Geschichte erzählen lassen.
Diese Memoiren zu schreiben war unglaublich hart und heilsam, und es machte mich demütig. Meine aufrichtige Hoffnung ist, dass auch ihr bewegt werdet zu neuen Einsichten nicht nur über mich, sondern auch über die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes.
In Liebe,
Mariah Carey
Über die Autorin:
Mariah Carey ist Amerikanerin mit Schwarzen und irischen Vorfahren. Sie ist Sängerin, Songwriterin, Produzentin, Schauspielerin und Unternehmerin, hat fünfzehn Studioalben aufgenommen und zahlreiche Preise und Auszeichnungen gewonnen. Sie hält den Rekord für die meisten Nummer-1-Singles einer Solokünstlerin und wurde in die Songwriters Hall of Fame aufgenommen. Ihrer weltweiten Fangemeinde ist Carey für immer dankbar und zutiefst ergeben. Mariah Carey ist Mutter zweier Kinder, Moroccan und Monroe.
MARIAH CAREY
mit MICHAELA ANGELA DAVIS
MARIAH
GANZ ICH SELBST
Die Geschichte meines Lebens
Aus dem Amerikanischen
von Constanze Wehnes

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Meaning of Mariah Carey bei Andy Cohen Books, New York.
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Der Begriff »Schwarz« wird in diesem Buch groß geschrieben.
Er bezeichnet keine Eigenschaft, die sich auf eine Hautfarbe bezieht, sondern wird bewusst von Menschen als Selbstbezeichnung gewählt, die aufgrund ihrer Hautfarbe Erfahrungen mit Rassismus machen.
Deutsche Erstausgabe 2021
Copyright © 2020 by Mariah Carey
All rights reserved.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung
von einer Fotografie von Ruven Afanador/CPi Syndication
und einer privaten Fotografie von Mariah Carey,
koloriert von Debra Lill
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-28083-3
V001
www.heyne.de
Für mein Vermächtnis, meine Kinder Roc und Roe.
Ihr seid die menschgewordene, bedingungslose Liebe.
Für meine Vorfahren, meine Herkunft,
meinen gesamten Stammbaum …
Ihr kamt aus zwei verschiedenen Welten,
die oftmals im Streit miteinander lagen.
Doch das Beste von euch lebt in mir weiter, schlussendlich, harmonisch.
Und für Pat, meine Mutter, die trotz allem,
glaube ich, wirklich getan hat, was sie konnte.
Ich werde dich lieben, so gut ich kann, für immer.
Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.
Hebräer 11:1
Prolog
Teil I – Wayward Child
Teil II – Sing! Sing!
Teil III – All That Glitters
Teil IV – Emancipation
Epilog
Dank
Songnachweis
Bildteil
Bildnachweis
Ich verweigere mich der Zeit, daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Im Gegenteil, ich habe dazu etliche Memes erstellt und Witze darüber gerissen, dabei meine ich das vollkommen ernst. An meinem achtzehnten Geburtstag habe ich geweint. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, weil ich noch keinen Plattenvertrag hatte. Das war mein einziges Ziel. Es war, als hätte ich den Atem angehalten, bis ich etwas Richtiges in Händen halten konnte: ein Album, auf dem »Mariah Carey« stand. Als ich meinen Vertrag hatte, konnte ich endlich ausatmen und mein Leben beginnen. Ab diesem Tag zählte ich mein Leben in Alben, kreativen Erfahrungen, Karrieresprüngen und Ferien. Ich lebe von Weihnachten zu Weihnachten, von Fest zu Fest, von einem glänzenden Augenblick zum nächsten, statt meine Geburtstage oder mein Alter zu zählen (zum großen Leidwesen gewisser Personen).
Das Leben hat mich gezwungen, meinen eigenen Weg in dieser Welt zu finden. Warum soll ich mir die Reise damit verderben, ständig auf die Uhr zu sehen und die dahintickenden Jahre zu beweinen? Mein Leben war schon ereignisreich genug, bevor auch nur irgendjemand meinen Namen kannte, wie könnte Zeit allein das alles erfassen und wiedergeben? Als ich aufhörte, mich tagtäglich in das starre Korsett der Zeit zu zwängen, fiel es mir plötzlich leichter, mich selbst nicht zu verlieren, das Kind in mir nicht nur fest-, sondern am Leben zu halten. Darum fühle ich auch eine gewisse Verwandtschaft zu wiederkehrenden Figuren wie Santa Claus, der Zahnfee oder Tinkerbell. Sie erinnern mich daran, dass wir zeitlos sein können.
Sich zu sehr auf die Zeit zu konzentrieren ist Zeitverschwendung. Die Zeit kann sehr trostlos sein, Dahling, warum also darin leben? Schließlich geht es doch um die Momente, die wir selbst erschaffen und an die wir uns erinnern. Meine Erinnerungen sind mir heilig, sie sind einige der wenigen Dinge, die ganz und gar mir gehören. In diesen Memoiren habe ich einige der wichtigsten Erinnerungen zusammengetragen, die meine Geschichte am besten erzählen, die verraten, wer ich wirklich bin, so wie ich mich sehe, und dabei spielt die Reihenfolge keine Rolle. Es geht vorwärts und rückwärts, von Moment zu Moment, die alle zusammengenommen die Person ergeben, die ich heute bin – ganz ich selbst.

Ich wollte sie schützen, ich hatte nie die Absicht, sie gefangen zu halten.
Doch über viele Jahre war sie in meinem Innern eingeschlossen – immer allein, für sämtliche Augen sichtbar und doch verborgen vor all den Menschenmassen. In meinen frühen Werken hat sie noch deutliche Spuren hinterlassen: Oftmals sieht man sie hinter einem Fenster, winzig klein in einem riesigen Rahmen, barfuß steht sie da und starrt auf eine verlassene Schaukel, die in der violetten Abenddämmerung an einem einsamen Baum hin und her schwingt. Oder sie sitzt in der zweiten Etage eines Brownstone-Hauses und beobachtet die Nachbarskinder, die unten auf dem Gehsteig umhertanzen. Sie taucht in blauen OshKosh-Overalls in der Schulaula auf oder mit einem Ball in den Händen in der Sporthalle, sehnlichst darauf wartend, in ein Team gewählt zu werden. Manchmal erwischt man sie auch in einem seltenen Freudenmoment, dann flitzt sie in einer Achterbahn oder auf Inlinern vorbei, die Arme in die Luft gereckt. Sie ist immer da, eine dumpfe Sehnsucht hinter meinen Augen. Doch obwohl sie lange Jahre verlassen und verängstigt in der Dunkelheit verbrachte, hat sie nie ihr Licht verloren. Sie hat sich in meinen Songs gezeigt – ihre Herzenswünsche schallen durch das Radio oder flimmern über Bildschirme. Millionen von Menschen kennen sie, obwohl sie sie nie kennengelernt haben.
Sie ist die kleine Mariah, und vieles wird sie selbst erzählen, so wie sie es erlebt hat.
Einige meiner frühesten Erinnerungen zeigen gewalttätige Momente. Und darum habe ich immer eine dicke Decke mit mir herumgetragen, mit der ich große Teile meiner Kindheit verhüllte. Sie war eine Last. Ich ertrage ihr Gewicht nicht länger und das Schweigen des kleinen Mädchens, das unter dieser Decke erstickt. Ich bin jetzt eine erwachsene Frau und Mutter. Ich habe schlimme Dinge gesehen, Ängste durchlitten, Narben davongetragen – und ich habe überlebt. Ich nutzte meine Stimme und meine Songs, um andere zu inspirieren und mein erwachsenes Selbst zu emanzipieren. Und dieses Buch möchte ich dazu nutzen, endlich auch das kleine, verängstigte Mädchen in meinem Innern zu befreien. Es ist Zeit, diesem Mädchen eine Stimme zu geben, damit es seine Geschichte so erzählen kann, wie es sie erlebt hat.
Obwohl man die gelebten Erfahrungen einer Person eigentlich nicht anzweifeln kann, werden die Darstellungen gewisser Ereignisse in diesem Buch sicher von den Schilderungen meiner Familie, Freunde oder anderer Personen abweichen, die glauben, mich zu kennen. Doch diese Anfechtungen habe ich schon zu lange erduldet, ich bin es leid. Ich habe diesem kleinen Mädchen den Mund zugehalten, um andere zu schützen. Selbst »diese anderen«, die mich nie geschützt haben. Ich habe immer versucht »darüberzustehen«, doch trotzdem wurde ich durch den Dreck geschleift, verklagt und über den Tisch gezogen. Am Ende habe ich ihr nur noch mehr wehgetan, und das hat mich beinahe umgebracht.
Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu zeigen, wie widerstandsfähig zum Schweigen verurteilte kleine Mädchen und Jungen auf der ganzen Welt sind. Um ihnen zu beweisen, dass wir ihnen glauben. Um ihre Erlebnisse zu würdigen und ihre Geschichten zu erzählen.
Und um sie zu befreien.
Early on, you face
The realization you don’t
Have a space
Where you fit in
And recognize you
Were born to exist
Standing alone
»Outside«
Eine Zeit lang in meiner frühen Kindheit hielt ich mich für unwürdig, überhaupt am Leben zu sein. Ich war zu jung, um ernsthaft darüber nachzudenken, mein Leben zu beenden, doch gerade alt genug, um zu erkennen, dass es noch nicht begonnen hatte. Dass ich noch nicht den Ort gefunden hatte, an den ich gehörte. Wohin ich auch blickte, niemand in meinem Umfeld schien wie ich auszusehen oder zu empfinden.
Meine Mutter Patricia hatte hellere Haut und glatteres Haar. Mein Vater Alfred Roy hatte dunklere Haut und krauseres Haar. Ihre Gesichtszüge sahen meinen überhaupt nicht ähnlich. Sie beide waren von Reue durchfurcht, sie kamen mir vor wie Geiseln einer endlosen Aneinanderreihung grausamer Umstände. Meine Schwester Alison und mein Bruder Morgan waren beide älter und dunkler – und damit meine ich nicht nur ihre Hautfarbe, obwohl sie etwas brauner waren als ich. Die beiden hatten eine ähnliche Energie, die Licht abzuschirmen schien. Ihre Art ließ nur wenig Platz für Traumtänzerei, die in meiner Natur lag. Wir hatten dasselbe Blut, und doch fühlte ich mich unter ihnen immer wie eine Fremde, wie ein Eindringling in meiner eigenen Familie.
Als kleines Mädchen hatte ich oft Angst, und die Musik war meine Zuflucht. Mein Zuhause war erdrückend, Streit und Chaos pressten alles Leben daraus. Aber wenn ich sang, ganz leise, fast flüsternd, beruhigte mich das. In meiner Stimme fand ich Ruhe, Wärme und Licht, sanfte Schwingungen, mit denen ich mir selbst Linderung verschaffen konnte. Mein Flüstergesang war mein eigenes, geheimes Wiegenlied.
Darüber hinaus fand ich im Gesang auch eine Verbindung zu meiner Mutter, einer Opernsängerin, die auf einem Konservatorium, der Juilliard School, ausgebildet worden war. Zu Hause lauschte ich oft ihren Stimmübungen, die sich wiederholenden Töne wirkten wie ein tröstliches Mantra auf meinen verängstigten Verstand. Ihre Stimme kletterte Tonleitern hinauf und hinab und dann wieder hinauf, immer höher und höher – und etwas in mir schwebte mit ihr empor. (Mit Begeisterung sang ich »Lovin’ You« von Minnie Riperton mit und folgte ihrer engelsgleichen, seelenvollen Stimme bis in die Wolken.) Oft trällerte ich auch einfach vor mich hin, zur Freude meiner Mutter, die mich stets ermunterte. Einmal probte sie eine Arie aus der Oper Rigoletto und verhaspelte sich immer wieder an derselben Stelle. Da sang ich es ihr vor, in perfektem Italienisch. Ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein. Sie sah mich an, vollkommen verblüfft, und in diesem Moment wusste ich, dass sie mich wirklich sah. Ich war nicht mehr nur ein kleines Mädchen. Ich war Mariah. Eine Musikerin.
Mein Vater hatte mir das Pfeifen beigebracht, bevor ich überhaupt sprechen konnte. Schon damals hatte ich eine leicht kratzige Sprechstimme, und es gefiel mir, dass sie anders war als die der anderen Kinder in meinem Alter. Doch wenn ich sang, war meine Stimme weich und stark. Einmal, mit etwa acht Jahren, war ich mit meiner Freundin Maureen unterwegs. Mit ihrer Porzellanhaut und dem glänzend braunen Haar, das ihr hübsches Gesicht umrahmte, sah sie ein bisschen aus wie Dorothy aus Der Zauberer von Oz. Sie war eines der wenigen weißen Mädchen in der Nachbarschaft, die mit mir spielen durfte. Wir gingen nebeneinander die Straße hinunter, und ich fing an, irgendetwas zu singen. Da blieb sie wie angewurzelt stehen und hörte mir nur zu. Dann sah sie mich an und sagte: »Wenn du singst, klingt es, als hättest du Instrumente dabei. Deine Stimme ist von Musik umgeben.« Das hörte sich richtig feierlich an, fast schon wie ein Gebet.
Man sagt, Gott spreche durch die Menschen, und ich werde meiner Freundin ewig dankbar sein, denn ihre Worte trafen mich direkt ins Herz. Sie sah etwas Besonderes in mir und sprach es aus. Deshalb glaubte ich daran, dass meine Stimme aus Instrumenten bestand, dass Klaviertöne, Violinen und Flöten aus mir sangen. Ich glaubte daran, dass meine Stimme Musik sein konnte. Und dafür hatte ich nur jemanden gebraucht, der mich wirklich hörte.
Ich erkannte, dass meine Stimme anderen Menschen guttun konnte, dass ihr magische Kräfte innewohnten. Und daraus schloss ich, dass ich nicht unwürdig war, sondern dass ich als Person einen Wert hatte. Ich besaß etwas, das ich anderen Menschen geben konnte – nämlich das Feeling, das Gefühl. Und das verfolgte ich mein gesamtes Leben lang. Es gab mir einen Grund, am Leben zu sein.
Zwölf Cops waren nötig, meinen Bruder und meinen Vater zu trennen. Die mächtigen Männer waren ineinander verknotet wie ein wüster Hurrikan, der tosend ins Wohnzimmer krachte. Von jetzt auf gleich waren alle vertrauten Dinge aus meinem Sichtfeld verschwunden – Fenster, Fußboden, Möbel, Licht. Alles, was ich sehen konnte, war diese wild um sich schlagende Masse aus dunklen Uniformen, riesigen, fest zupackenden Händen und fliegenden Fäusten, Gliedmaßen, die sich von anderen losrissen, schweren, schwarz glänzenden Schuhen, die über den Boden schlurften und stampften. Hier und da blitzte etwas in dem finsteren Wirbel auf: Knöpfe, Abzeichen und Pistolen, die in abgegriffenen Lederholstern an breiten schwarzen Gürteln um massige Hüften geschnallt waren oder steif zwischen Handteller und Daumen herausragten. Chaos erfüllte die Luft, Flüche, schwerer Atem und Schmerzensschreie. Das gesamte Haus schien zu wanken. Und irgendwo im Auge dieses Sturms waren die beiden wichtigsten Männer in meinem Leben und zerstörten sich gegenseitig.
Ich habe mir die Wut meines Bruders immer wie eine Naturgewalt vorgestellt – wuchtig, zerstörerisch und unvorhersehbar. Ich weiß nicht, ob der Auslöser für seine Explosivität ein bestimmter Vorfall oder eine Art Krankheit war, doch ich habe ihn nie anders gekannt.
Das kleine Mädchen, das ich damals war, hatte nur sehr wenige Erinnerungen an einen großen, beschützenden Bruder. Ich hatte eher das Gefühl, mich vor ihm schützen zu müssen, und manchmal sogar meine Mutter.
Dieser Streit zwischen meinem Bruder und meinem Vater war schneller eskaliert als üblich. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich ihr Geschrei in einen Tornado aus Fäusten, der durch das Zimmer fegte, Möbel umwarf und eine Spur der Zerstörung hinter sich herzog. Die beiden waren von Wahn und Raserei gepackt, und niemand hätte es gewagt dazwischenzugehen.
Schon als Kleinkind hatte ich einen Instinkt entwickelt, der mich vor aufziehender Gewalt warnte. So wie ich Regen riechen konnte, erkannte ich auch an der Stimmlage schreiender Erwachsener, wann ich in Deckung gehen sollte. Verlor mein Bruder die Beherrschung, schlug er auch mal Löcher in die Wand oder warf Gegenstände durch die Gegend. Ich wusste nie genau, wie oder warum ein Streit begann, doch ich wusste, wann Spannungen zu einer Auseinandersetzung wurden und wann eine solche handgreiflich wurde. Und mein Warnsystem sagte für diese Differenzen geradezu epische Ausmaße voraus.
Nana Reese war bei uns, was eigentlich komisch war, denn sie oder andere Verwandte meines Vaters kamen nur selten aus Harlem zu Besuch. Wir wohnten damals in Melville, einer überwiegend weißen, recht wohlhabenden Gegend im Suffolk County auf Long Island, New York, doch im Laufe meiner Kindheit zogen wir insgesamt dreizehnmal um. Dreizehnmal packten wir all unsere Habseligkeiten zusammen und suchten uns ein neues Zuhause – oder besser gesagt: suchten uns ein Zuhause, das sicherer sein sollte als das vorherige. Dreizehn Neuanfänge, dreizehn neue Straßen mit neuen Häusern voller Menschen, die uns misstrauisch beäugten und sich fragten, wo und wer wohl unser Vater sei. Dreizehn Gelegenheiten, als unwürdig abgestempelt und ausgeschlossen zu werden.
Pastorin Nana Reese, der Good Reverend Roscoe Reese und ihre African Methodist Pentecostal Church, das war der Hintergrund meines Vaters. Roy war der einzige Sohn von Addie, Nana Reeses Schwester. Mein Vater lebte nie mit seinem Vater zusammen, zwischen den beiden lag immer eine tiefe Schlucht, ein Mysterium, das unweigerlich ein Martyrium in sich barg. Diese Menschen in dem Dörfchen Harlem waren seine Familie. Sie waren aus Alabama, North Carolina und anderen Teilen des Südens hochgekommen und hatten ihre Traditionen, Traumata und Talente mitgebracht – einige davon uralt, afrikanisch und mystischen Ursprungs.
Nana Reese und ich fanden uns, kurz bevor die Hölle richtig losbrach. Das Donnergrollen von Flüchen, Fäusten und Füßen übertönte alle anderen Geräusche, deshalb bekam ich nicht mit, als die Cops hereinstürmten.
Ich wusste nicht, ob sie uns helfen oder umbringen würden. Zwei Schwarze, gewalttätige Männer auf Long Island in den Siebzigern – da trafen Polizei und Hilfe selten in derselben Person ein. Im Gegenteil, Gewaltausbrüche wurden durch die Anwesenheit der Polizei meist nur verkompliziert und verschärft. Das hat sich bis heute nicht geändert, doch damals wurde ich zum ersten Mal damit konfrontiert. Ich hatte noch keinerlei Erfahrung, die mir in dieser Situation hilfreich gewesen wäre; tatsächlich hatte ich gar nichts, was mir irgendwie hilfreich gewesen wäre. Meine Großcousine Lavinia, Nana Reeses Tochter, sagte immer: »Schwarz zu sein bringt für euch Kids nur Bürden mit sich, gar keinen Nutzen.« Erst viel später verstand ich, wie viel Wahrheit in dieser Beobachtung lag.
Natürlich war es nicht das erste Mal, dass mein Vater und mein Bruder derart aneinandergerieten – solange ich denken kann, war ihre Beziehung ein Krisengebiet. Doch bisher war nie die Polizei gerufen worden. Bisher hatte ich nie über die Möglichkeit nachgedacht, dass ein Mitglied meiner Familie auf grausame Art und Weise vor meinen Augen sterben könnte. Oder dass ich sterben könnte. Ich war noch keine vier Jahre alt.

Bevor meiner Mutter und meinem Vater ihre Ehe unerträglich wurde, lebten sie zusammen in Brooklyn Heights. Schon seit 1910 hatte sich die Boheme in dieser Nachbarschaft niedergelassen, und die Fünfzigerjahre brachten eine Welle von Aktivisten – linkspolitische, wohlhabende Stadtmenschen, die auf gar keinen Fall in die Vorstädte wollten. So war der Stadtteil in den Siebzigern noch immer eine bunte Mischung, darunter auch viele Familien der Arbeiter- und Mittelklasse. Es war noch vor den Yuppies und der Gentrifizierung. Wenn es damals überhaupt einen Ort gab, an dem eine junge Familie mit einer weißen Mutter und einem Schwarzen Vater nicht schräg angesehen wurde, dann am ehesten in Brooklyn Heights.
Während meiner Kindheit lebte ich an vielen, dubiosen Orten, vor allem eben auf Long Island – ich fühlte mich immer wie eine Schiffbrüchige auf dieser Insel vor Manhattan. Meine Eltern arbeiteten beide sehr hart, damit wir in Gegenden wohnen konnten, in denen wir zumindest einen flüchtigen Blick auf das schwer fassbare »bessere« Leben werfen konnten, in denen wir uns »sicher« fühlen durften. Nach konventioneller Auffassung darf man »besser« und »sicher« getrost mit »weiß« übersetzen.
Doch wir waren keine konventionelle Familie. War es besser, wenn meine Mutter allein und als Erste das Haus verlassen musste, vor meinem Schwarzen Vater und ihren Kindern, die weder Schwarz noch weiß waren – zu ihrer Sicherheit? Wie wirkt sich das auf die Psyche eines Mannes aus, der doch der Familienvorstand sein wollte? Wie soll dieser Mann seine Familie beschützen? Und was signalisiert diese Würdelosigkeit seinem Schwarzen Sohn?

Nachdem die Polizisten meinen Vater und Bruder endlich voneinander getrennt hatten, wenn auch unter erheblichem Gebrüll, waren alle noch am Leben. Der gefährlichste Teil des Sturms war vorübergezogen, der Donner war verklungen. Ich erinnere mich nur noch, dass ich weinend und zitternd in Nana Reeses Armen lag. Sie hatte mich wie ein Bündel Wäsche aufgeklaubt und sich mit mir auf das »Schaukelsofa« gesetzt, so nannten wir Kinder die billige, wacklige Konstruktion, deren Bezug die Farbe von Staub, Rost und Oliven hatte und von senffarbenen Flecken übersät war. Manchmal glaube ich, dass ebendiese Couch für meine spätere Vorliebe für Chanel verantwortlich war. Wir Kinder nannten sie das »Schaukelsofa«, weil ihr ein Bein fehlte, und wenn man sein Gewicht von vorne nach hinten verlagerte, dann, ja, schaukelte sie eben ein wenig. Ein ehrenwerter Versuch, kaputte Dinge mit Humor zu bedenken, ein Talent, das ich mit meinem Bruder und meiner Schwester teile. Und inmitten dieser Gewalt spendete dieses traurige Sofa mir unheimlich viel Trost.
Nana Reese drückte mich fest an sich, bis meine kleine Gestalt nicht mehr zitterte und mein Atem wieder normal war. Aus der Desorientierung erwacht, kehrte ich zurück in dieses Zimmer, in meinen Körper. Sie hob mein Gesicht zum Licht, sodass ich ihr in die Augen sehen musste. Sie legte ihre zarte Hand fest auf mein Bein, und ihre Berührung brachte das Nachbeben, das mir noch immer durch die Adern jagte, zur Ruhe. Sie sah mich an, wie ich noch nie angesehen worden war, ihr Blick war nicht der einer Großtante, Mutter oder Ärztin. Stattdessen kam es mir vor, als würde sie direkt in meinen Kern sehen. In diesem Moment war ich kein verängstigtes kleines Mädchen mehr und sie keine tröstende Frau. Wir waren zwei Seelen, zeitlos und ebenbürtig.
»Hab keine Angst vor all dem Streit vor deinen Augen«, sagte sie. »All deine Träume und Wünsche werden für dich wahr werden. Denk immer daran.«
Mit ihren Worten strömte liebevolle Wärme aus ihrer Hand in mein Bein, verteilte sich in sanften Wellen in meinem gesamten Körper, stieg hoch in meinen Kopf und aus ihm heraus. Ein Weg war durch die Zerstörung bereitet worden; ich wusste, da war Licht. Und irgendwie wusste ich auch, dass dieses Licht mir gehörte und auf Dauer währen würde. Vor diesem Moment hatte ich keine Träume gehabt, an die ich mich entsinnen könnte, und nur sehr wenige Erinnerungen. Ganz zu schweigen von Wünschen oder einem Lied in meinem Kopf.
Ab meinem vierten Lebensjahr, nachdem meine Eltern sich scheiden ließen, sah ich Nana Reese nur noch selten. Die Familien meiner Mutter und meines Vaters lagen im Streit, und da ich bei meiner Mutter lebte, war ich meist ausgeschlossen von Nanas Leben voller Heilung und Heiligkeit in Harlem. Später erfuhr ich, dass die Leute sie »eine Prophetin« nannten. Ich erfuhr auch, dass sie nicht die einzige Heilerin in meiner Familiengeschichte war.
Ich glaube, an diesem Tag war ein tiefer Glaube in mir erweckt worden. In meiner Seele begriff ich, dass, was immer mit mir oder um mich herum passierte, ich mich stets auf das verlassen konnte, was in mir selbst lebte. Ich trug etwas in mir, das mich durch jeden Sturm führen würde.
And when the wind blows, and shadows grow close
Don’t be afraid, there’s nothing you can’t face
And should they tell you you’ll never pull through
Don’t hesitate, stand tall and say
I can make it through the rain
»Through The Rain«
Als ich sechs Jahre alt war, zog meine Mutter mit mir und meinem älteren Bruder in ein winziges, unscheinbares Haus in Northpost auf Long Island. Das Häuschen thronte traurig ganz oben am Ende einer langen, gewundenen Treppe aus zahllosen Betonstufen.
Ein paar kleine Zimmer lagen zu beiden Seiten einer steilen, knarzenden Treppe, die hinauf zu noch kleineren Räumen führte. Meine Mutter war tagsüber meist arbeiten und nachts unterwegs, deshalb musste Morgan den Babysitter für mich spielen, wofür er jedoch gänzlich ungeeignet war. Oft ließ er mich einfach allein und traf sich mit seinen Freunden. Eines Abends saß ich allein vorm Fernseher und sah eine Dokumentation über gekidnappte Kinder – genau das Richtige für eine Sechsjährige. Und in diesem Moment warfen auch noch ein paar Nachbarskinder Steine gegen das Fenster. Ihre Stimmen zerrissen die Dunkelheit: »Mariah, wir kommen dich holen!« Die Sendung im Fernsehen, diese Kinder, die Nacht, dieses Haus, meine Einsamkeit … mir gefror das Blut in den Adern.
Ich wollte von meinem Bruder geliebt werden. Seine gewaltige Energie beeindruckte mich, doch sie machte mir auch Angst. Dieses kleine Haus konnte unmöglich die schwere Last tragen, die wir ihm mit unserem Schmerz und unserer Angst aufluden – vor allem mein Bruder. Emotional war es eine sehr intensive Zeit; wir alle hatten unsere Wunden. Ich war ein verängstigtes Mädchen, meine Mutter hatte ein gebrochenes Herz und mein Bruder … sagen wir mal, seine Wut hatte längst die Grenzen der gewöhnlichen Teenagerlaunen gesprengt, spätestens als er auf die Highschool ging. Schon in der Middle School steigerte er sich immer weiter in seinen Jähzorn hinein. Zuvor war mein Bruder eine sehr kreative Person gewesen, ein vielversprechender Sportler. Doch er war schon früh in seinem Leben gemobbt und verprügelt worden, weil er eine Behinderung hatte und außerdem das Kind eines Schwarzen Mannes und einer weißen Frau war. Seine Haut, eine deutlich sichtbare Markierung, die ihn von den weißen Jungs auf Long Island unterschied, machte ihn zu einer Zielscheibe. Kinder können grausam sein, doch gepaart mit Rassismus wird daraus eine besonders niederträchtige Boshaftigkeit, die oftmals von Erwachsenen geduldet (und gelernt) wird. Vermutlich hatte mein Bruder auch von den Schwarzen Kids einiges zu ertragen. Die Tatsache, dass er ihrer Form des sehr offensichtlichen »Schwarzseins« entgangen war – die sie grundlosen Anfeindungen durch die Polizei aussetzte –, führte mit Sicherheit zu Verbitterung, die sich in Beschimpfungen und Schlägen entlud.
Mein Bruder zerbrach sehr früh. Er zersprang in tausend Teile, die der Wind davontrug, und da er nie etwas anderes gekannt hatte, war Zerstörung seine einzige Verteidigung. Er kämpfte gegen alles, gegen seine eigenen Dämonen und seine Mitmenschen, doch vor allem gegen unseren Vater, der ihm nicht helfen konnte, die verstreuten Teile wieder einzusammeln. Stattdessen schien diese Beziehung meinen Bruder nur noch tiefer in seine innere Zerrissenheit zu pressen. Ein gebrochener Mann kann seinem gebrochenen Sohn nicht helfen. Die Versuche unseres Vaters, ihn mit veralteten Methoden wieder zusammenzukleben und mit militärischer Disziplin auf das Erwachsenenleben vorzubereiten, waren zum Scheitern verurteilt. Das zerrüttete Verhältnis war die immerwährende Pein meines Bruders und der Grund für seine überschäumende Wut.
Den Großteil meiner Kindheit verbrachte ich eingekeilt zwischen dem Zorn meines Bruders und der traurigen Suche meiner Mutter. Zorn und Mutlosigkeit sind beide äußerst schädlich, doch ich glaube, das eine sticht nach innen und das andere nach außen. Treffen sie aufeinander, kann das katastrophale Folgen haben. Als ich in den Kindergarten kam, waren Katastrophen für mich bereits an der Tagesordnung. Während unserer Zeit in Northport gab es zwischen meiner Mutter und meinem Bruder täglich kleinere Explosionen. Ich trainierte mir an, diese Ausbrüche still zu ertragen und abzuwarten. Meistens blendete ich die Worte und Gründe aus – das Warum war das Hoheitsgebiet der Erwachsenen. Für mich waren ihre Auseinandersetzungen nur ein formloser Schwall lauter Stimmen, durchstochen von einem Stakkato unbarmherziger Verwünschungen.
An einen Streit erinnere ich mich jedoch sehr genau und auch an den Grund: Mein Bruder wollte sich das Auto ausleihen, doch meine Mutter erlaubte es nicht. Natürlich hatten sie schon hundertmal darum gestritten, doch aus irgendeinem Grund war es dieses Mal anders. Ich hörte hin. Normalerweise begannen ihre Unstimmigkeiten so, wie ich mir normale Reibereien zwischen Teenagern und Eltern vorstellte. Diese nicht. Es begann bereits auf Explosionsniveau und eskalierte schnell zu einem hitzigen Wortgefecht, bei dem verletzende Worte durch das Zimmer flogen wie Schüsse, die von den Wänden abprallten und dabei immer grausamer wurden. Diesem Kreuzfeuer konnte ich nicht entkommen. Die Schreie schossen von Zimmer zu Zimmer, die Treppe hinauf und wieder hinunter. Das gesamte Haus wurde zum Schlachtfeld, es gab keinen sicheren Ort. Ich spürte, wie die Luft sich zusammenzog, als mein Bruder und meine Mutter sich Auge in Auge gegenüberstanden, nur durch wenige knisternde, zornerfüllte Zentimeter getrennt. Ich hatte Todesangst. Mein ganzer Körper wurde steif. Mit aufgerissenen Augen fixierte ich einen Punkt zwischen ihnen und rief »Hört auf! Hört auf!«, wieder und immer wieder, während mir die Tränen über die Wangen strömten. Ich hoffte, meine Stimme könnte durch diesen Spalt schlüpfen und sie nur einen Moment lang entwaffnen.
Plötzlich ertönte ein lautes, scharfes Krachen, wie ein richtiger Schuss. Mein Bruder hatte meine Mutter mit solcher Kraft weggestoßen, dass ihr Körper gegen die Wand schlug. Ich beobachtete, wie ihre Gestalt starr wurde, einen Moment lang sah es so aus, als sei sie an der Wand eingefroren, wie ein Bild daran aufgehängt, ihre Füße ein paar Zentimeter über dem Boden schwebend. Und dann wurde sie völlig schlaff, als seien ihre Knochen geschmolzen, fiel sie auf dem Boden in sich zusammen. Das Ganze passierte im Bruchteil einer Sekunde, doch es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Mein Blick war weiterhin auf diesen Punkt in der Luft geheftet, nur dass meine Mutter jetzt zusammengeknautscht auf dem Boden lag. Mein Bruder stampfte aus der Tür und knallte sie hinter sich zu, wobei er das Haus ein letztes Mal erschütterte. Dann raste er im Auto unserer Mutter davon.
Ich stand noch immer wie angewurzelt in der unheimlichen Stille da. Laut hörte ich mich atmen, doch ich wusste nicht, ob meine Mutter überhaupt noch Luft bekam.
Eine eiskalte Klarheit senkte sich auf mich herab, und als sie sich an meinen Körper heftete, fiel ein kleines, weiches Fragment meiner Kindheit von mir ab. Ich riss mich zusammen. Ohne den Blick von meiner regungslosen Mutter zu lösen, ging ich hinüber zu unserem Telefon und presste den schweren Hörer an mein Ohr. Meine Finger drückten die eckigen Tasten in einer vertrauten Reihenfolge. Es war die Nummer einer Freundin meiner Mutter, die sie manchmal besuchte, eine der wenigen, die ich auswendig kannte.
Ich räusperte mich, damit man mich über das Hintergrundrauschen gut hören konnte. Tränen drückten mir auf die Stimme, doch ich gab mir Mühe, möglichst ruhig zu erzählen, was passiert war: »Mein Bruder hat meine Mutter verletzt, und ich bin allein zu Hause. Bitte, hilf mir.« Ich weiß nicht mehr, was sie antwortete. Ich legte auf, den Blick nach wie vor auf den Körper meiner Mutter geheftet. Ich fiel in eine Art Trance.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, schließlich schreckte ich hoch, als es an die Tür hämmerte. Schnell öffnete ich der Freundin meiner Mutter, und mehrere Polizisten rauschten ins Haus. Ich verstand keines ihrer Worte, ich sah nur, wie sie zu meiner Mutter gingen. Und dann bewegte sie sich. In dem Augenblick, als ich bemerkte, dass sie lebte, fiel die Schockstarre von mir ab. Eine Welle aus Angst und Panik schlug über mir zusammen, die noch dämmrige Erkenntnis dessen, was eigentlich passiert war – was fast passiert wäre – und welch ungewisse Zukunft mich erwartete. Ich rollte mich auf dem Boden zusammen, hielt mich fest und weinte leise. Ich hörte die schwache Stimme meiner Mutter, die langsam wieder zu Bewusstsein kam. Und dann vernahm ich eine andere Stimme, kristallklar und knapp über meinem Kopf. Es war eine Männerstimme, eine Stimme, die ich niemals vergessen werde.
Einer der Polizisten schaute auf mich hinunter und sagte zu dem Polizisten neben ihm: »Wäre ein Wunder, wenn die es schafft.« An diesem Abend wurde ich also weniger Kind und mehr Wunder.
I don’t want a lot for Christmas
There is just one thing I need
I don’t care about the presents
Underneath the Christmas tree
»All I Want For Christmas Is You«
Meine Mutter klappte den winzigen Holztisch aus, sodass er für den einen Tag beinahe groß genug für eine Familie war. Mit ein paar einfachen Dekorationen wurde er – nebst einem kleinen, recht traurig wirkenden Weihnachtsbaum, der wie der von Charlie Brown aussah – zum festlichen Mittelpunkt eines ansonsten spärlich eingerichteten Wohnzimmers. Trotz unserer Lebensumstände in dem heruntergekommenen Haus, in dem wir beide lebten, wollte meine Mutter uns für ein paar Tage ein »wundervolles Leben« bescheren.
Die Tage bis Weihnachten waren ein Fest. Meine Mutter besorgte einen Adventskalender, und wir öffneten jeden Tag ein Türchen. Ich las vor, was dahinter zum Vorschein kam, einen Ausschnitt aus einer Geschichte oder ein Gedicht, und durfte die Schokolade essen. Meine Mutter machte Glühwein, der die modrige Feuchtigkeit im Haus mit seinem warmen, würzigen Duft überdeckte. Ich wusste, dass wir nicht viel Geld hatten, erwartete also nie größere Geschenke oder teures Spielzeug, doch ich fand es herrlich, dass wir uns trotzdem um eine fröhliche Weihnachtsstimmung bemühten. Wir machten sauber, schmückten das Haus und sangen natürlich. Wenn meine Mutter mit ihrer Opernstimme Weihnachtslieder sang, kam mir unser eingeengter Alltag plötzlich viel freier vor.
Mutter war keine große Köchin, doch an Weihnachten gab sie sich immer Mühe – und ich auch. Wir versuchten, die traumatischen Erschütterungen, die sonst unser Leben überschatteten, beiseitezuschieben und einfach nur zu einem friedlichen Weihnachtsessen zusammenzukommen. Zu viel verlangt? Finde ich nicht. Ich war ein Kind, das sich verzweifelt nach einer Kindheit sehnte, in einem Haus voller Enttäuschung und Schmerz.
Meine Geschwister sprachen das ganze Jahr über nur sehr wenig mit uns, geschweige denn, dass sie uns besuchten. Weihnachten war eine der seltenen Gelegenheiten, zu der wir alle unter einem schiefen Dach saßen. Wir vier versammelten uns um den Tisch und vermieden die Blicke der anderen, oft schweigend, denn wie hätten wir auch miteinander sprechen sollen, wo wir doch keine Worte für all das hatten, was zwischen uns stand? Ich war noch sehr jung und das Gewicht meiner Vergangenheit noch nicht groß genug, um mich zu zerstören. Bei meinen Geschwistern sah das jedoch ganz anders aus. Da sie kaum Kontakt zu unserer Mutter hatten, hatten sich Wut und Kränkungen gestaut, sodass sie geradezu nach Aufmerksamkeit lechzten. Unausweichlich brach dann beim Weihnachtsessen alles aus ihnen heraus, in einer Flutwelle aus Vorwürfen und hässlichen Worten. Ich saß da, inmitten des Chaos, weinte und wünschte, sie würden aufhören zu schreien. Wünschte, meine Mutter könnte etwas tun, damit sie nicht mehr fluchten. Wünschte mich an einen Ort, der fröhlich war, der sich wirklich nach Weihnachten anfühlte.
Auch wenn mein Bruder und meine Schwester die Gegenwart des jeweils anderen kaum ertrugen, in der Verbitterung, die sie mir entgegenbrachten, waren sie sich einig. Sie schimmerte als stille Bedrohung ständig unter der Oberfläche. Ich war das dritte und jüngste Kind, ich war, was sie für das goldene Kind hielten: Ich hatte hellere Haare, hellere Haut und einen helleren Geist. Ich lebte bei unserer Mutter, und sie lebten im Exil, getrennt voneinander und von uns. Ihr Dasein war von einem ganz besonderen Schmerz geprägt, denn sie absorbierten all die Feindseligkeit, die zu wenig geliebte, leidende Kinder von Eltern unterschiedlicher Hautfarbe in jeder Nachbarschaft erdulden müssen. Ich glaube, sie nahmen an, dass ich als weiß durchging. Ich mit meinen fast schon blonden Haaren, die bei ihrer weißen Mutter in einer – wie sie vermuteten – sicheren, weißen Nachbarschaft lebte. Ihr Groll gegen mich war vielleicht das Einzige, was sie verband. Ich verstand sogar, warum sie so wütend auf mich waren, doch als Kind konnte ich nicht begreifen, warum sie Jahr um Jahr Weihnachten verderben mussten.
Doch ihr Schmerz konnte meine Wünsche nicht verdunkeln. Ich wünschte mit Leidenschaft. Ich schuf mir meine eigene kleine, fröhliche Weihnachtswelt. Ich erwünschte mir all die Dinge, die meine Mutter mir nicht geben konnte: Dazu brauchte ich nur eine riesige Ladung Glitzerregen und einen ganzen Chor als Backgroundsänger. Mein Fantasie-Weihnachten war mit Santa Claus, Rentieren und Schneemännern bevölkert, mit so vielen Glöckchen und Glitzersteinen, wie meine Träume noch fassen konnten. Ich stellte mir das süße, kleine Jesuskind vor und saugte all die glückselige Freude auf, die der wahrhaftige Geist der Weihnacht mit sich bringt.

Nicht jedes Weihnachten wurde von meiner Familie ruiniert.
Meine Mutter war sehr aufgeschlossen. Ich weiß noch, ich hatte eine Freundin – nennen wir sie Ashley –, deren Mutter lesbisch war (Ashley hatte keine Ahnung). Meine Mutter war da ganz sachlich: »Ashleys Mom ist lesbisch und lebt mit ihrer Partnerin zusammen.« Keine große Sache. Und das war es wirklich nicht. Meine beiden schwulen »Onkel« Burt und Myron zum Beispiel gehörten zu meinen absoluten Lieblingsmenschen. Sie waren wundervolle Personen und lebten in einem wundervollen Haus. Sie besaßen kein großes Anwesen mit weitläufigen Ländereien, aber ein hübsches Backsteinhaus, das zurückgesetzt auf ihrem Grundstück stand. Dahinter erstreckten sich baumbestandene Felder. Im Garten wuchsen wilde Himbeeren, und sie hatten einen goldfarbenen Labrador namens Sparkle. Wenn Burt und Myron verreisten, passten meine Mutter und ich auf ihr Haus auf. Dort war ich jedes Mal ganz selig, alles war so sauber und gemütlich, ein richtiges Zuhause.
Burt war Lehrer und Fotograf und Myron, wie er selbst sagte, »Hausfrau«. Außerdem war er eine richtige Erscheinung. Sein Bart war perfekt gestutzt und seine Haare zu wallenden Wellen geföhnt, denen er mit einem schimmernden Spray den letzten Schliff gab. Er war immer gebräunt und tänzelte in gewagt gemusterten Seidenkaftanen durch das Haus. Burt fotografierte mich draußen im Garten und ermutigte mich zu dramatischen Posen. Meinen Hang zur Extravaganz verstand er nicht nur, er unterstützte ihn auch.
Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an eine Fotosession zu Weihnachten. Ich trug ein grünes Kleid mit Blumen und einen passablen Pony. Ich tat so, als würde ich eine Kugel an den Baum hängen, und blickte dabei kokett über meine Schulter. Burt drückte auf den Auslöser: eine festliche Modestrecke.
Burts und Myrons Haus war immer gemütlich, doch zu Weihnachten übertrafen sie sich selbst. Das Haus blitzte, ein Feuer prasselte im Kamin, und jede geschmackvolle Dekoration war an ihrem Platz. Überall roch es nach Köstlichkeiten, die sie unentwegt in den Ofen schoben. Sie boten herzhafte Knabbereien und außergewöhnliche Drinks an, zum Beispiel Brandy Alexander. Einmal saßen wir an Weihnachten wegen eines Schneesturms bei ihnen fest, und ich wünschte mir, der Sturm würde nie aufhören. Burt und Myron zeigten mir, wie sich ein trautes Weihnachtsfest anfühlt. Und auch sonst waren sie ein großartiges Beispiel für ein harmonisches Zusammenleben.
Meine »Onkel« förderten das Showgirl in mir. Wenn ich eine kleine Show aufführte (und das kam nicht selten vor), schenkten sie mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Nie haben sie versucht, meine überbordende Fantasie zu zügeln. Zum Glück, denn aus meiner kindlichen Begeisterung und meinen frühen Wunschvorstellungen, wie Familie und Freundschaften aussehen sollten, entstand später »All I Want For Christmas Is You«.
Dieser Song sollte klar und rein klingen. Das hört man auch am Anfang: ding, ding, ding, ding, ding, ding, ding, ding … Die zarten Glockenklänge erinnern an kleine Spielzeugklaviere, wie Schroeders Klavier aus den Peanuts. (Auch wenn ich den Großteil des Songs auf einem billigen Casio-Keyboard zusammenklimperte.) Das Lied entstand aus einem kindlichen Gefühl, es ist nicht christlich inspiriert (obwohl ich natürlich Songs aus dieser seelenvollen, spirituellen Perspektive geschrieben und gesungen habe). Als ich ihn mit zweiundzwanzig schrieb, war ich selbst fast noch ein Kind. Damals nahm ich ein ganzes Weihnachtsalbum auf, das war ein Risiko, denn zu der Zeit liefen auf MTV keine Weihnachtssongs. Es war vollkommen unüblich – gerade für eine junge Sängerin –, einen eigenen Weihnachtssong zu schreiben. Noch unüblicher war, dass er dann auch noch dermaßen einschlug.
Obwohl ich mir für diesen Song Eintritt in die private Traumwelt meiner Kindheit verschaffte, war ich damals nicht besonders glücklich. Mein Leben hatte sich unglaublich schnell verändert, und ich fühlte mich verloren in dem Grenzgebiet zwischen Kindheit und Erwachsensein. Meine Beziehung mit Tommy Mottola, der später mein erster Ehemann werden sollte (und so vieles mehr), wurde befremdlicher, und wir waren noch nicht einmal verheiratet. Doch ich muss ihm zugutehalten, dass er mich als Manager meines Plattenlabels zu meinem ersten Weihnachtsalbum ermutigte: Merry Christmas.
Das alles machte mich auch ganz nostalgisch. Ich war schon immer furchtbar sentimental, und die Weihnachtszeit ist für mich der Inbegriff von Sentimentalität. Ich wollte einen Song schreiben, der mich glücklich machte, der mir das Gefühl gab, ein sorgenloses, geliebtes Kind zu sein, das sich auf Weihnachten freut. Außerdem ließ ich mich von den Weihnachtshits jener Künstler inspirieren, die ich als Kind bewundert hatte – Nat King Cole und The Jackson Five. Mithilfe meiner Stimme wollte ich für alle Menschen Freude einfangen. Ja, ich wollte dieses altmodische Weihnachtsglück. Irgendwo in meinem Innern wusste ich, dass es zu spät war, meinen Geschwistern Frieden zu geben und meiner Mutter ein wundervolles Leben. Doch ich dachte, vielleicht könnte ich der Welt ja einen Weihnachtsklassiker schenken.