Sam Bloom
Meine Geschichte
Mit Bradley Trevor Greive & Cameron Bloom
Aus dem Englischen von Ralf Pannowitsch
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Sam Bloom: Heartache & Birdsong bei HarperCollinsPublishers Australia Pty Limited.
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Copyright © der Originalausgabe 2020
Bradley Trevor Greive und Cameron Bloom Photography Pty Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
Penguin Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München, nach einer Vorlage von HarperCollins Design Studio Umschlagabbildungen: Cameron Bloom
Fotos im Innenteil: Cameron Bloom, mit Ausnahme von S. 1–2: Sam Ruttyn/Newspix und S. 3: Chris Grant/ISA
Bildbearbeitung: Helio-Repro, München
Grafik: Jane Waterhouse
Satz: Oliver Schmitt, Mainz
ISBN 978-3-641-28987-4
V002
www.penguin-verlag.de
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Für meinen Mann und unsere drei hübschen Söhne
Noch nie sah ich ein wildes Tier,
das sich selbst bedauerte.
Ein kleiner Vogel wird steifgefroren vom Ast fallen,
ohne sich je bedauert zu haben.
D. H. Lawrence (1929)
Das Leben ist manchmal schwierig, und schwierig ist es auch, davon zu berichten.
Aber ich möchte Ihnen alles erzählen.
Ich möchte mit klarer Stimme das Grauen aussprechen, den Zorn, den Schmerz, die versteckte Scham, die unsterbliche Liebe und die verzweifelte Hoffnung, die mich zu der gemacht haben, die ich heute bin.
Obgleich das, was mir widerfuhr, einmalig ist, so wie jedes Erleben tiefgreifender Veränderung, ist meine Geschichte doch auch die Geschichte aller, deren Leben plötzlich ganz anders verlaufen ist, als sie es sich erträumt hatten.
Ich bin nicht die Frau, die ich war.
Ich bin nicht die Frau, die ich sein wollte.
Ich bin so viel mehr als das.
Jeden Morgen, wenn ich aufwache, sterbe ich ein wenig.
Wie sehr ich mich auch dagegen sträube – ich muss immer an früher denken. Als ich noch ich war.
Ich trauere um das Leben, das mir genommen, das meiner Familie gestohlen wurde. Noch immer kann ich kaum glauben, dass alles so gekommen ist.
Es ist leicht, bitter zu sein. Leichter als atmen.
Ein Teil von mir ist immer zornig. Das leugne ich nicht.
Nach dem, was ich durchgemacht habe, glaube ich heute, dass in jedem von uns eine Dunkelheit wohnt. Wir alle werden damit geboren, und wenn wir Glück haben, werden wir sie kaum einmal zu Gesicht bekommen, ja vielleicht nicht einmal flüchtig streifen. Aber wenn Sie einen Verlust erleiden, der Ihr ganzes Leben verändert, oder marternde Schmerzen verspüren oder, so wie ich, beides zusammen, dann beginnt diese Dunkelheit zu wachsen. Sie wächst und wächst.
Von unseren Gedanken breitet sich die Dunkelheit in jeden Nerv und jede Ader unseres Seins aus, bis sie uns ganz aufgebraucht hat. Wenn wir uns ihr ergeben, werden wir unversehens nicht mehr unser eigenes Leben führen, sondern nur noch von der Dunkelheit erfüllt sein. Sie gräbt uns tiefe Furchen ins Gesicht, zieht uns die Schultern nach vorn, lässt die weichen Stellen in uns verhärten. Und wie sehr wir dagegen auch ankämpfen, diese Dunkelheit ist immer da. Wir können alles tun, um sie zurückzudrängen, aber wir bekommen sie nicht aus uns heraus. Selbst in den glücklichsten Augenblicken liegt sie im Zentrum unseres Wesens, ein gezacktes, pechschwarzes Samenkorn, das immer bereit ist, Wurzeln zu schlagen, und beim ersten wütenden Gedanken, bei der ersten Aufwallung von Frustration und Hoffnungslosigkeit prächtig gedeiht.
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich schließlich meinen persönlichen Kampf mit der Dunkelheit gewonnen habe, denn dieser Kampf ist noch nicht ausgefochten, und vielleicht wird er nie enden. Aber ich kann Ihnen berichten, wie ich es schaffe weiterzumachen – und weshalb.
Um es vorwegzusagen: Ich bin weder Motivationsguru noch Lebensberaterin, weder Psychologin noch irgendeine Art von Cheerleaderin zum Verbreiten guter Stimmung. Ich bin nicht die inspirierende Gestalt, als die mich viele Menschen gern sehen würden. Wenn es das ist, wonach Sie suchen, sollten Sie lieber woandershin schauen.
Ich kann Sie nicht heil und ganz machen. Nicht einmal mich selbst kann ich heil und ganz machen.
Mir fallen selten die richtigen Worte ein, um jemanden zu trösten und aufzumuntern, egal, was er oder sie gerade durchmacht. Meistens sage ich dann gar nichts.
Und ich sehe ganz bestimmt nicht aus wie jemand, der auf alles eine Antwort hat. Mir fehlt das, was man bisweilen eine »beherrschende Präsenz« nennt. Ich bin die letzte Person, die Ihnen ins Auge fällt, wenn Sie einen Raum betreten. So ist es mir schon immer gegangen, und ich nehme es nicht persönlich. Ich bin still und klein. Gerade mal ein Meter zweiundfünfzig und ein Pferdeschwanz. »Zierlich« ist das schicke Wort dafür, aber im Grunde bin ich einfach nur ein Krümel.
Man hat mir so oft gesagt, dass ich als mittleres Kind eigentlich immer Beachtung suchen müsste. Das bringt mich zum Lachen, denn ich bin von Natur aus kein kontaktfreudiger Mensch. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, ich bin ein echtes Mauerblümchen. Vielleicht nicht das schüchternste von allen, zumindest nicht, wenn ich ein Glas Rotwein getrunken habe oder Tiere in der Nähe sind, aber bestimmt das zweit- oder drittschüchternste.
Von mir selbst zu sprechen, ist mir nie leichtgefallen, deshalb hatte ich immer Schwierigkeiten, neue Leute kennenzulernen. Als ich klein war, war meine beste Freundin eine Ente namens Daisy. Und von uns beiden war Daisy eindeutig die Selbstbewusstere.
Aber wenn es mir auch an Statur und Stimmkraft fehlen mag, an Mut mangelt es mir nicht – die einzigen Dinge, bei denen mir ein wenig mulmig wird, sind Sprechen vor Publikum und Mathematik.
Ich habe meinen tiefsten Ängsten gegenübergestanden und bin immer noch hier.
Das ist etwas, das zählt.
Aufgewachsen bin ich in einer normalen australischen Familie – sofern man australische Familien überhaupt als normal betrachten kann.
Mag sein, dass es einfach Nostalgie ist – ein Rückblick aus meinen Vierzigern, während ich im Rollstuhl festsitze –, aber ich hatte eine wirklich wunderbare Kindheit. Vor meinem inneren Auge sehe ich nichts als Sonnenschein und den grenzenlosen azurblauen Himmel über Sydney.
Ehrlich gesagt, kann ich mich an wenige Dinge aus meiner Schulzeit erinnern – jedenfalls an nichts Originelles oder Bedeutungsvolles –, aber lebendig im Gedächtnis geblieben ist mir, wie ich in unserem Hinterhof im Pool gespielt habe, wie ich Rollschuh lief oder meinem kleinen Bruder das Skateboardfahren beibrachte. Wie wir im nahegelegenen Nationalpark auf Buschwanderung gingen und uns die kleinen sonnenverbrannten Backen mit den saftigen, purpurfarbenen Maulbeeren vollstopften, die jedes Frühjahr hinten am Zaun reiften.
Gerade dachte ich, mein Leben könnte gar nicht mehr besser werden, da geschah es trotzdem. Als ich acht war, kauften meine Eltern eine Bäckerei, den Surfside Pie Shop in Newport, und unsere Familie zog nach Bilgola Beach. Wir hatten so viel Kuchen, wie wir essen konnten, und bis zum Ozean war es nur ein Spaziergang. Bald wurde Surfen zu einem wichtigen Teil meines Lebens – fast jeden Abend ging ich mit Meersalz in den Wimpern ins Bett. Für Kinder war es ein Paradies.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nackte kleine Füße, die am Rennen sind, immerzu am Rennen, über Gras, vom Sommer versengte Fußpfade hinab und dann durch den weißgoldenen Sand. Ich konzentriere mich auf die Stelle, an der ich vom sauberen, trockenen Sand an die Flutgrenze komme. Wo der helle, quietschende Ton bei jedem Ferseneindruck zu dumpfem, nassem Getrommel wird, wenn ich dem Wasser entgegeneile. Diese Klanglandschaft habe ich damals nicht bewusst wahrgenommen. Heute tue ich es.
Wenn ich sage, dass ich eine echte Wasserratte war, soll das nicht heißen, ich wäre eine begabte Schwimmerin oder irgendwas in der Art gewesen. Ich meine damit, dass mich nichts glücklicher machte, als im Wasser zu sein, auf meinem Surfbrett an einem der schönen Strände im Norden Sydneys ins Line-up zu paddeln oder auf dem Windsurfbrett über die nahegelegenen Narrabeen Lakes zu gleiten – eine ausgedehnte Gezeitenlagune, umgeben von Eukalyptuswäldern, in denen es vor Wildtieren nur so wimmelt.
Ich selbst hatte nie viel Glück mit Therapeuten; die meisten Sitzungen scheinen meine scheußlichen Gefühle eher zu verstärken, als sie zu lindern. Aber wenn ich eine auf Traumata spezialisierte Psychiaterin wäre, würde ich jedem Patienten einfach empfehlen, an einem warmen, sonnigen Tag in Sydney an den Strand zu gehen und im Wasser herumzuplanschen.
Der Ozean hat etwas Machtvolles und zugleich Beruhigendes. Ich liebe die aufgeladene Stille des Meeres: Hat man es erst mal durch das Getöse und die Wucht der sich brechenden Wellen geschafft, befindet man sich plötzlich an einem Ort, der eine völlig andere Energie hat als der, den man hinter sich gelassen hat. Nichts von dem, was einen an Land plagte, hat noch irgendwelche Macht. Äußeres Chaos und innerer Tumult weichen Wind und Dünung. Man ist physisch und emotional schwerelos. Man ist frei.
Ich war noch kaum ein Teenager, als ich mein erstes Surfbrett kaufte – für 50 Dollar, gleich am Strand, von einem der einheimischen Surfer. Es waren beinahe meine gesamten Ersparnisse aus der Mitarbeit in der Familienbäckerei und abendlichem Babysitten. Das Board war ein rot-gelbes Malibu, ein Flugzeugträger mit riesiger grüner Finne, fast doppelt so groß wie ich, und oft balancierte ich es wie eine afrikanische Marktfrau auf dem Kopf, während ich langsam und vorsichtig durch den Sand stapfte.
Meine Surferfreunde aus der Schule rannten, so schnell sie konnten, in die Brandung und warfen sich noch in der Luft auf ihre Bretter. Dann zischten sie voran, bis ihnen eine Wand aus Weißwasser ins Gesicht klatschte. Bei mir war es anders. Ich ließ mir Zeit, tauchte mein Surfbrett sacht ins Wasser, als wollte ich ein Baby taufen, und paddelte dann gemächlich hinaus. Es lag nicht daran, dass ich das einzige Mädchen in der Gruppe war; der Grund war eher, dass ich es im Ozean nie eilig hatte. Ich wünschte mir, dass dieses Gefühl niemals enden würde.
Draußen auf dem Wasser war ich immer ganz ich selbst – oder jedenfalls zeigte sich dort der beste Teil von meinem Ich. Surfen bedeutete mir mehr, als einfach nur nach einem schlechten Tag in der Schule Druck abzulassen. Es war nicht bloß mein Lieblingssport, sondern noch wichtiger. Es war besänftigend, stärkend und irgendwie heilsam. Es gab mir Zeit zum Nachdenken und die Gelegenheit, meinen überfüllten Kopf frei zu bekommen. Mit erhobenem Haupt, wachsamen Augen und entspanntem Körper war ich nicht mehr kleiner als die anderen, denn dort draußen im großen Blau ist jeder von uns ein vollkommen unbedeutendes Nichts. Der Ozean lässt jedes Lebewesen zwergenhaft erscheinen, selbst die Wale, und so war ich endlich allen anderen Menschen gleich. Hier gehörte ich hin.
Sobald ich es hinter die Wellen geschafft hatte, setzte ich mich aufs Brett, holte Luft und beobachtete den Wellengang. Diesen Moment liebte ich – ich schaukelte wie eine Möwe auf den Wellen, sah das Licht auf dem Wasser tanzen und suchte den Einklang mit dem Meer. Ich jagte nicht den höchsten Wogen nach; angeben musste ich nicht. Stattdessen wartete ich immer auf die Welle, die für mich die richtige war. Besonders mochte ich die kleineren, glatteren Wellen, die wie geriffeltes Glas waren. Wenn meine perfekte Welle endlich am Horizont erschien und aus dem Bauch des Pazifik geradewegs auf mich zurollte, wuchtete ich mein rot-gelbes Ungetüm herum und begann zu paddeln, erst langsam, dann schneller und schneller, bis meine Hände sich mit grimmiger Entschlossenheit durchs Wasser krallten, damit ich den herrlichen Kipppunkt erreichte, genau vor der schäumenden Lippe der Welle, dort, wo der Ozean wieder die Kontrolle übernahm. In einer einzigen Bewegung sprang ich dann auf meine Füße, während ich die steile blau-grüne Vorderseite der Welle hinabfiel – Schwerelosigkeit für den Bruchteil einer Sekunde. Dann stieß sich meine Finne in den wirbelnden Fuß der kristallenen Wand. Ich konnte spüren, wie die grenzenlose Energie in meinen Beinen hochbrandete, und machte sie zu meiner eigenen.
Wie sehne ich mich heute nach diesem Gefühl.
Auch die Stille hat ihre Zeit, und ich mag ruhige Stunden in der Natur, mit einem guten Buch und vor allem in Gesellschaft der Menschen, die ich liebe. Aber auf einem Planeten, der sich mit mehr als anderthalbtausend Kilometern pro Stunde dreht, beruht vieles von dem, was das Leben lebenswert macht, auf Geschwindigkeit oder zumindest der Erinnerung daran. Die salzige Gischt im Gesicht, der Wind in den Haaren, der hochgehende Puls. Deshalb stecken Hunde den Kopf aus dem Autofenster, deshalb gibt es Achterbahnen. Wer den Ozean so liebt wie ich, für den fühlt sich jede Welle so beglückend an wie der erste Kuss.
Ein Aspekt des Surfens, den ich heute besonders schätze: Es verzeiht so unheimlich viel. Verstehen Sie mich nicht falsch, Surfen kann ein gefährlicher Sport sein, und Tag für Tag verletzen sich Surfer, besonders wenn sie ihren Sport auf höchstem Niveau betreiben. Aber für die meisten von uns ist das Wasser seltsam großzügig, ein weicher Boden zum Landen, der zu Verspieltheit anregt. Selbst wenn ich einen dummen Fehler machte, der in einen spektakulären Sturz, einen Wipe-out, mündete, mit dem Kopf voran, war es doch nur ein vorübergehender Rückschlag. Wenn mich Milliarden Liter wirbelnder Schaum unter Wasser gedrückt hielten und es sich wie eine Ewigkeit anfühlte, wusste ich doch, dass es in Wahrheit nur ein paar Sekunden waren. Wenn ich wieder auftauchte, hatte sich die kleine Explosion aus weißer Gischt bereits verflüchtigt, und das Wasser lag wieder glatt da. Alle Spuren meines würdelosen Aufpralls waren verwischt, und fortgewaschen war auch meine Blamage. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht paddelte ich zur nächsten Welle hinaus.
Der Ozean hat kein Gedächtnis für unseren Schmerz.
M