Stefan Kaduk, Dirk Osmetz, Stefanie Rödel
Sprechblasen der Organisationskultur
Ein Glossar
Einleitung
»Wir müssen in der Umsetzung von Agilität schneller werden!«
»Wir müssen uns auf Augenhöhe begegnen!«
»Authentizität ist ein echt wichtiger Wert bei uns.«
»Wir befinden uns in einem tiefgreifenden Change.«
»Mehr Eigenverantwortung, bitte!«
»Wir müssen für mehr Empowerment sorgen!«
»Wir treffen unsere Entscheidungen lieber schnell und falsch als gar nicht.«
»Wir sollten mal an unserer Fehlerkultur arbeiten.«
»Innovation ist der Motor unseres Fortschritts.«
»Raus aus der Komfortzone!«
»Wir müssen die Kommunikation verbessern.«
»In Sachen Kundenorientierung sind wir gut aufgestellt.«
»Unsere Labs schaffen die Innovationen von morgen.«
Wie wäre es mit einem ehrlichen Leitbild?
Managementsprech in der Lounge
»Lassen Sie es mich in einer Metapher ausdrücken…«
»Wir brauchen einen COM, der bei uns Mindfulness implementiert!«
»Oh, zwei Jahre sind rum. Zeit für eine Mitarbeiterbefragung.«
»Wir haben den Mut, mehr zu wagen.«
»Wir arbeiten jetzt nach New Work!«
»Mehr Benefit durch Organizational Happiness!«
»Lasst uns doch mal out of the box denken!«
»Wir müssen als Unternehmen den Menschen Purpose geben.«
»Quo vadis Recruiting?«
»Wir haben unsere Resilienz zertifizieren lassen.«
»Wir müssen die Schwarmintelligenz anzapfen.«
»Selbstorganisation steht bei uns ganz oben auf der Agenda.«
»Talente gewinnen Spiele, Teams gewinnen Meisterschaften«
»Lassen Sie mich das in aller Transparenz offenlegen…«
»Wir brauchen mehr Unternehmertum im Unternehmen!«
»Unser Miteinander ist von gegenseitigem Vertrauen geprägt.«
»Wir brauchen eine klare Vision.«
»Höhere Wertschöpfung durch mehr Wertschätzung.«
Die Kultur einer Organisation hat eine interessante Doppelrolle. Einerseits lassen sich auf sie sowohl Erfolge als auch Schieflagen der Organisation zurückführen. Wenn keine weiteren Erklärungen mehr zu finden sind, ist sie die Letztbegründung für sämtliche Phänomene, die in Organisationen zu beobachten sind. Andererseits wird Organisationskultur in einem gestalterischen Sinne als Schlüssel für buchstäblich alles angesehen. Beide Rollen vermischen sich natürlich, Henne und Ei sind zu keinem Zeitpunkt voneinander zu trennen.
Es wird vermutlich deshalb so viel über Organisationskultur gesprochen, weil ihr Wesen nicht zu durchdringen ist. Deshalb haben wohl auch solche Definitionen den größten Charme, die erst gar nicht den Versuch einer umfassenden wissenschaftlich inspirierten Begriffsfassung unternehmen. Kultur sei die Summe aller Selbstverständlichkeiten, so lautet eine dieser knappen Definitionen, die einiges offen lässt, aber vieles erhellt. Eine andere Annäherung an den Begriff geht davon aus, dass Kultur immer das Ergebnis von etwas ist. Wir finden dieses Verständnis sehr passend, da wir glauben, dass Kultur tatsächlich das entscheidende Schmiermittel für das Funktionieren von Organisationen ist, aber letztlich nie im direkten Zugriff gestaltet oder gemanagt werden kann. Kultur ist aus unserer Sicht eine Reaktionsgröße, keine Stellschraube. Das bedeutet nicht, dass es nicht kluge oder weniger kluge Interventionen gibt, die im Ergebnis eine Kultur in einer bestimmten Richtung beeinflussen. Insofern widerspricht unsere Position nicht der oben erläuterten Doppelrolle.
In diesem Buch geht es nicht darum, Organisationskultur besser oder gänzlich neu zu definieren. Wir unternehmen auch nicht den Versuch, anhand ausgewählter Begriffe »richtige« Wege zu einer wie auch immer gearteten Kultur aufzuzeigen. Unser Anspruch mit diesem Glossar ist ein vergleichsweise bescheidener. Wir nehmen – und diese Auswahl ist freilich subjektiv, eklektisch und von unseren individuellen Erfahrungen geleitet – eine Reihe von Begriffen unter die Lupe, die in der aktuellen Diskussion um die Organisationskultur eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich um »Evergreens«, die – wie etwa »Vertrauen« – auf einer Haltung basieren, um Wörter (auch Buzzwords) im erweiterten New-Work-Kontext und um Glaubenssätze, die anscheinend (oder scheinbar) für eine gute Organisationskultur stehen. Wir bieten einen zweiten Blick an, eine andere Perspektive auf Bekanntes und auf vermeintlich uninteressante Nebenschauplätze.
Ganz bewusst folgen die einzelnen Abschnitte in ihrem Aufbau keinem Schema. So sind manche etwa ausführlicher und »wissenschaftlicher« formuliert, andere etwas flapsiger, provokativer und teilweise auch unterhaltender. Durch viele Texte zieht sich ein leicht ironischer Unterton. Es gibt gerade im Feld der Organisationskultur eine Reihe von Begriffen, Überzeugungen, Ausdrucksweisen und auch »Sprüchen«, die in ihrer inflationären Wiederkehr durchaus belustigen – vor allem dann, wenn es sich um unreflektierte Forderungen handelt. Da wir Teil der »Organisationskulturszene« sind, schwingt selbstverständlich eine große Portion Selbstironie mit.
Viele der behandelten Begriffe haben den Charakter von »Plastikwörtern«. Diesen Neologismus hat der emeritierte Freiburger Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen im Jahr 1988 mit seinem Buch »Plastikwörter – Die Sprache einer internationalen Diktatur« ins Spiel gebracht. Die gesamte Unternehmenssprache ist voll von immer wieder gebrauchten Begriffen und Wendungen, von Sprechblasen, die zwar nicht falsch, aber eigentümlich leer sind. Plastikwörter sind nach Pörksen »Alltagsdietriche«, die – automatisch mit einem Pluszeichen versehen – inhaltlich der Schlüssel zu allem und daher mehrheitsfähig sind. Ihre Herkunft ist meist die Welt der Wissenschaft, und stets schwingt ein Imperativ mit. Insbesondere durch den letzten Aspekt wird deutlich, wie sehr die Diskussion über Organisationskultur von dieser Wortgattung durchdrungen ist. Schließlich lässt sich jeder Schlüsselbegriff aus einem Leitbild als eine entsprechende Forderung formulieren: »Wir benötigen mehr Wertschätzung, Transparenz, Offenheit… Wir müssen endlich eine Vertrauens-, Fehler- oder sonstige Kultur leben…«. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Es ist uns bewusst, dass Pörksen strenge Maßstäbe dafür anlegt, wann es sich um ein Plastikwort handelt und wann nicht. Dass wir diesen kraftvollen Begriff dennoch verwenden und dieses Glossar als Versuch verstehen, hinter die Bühne der konsenstauglichen Plastikwörter zu blicken, ist daher als Hommage an die geistreiche Analyse von Uwe Pörksen zu verstehen.
Ein letztes Wort: Wir haben uns nach langer Diskussion dazu entschlossen, die Endungen von Substantiven mit wertschätzender Beliebigkeit zu setzen. So wird beispielsweise, ohne dass irgendeine Absicht dahintersteht, in bunter Mischung von »Mitarbeitenden«, »Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern« und auch nur von »Mitarbeitern« die Rede sein. In allen Fällen sind alle Menschen gemeint, die sich für Organisationskultur interessieren.
Wäre man vor gut zehn Jahren gefragt worden, was man mit Agilität verbindet – vorausgesetzt man war kein Programmierer –, hätte man vermutlich gesagt: »Ein älteres Rentner-Ehepaar, das im Alter von 70 Jahren noch mit dem Wohnmobil durch Italien fährt.« Mittlerweile kann »agil« ohne Zweifel als die »Sau« angesehen werden, die in den letzten Jahren am häufigsten durch die »Unternehmensdörfer« getrieben wurde.
Agil ist für viele eine Haltung, die mit einer Reihe von Methoden, von Scrum über Design Thinking und Kanban-Boards bis hin zu OKRs, verknüpft wird. Viele – vor allem Manager – lassen die Haltung weg und konzentrieren sich nur auf die Methoden. Wieder andere verknüpfen die einschlägigen Unternehmensnamen aus dem Silicon Valley mit Agilität.
Wie häufig in der Industrie der Managementmoden ist es schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen. Zunächst einmal verspricht Agilität eine Antwort auf Fragen, die man sich im Management seit Jahrzehnten stellt: Warum scheitern Organisationen und Projekte immer häufiger mit jener Planungslogik, die die Produktivitätsgewinne um den Faktor 100 ansteigen ließen? Gelang es doch mit dem Prinzip der Wasserfallplanung, Kriege zu gewinnen, wirtschaftlich den Globus zu erobern und Menschen auf den Mond zu bringen. Doch mit diesen Erfolgen nahmen Dynamik und Störanfälligkeit zu. Kunden wurden unberechenbar, Lieferketten anfällig gegen unvorhersehbare Einwirkungen, Algorithmen so komplex, dass ein Durchdenken aller Schritte im Voraus nicht zum Ergebnis führen kann. Es ist offensichtlich, dass der IT-Sektor früher als andere Branchen unter diesen Komplexitätsdruck geriet. Vermutlich auch, weil die IT sich im auslaufenden 20. Jahrhundert in sämtliche andere Branchen »eingemischt« hatte. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere noch dunkel an die für den Sprung ins Jahr 2000 prophezeite Computerapokalypse. Man glaubte, dass Flugzeuge und Satelliten abstürzen könnten, Atomkraftwerken der Super-GAU drohte und die Grundversorgung gefährdet sei. Diese Prophezeiungen sind nicht eingetreten, aber die Menschen spürten erstmals, wie abhängig man von der IT war.
Und es beschlich einen die Befürchtung, dass man all die Programme, Algorithmen und Codes nicht mehr wirklich im Griff hatte. Es erscheint folgerichtig, dass sich ein Jahr später 17 Software-Entwickler in Snowbird, Utah trafen, um darüber zu diskutieren, wie man Software entwickeln könnte, ohne die hohe Versagerquote in Kauf nehmen zu müssen. Man formulierte das »Agile Manifest« – eine Sammlung von gegenübergestellten Begriffen, bei denen einer Seite der Vorrang gegeben wurde. Eine Auswahl:
Individuen und Interaktionen vor Prozessen und Werkzeugen
Funktionierende Software vor umfassender Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden vor Vertragsverhandlung
Reagieren auf Veränderung vor dem Befolgen eines Plans.
Dabei sagten diese 17 Entwickler nicht, dass die rechte Seite keinerlei Relevanz mehr haben sollte. Die Botschaft dieses Manifests ist die, dass die linke Seite ein viel größeres Gewicht bekommen müsse.
Interessant ist im Übrigen, dass Geschwindigkeit in den insgesamt zwölf Prinzipien agiler Arbeit nicht gesondert berücksichtigt wurde. Sie spielt nur in Bezug auf das Testen und den Austausch eine Rolle. Das erachten wir deshalb als interessant, weil häufig der Sprint zum Synonym von agilem Arbeiten gemacht wird. Die Begründer des Manifests waren Naturwissenschaftler und wussten natürlich, dass Schnelligkeit keinen Wert an sich hat. Im Gegenteil: Sie bewirkt das Gegenteil von »behände, beweglich und lenksam«, wie es die lateinische Herkunft des Begriffes »agilis« beschreibt. Denn aus der Bewegungslehre ist klar, dass mit steigender Geschwindigkeit bewegte Körper die Fähigkeit für spontane und ausgeprägte Richtungsänderungen verlieren. Sie werden starr und stabil.
Die Software oder das Produkt bereits in der Entwicklung an neue Marktbedingungen anzupassen, immer wieder zu reflektieren, auszuprobieren und zu testen, zurückzublicken und aus den Fehlern der letzten Wochen zu lernen, das sind die behänden und beweglichen Momente, die mit Beschleunigung gerade nichts zu tun haben. Doch leider bleibt in der praktischen Anwendung genau dafür keine Zeit. Das ist aber ein Problem, für das vor allem der weitverbreitete Zielansatz der Effizienz verantwortlich ist. Denn hier wird über eine lange Planungsperiode die Zielerreichung bemessen und die Wirtschaftlichkeit in den Fokus gestellt. Das Ergebnis wird im Vorfeld definiert, mit dem Ziel, es mit möglichst wenig Ressourcenverbrauch in gegebener Zeit zu erreichen. Das entspricht nicht dem agilen Ansatz, der mit festen Kosten und in einem definierten Zeitrahmen das maximal mögliche Ziel zu erreichen sucht.
Eine zweite These, warum agiles Arbeiten sich nur ansatzweise erfolgreich durchsetzt und häufig zum Vorderbühnenspiel verkommt, nimmt das Phänomen des Machtverlustes in den Blick. Viele Manager können es nicht ertragen, den agilen Teams die Eigenverantwortung zu ermöglichen, die sie benötigen. Dazu gehört, ihnen die Hoheit über das Abarbeiten des Arbeitsrückstands (Backlog) zu überlassen. Das Team entscheidet in Abstimmung mit der Kundenvertretung (Product Owner), was wie priorisiert wird. Sobald das Linienmanagement in das Backlog der agilen Teams eingreift, wird agile Arbeit verunmöglicht.
Wenn man sich also dazu entscheidet, agiles Arbeiten in der Organisation zu ermöglichen, dann bedeutet das einen konsequenten Umbau hin zu weniger Fremdorganisation und weniger Managementmacht. Agiles Arbeiten setzt das um, was der Wirtschaft in den letzten 100 Jahren etwas abhandengekommen ist: auf Sicht fahren, schnelles Prüfen und Anpassen und mit den Kunden im ständigen Austausch sein. Jeff Sutherland, der wohl bekannteste Begründer des Agilen Manifests und Wegbereiter von Scrum, schlägt Folgendes vor: »Ab und zu hält man inne, analysiert das bisherige Vorgehen und prüft, ob es noch immer zielführend ist und es sich nicht vielleicht verbessern ließe. Ein simples Konzept, dessen Umsetzung allerdings viel Gehirnschmalz, Selbstbeobachtung, Ehrlichkeit und Disziplin erfordert.«
»Wir sind nicht schneller geworden – im Gegenteil, wir brauchen oft auch länger. Aber wir haben seitdem kein einziges Großprojekt mehr in den Sand gesetzt.«
Aussage einer CEO
Sobald es nötig ist zu betonen, dass man einander auf Augenhöhe begegnet, liegt schon viel im Argen.
Der erwünschte Zustand schließt aber nicht aus, jenseits des unverhandelbaren Respekts eine Begegnung als so beeindruckend wahrzunehmen, dass das Gegenüber in einem bewundernswerten Sinne als fachliche, moralische oder durch sonstige Quellen gespeiste Autorität einzustufen ist. Dann kann sich der Blick durchaus nach oben richten.
»Bleiben Sie, wie Sie sind, was anderes bleibt Ihnen eh’ nicht übrig.«
Günter Grünwald