Die Digue von Ostende lag in dem blitzenden Mittagslicht. Die geschmückten Menschen auf der breiten Meerespromenade lachten und gingen an einander vorüber. Unter dem Widerschein des unermeßlichen Wassers funkelten die Fenster der Strandhäuser zärtlich auf. Das unablässige Brausen des Meeres rollte von den Steindämmen zurück, schwoll wieder an, schwoll immer wieder ab.
Der schwere Brasilianer ging mit offenem Munde unter den geschmückten Menschen. Er ging dicht am Meeresgitter der Promenade. Er hielt den Kopf gesenkt wie überrieselt vom Badewasser; seine vollen Lippen waren feucht. Die schwarzen weißdurchzogenen Haarsträhnen fielen über seine Ohren. Er bog den Kopf mit dem Kalabreser nach rechts und links, um dem Anprall des scharfen Windes zu begegnen. Er streifte ab und zu mit einem freudigen Blick das graugrüne Wasser. Sein gelbbraunes schwammiges Gesicht zuckte, die Augen, die in grauen Höhlen lagen, schimmerten; er spürte den feinen Luftwirbeln nach, die um seinen bloßen Hals fuhren, das graue Schläfenhaar anhoben und gegen seine Wange mit feinen Stiletten anschwirrten. Er fror leise; blickte an seinem weißen Vorhemd entlang, über das weißer Sonnenschein floß, und einen Augenblick beunruhigte ihn der Gedanke, daß sein Blick vielleicht Schatten werfe. Er seufzte, drängte sich tiefer zwischen die Menschen.
Das Schüttern des Eisenbahnzuges schwang noch in ihm nach, der ihn gestern von Paris an die See getragen hatte.
Fluchtartig hatte er Paris verlassen, fluchtartig war er auf seiner Jacht aus der Heimat über den Ozean gefahren, aus einem hoffnungslosen Glück; plötzlich seiner achtundvierzig Jahr gedenk. In Paris hatte er vier Monate lang die Schwelgereien der Kunst, der glatten Säle, die bestialischen Tänze ertragen: dann warf ihn eine schwere Lungenentzündung hin; er lag aufgegeben wochenlang im Hospital. Als er am Sonntag das Haus verließ mit schwachen Knieen, schlug er den Kragen seines Loden-Capes hoch, bestieg eine Droschke, fuhr auf die Bahn. Einen Tag schlich er gebeugt durch das tote Brügge. Dann raffte er sich auf, jagte in der Julihitze nach Ostende.
Er hob den Blick von dem dünnen Sande, der unter seinen Füßen wegzog.
Sie glitt zum zweiten Male an ihm vorüber; rostfarbenes Haar unter breitrandigem weißen Hut. Ein grauer Blick aus einem klugen nicht jungen Gesicht wich vor ihm zurück. Sie war vielleicht Mitte dreißig. Er hörte noch hinter sich eine hohe gesangvolle Stimme.
Bei dem Klang dieser Stimme wandte sich Copetta um. In dem Augenblick hörte der Wind auf mit Messern zu werfen. Sie sprach mit einer alten Dame, die sie stützte. Der Brasilianer schob den Hut in den Nacken; eben als er über ihre schmalen Schultern blickte, schwarzer Überwurf auf dunkelblauer Seide, verlor er sie. Der weiße Hut wippte über der Menschenmenge, verschwand um eine Ecke.
Copetta schlenderte in ein Café, löffelte eine Schokolade. Das Meer rollte unablässig gegen die Steindämme; leises Scharren der Sandkörnchen; der Wind warf mit dünnen Stiletten.
Nachmittags um die Zeit des Kurkonzertes ging der schwarze Brasilianer in einem langen grauen Gehrock über die Digue. Leicht und frech wehte die Musik. Als er mit seinem dicken gelben Stock vor dem Kurhaus Schritt um Schritt den Boden stampfte, wich ein grauer Blick wieder vor ihm zurück. Die alte Dame sprach auf sie ein. Ihr Gesicht war schmal, die Backenknochen traten scharf hervor; die kleinen Augen unter den dünnen roten Brauen blickten bestimmt und nüchtern, über der Nasenwurzel hatte sie Sommersprossen, von den Augenwinkeln zogen sich Fältchen. Ihr Gang schwebte.
Der Brasilianer strich sich über die Augen, blieb unwillig stehen, schlenderte weiter.
Gegen Abend saß er auf der Veranda seines Hotels. Als er die Weinkarte in die Hand nahm, fiel ihm ein, daß er heute dreimal eine Frau gesehen hatte, rostfarbenes Haar unter einem wippenden Hut; dreimal eine Frau, schwarzer Überwurf auf dunkelblauer Seide; ein grauer Blick. Still schob er seinen Stuhl zurück, mit Seufzen, Lächeln und Vorsichhinstarren zog er seine Brieftasche heraus, trug seine breite Visitenkarte in die Villa, in der er sie hatte verschwinden sehen, gab sie einem Mädchen ab. Als er wieder die Meerluft an seinem Hals fühlte, fragte er sich, wozu das eigentlich gewesen war. Dröhnend schlug er seine Zimmertür hinter sich zu, warf sich im finstern Zimmer auf einen Schreibsessel, zerriß die Bilder seiner beiden Kinder, nahm eine Nagelschere, zog seinen edelsteinbesetzten Trauring ab, hing ihn über die Schere, hielt den Ring über die brennende Kerze. Die Steine verkohlten; die Schere wurde heiß; er ließ sie fallen. Wühlte mit beiden Armen in zwei großen Eimern mit Meersand, die er sich auf sein Zimmer hatte bringen lassen, stand ächzend auf, bestreute den Boden und Teppich blind mit Sand, fluchte leise auf die Hunde, die Hausdiener, die zu wenig Sand gebracht hatten. Schlief auf seinem Sessel ein.
Wie er am Mittag eben auf der Veranda, in einem Stuhle liegend, tief die scharfe Luft einatmete und schwindlig die Augen schloß, stand vor ihm das Bild der gehenden Frau, sehr schmales verwelktes Gesicht, ein klarer bestimmter Blick, der sich fest auf ihn richtete. Sie hatte ihn bitten lassen, nicht Mittags sie zu besuchen. Er warf die dünne Decke von seinen Füßen, stülpte den Hut über das zerwühlte Haar, schritt schwerfällig, die Arme auf der Brust verschränkt, die Stufen herunter, über die leere sonnige Promenade, auf ihre Villa zu, ein einstöckiges Haus mit schmalen, geschlossenen Fenstern. Er schob sich durch einen dunklen Korridor, klopfte leise an die Tür, an der ihr Name auf einer Visitenkarte stand. Nichts verlautete. Er riß die Türe auf.
Sie lag halb im Bett; hatte, um herauszuspringen, die blaue Decke nach der Wand zu geworfen. Zwei volle frauenhafte Beine berührten mit feinen Zehen eben den Boden, ein sehr schmächtiger strenger Körper richtete sich auf in einfachem, bandlosen Hemd, ein ernstes schmales Gesicht unter dem aufgelösten Haar.
Erschüttert blieb der schwarze Brasilianer an der Türe stehen. Sie lächelte, deckte sich zu, bat ihn, in einer Viertelstunde wiederzukommen. Totenblaß, ohne ein Wort zu sprechen, hob er seinen Stock vom Boden auf. Das alte Mädchen gab ihm die Hand; er sah in kleine nüchterne Augen.
Am Abend kam ein Bote aus seinem Hotel zu ihr; er lud sie zu einer Segelfahrt für den nächsten Morgen ein; nicht einmal seinen Namen hatte er auf der Karte unterschrieben. Sie drehte den mächtigen Briefbogen in der Hand hin und her; halb unwillkürlich nahm sie einen Bleistift, schrieb auf dasselbe Blatt, er möchte kommen, er möchte recht früh kommen; sie machte unter ihren Namensbuchstaben L noch einen wunderlichen Schnörkel, den sie fast eine Minute malte.
Bei grauendem Morgen lief sie ihm vor der Tür in dünner Bastseide entgegen; sie sprangen eilig die schmale Steintreppe zu dem murmelnden Strand herunter; sie warf mit Muscheln nach ihm zurück und fand, als sie sich nach ihm umwandte, daß es in seinen Mienen leidenschaftlich zuckte. Ganz weißes Leinen trug er; er ging mit bloßem Kopf; die linke Hand trug er im Gelenk verbunden; er sagte, er hätte sich gestern Abend beim Fall über Glas an der Ader geschnitten. Mit einem Ruck stieß er ein kleines Ruderboot in das Wasser, hob die Aufschreiende auf den Sitz, sprang nach, ruderte gemächlich auf ein Segelboot zu, das vor der Holzbrücke am Herrenbad schaukelte. Sie sprangen in den Segler; Copetta zog schon den Anker; ihre bloßen Arme hielten sich an der Steuerbank fest, leise klangen die hölzernen Mastringe an, nach einem Zug blähte sich das Großsegel; das Boot ging in See.
Sie fuhren durch die Strandgischt in das graugrüne Meer hinein. Über die scharfe Horizontlinie kam ein weißer Schein, der sich von Augenblick zu Augenblick verstärkte und höher rückte. An dem starken Morgenwinde flogen sie gleichmäßig hin. Nun hockte der Brasilianer neben dem Großbaum auf den Planken, legte die Takelung fest. Wild lachend richtete er sich auf, schwang breitbeinig ein dünnes Tau wie ein Lasso um seinen Kopf und warf es gegen sie; sie schüttelte sich umschnürt, löste sich mit einem Ruck, schleuderte das Seil geballt mit einem mädchenhaften Kichern gegen seine Brust. Rasch hatte sie das Ruder angebunden an sich, sich über Bord gebückt, überschüttete ihr kaltes Gesicht mit Meerwasser, warf, einen Fuß auf der Ruderbank, bis über die Ärmel triefend, zwei volle Hände gegen ihn. Er fing das Salzwasser schlürfend mit offenem Munde auf, schluckte. In dem böig aufblasenden Wind ließen sie das Boot laufen, das anfing wie ein unruhiges Tier zu zittern. Sie jagten sich über die Planken. Johlend sprang die Schmächtige auf die Ruderbank und schlug mit den Fäusten gegen die Takelung. Sie riß sich ihre dünne Jacke ab, pfiff und drehte sich um sich selbst. Ihr Mund mit den dünnen Lippen öffnete sich oft zu einem kurzen, kindlichen Lachen.
Der breitschultrige Brasilianer saß zusammengesunken auf dem Bordrand; erschüttert hörte er ihr Lachen, mit bebenden Lippen, hochgezogener Stirn hielt er ihren Kopf, als sie sich über seine Kniee legte und ihn neugierig betrachtete. Seine steinharten Hände stemmten ihre aufstrebenden Schultern ab; er wiegte den Kopf verneinend hin und her. Die Wellen krochen über Bord, sie schlüpften wie kleine Hunde sacht an ihnen herunter auf die Planken. Der Wind nahm an Stärke zu. Das Boot legte sich stark über, das Kleid des Großsegels fing an zu flattern, sie schossen in den Wind. Die schwarzen fast glasigen Augen des Brasilianers sahen über ihr triefendes Haar weg, das alte Mädchen suchte mit rückgebogenem Kopf nach seinem Munde, seinem Hals, sie tastete sich an seiner Brust hin. Sein schwammiges zerfaltetes Gesicht war gelöst, als ginge immer ein feierliches glückerfülltes Wort um ihn herum. Das Boot schwankte steuerlos, Welle auf Welle rollten an. Copetta saß auf dem Bootsrand. Als eine hohe Wand gegen das Boot ging, hob er weit die Arme auf, legte sich wie auf ein Kissen mit dem Rücken gegen die Welle. Das Polster glitt zurück. Sie hörte, wie er etwas murmelte; sie sah noch den berauschten, verschlossenen Blick, mit dem er verschwand.
Ein Stoß des Bootes warf sie gegen den Mast. Sie fühlte keinen Schmerz in ihrem blutigen Arm. Sie schrie nach der Stelle hin gellend Hilfe, lange Rufe stieß sie aus. Man fand sie bald in dem treibenden Boot liegen. An Land erwartete man sie. Man wußte alles; Copetta hatte ein Telegramm an die Behörde geschickt.
Sie blieb noch eine Woche bei der alten Dame in der einstöckigen Villa. Dann sagte man ihr, daß sie mehrmals mittags im Speisezimmer sich auf die Dielen geworfen habe vor den andern und mit den Händen in die Luft taste. Daß das Hausmädchen von außen beobachtet hätte, wie sie am hellen Morgen mitten in ihrem Zimmer stillstand und sich um sich drehte. Am Nachmittag des Tages, an dem man ihr dies sagte, packte sie mit dem Hausdiener ihre Koffer, legte ein schwarzes Kleid an, verließ ihre Mutter, fuhr nach Paris.
Sie nahm ein kleines Zimmer und ging auf die Straße. Sie trug ihr rotes Haar aufgetürmt; Wangen und Lippen geschminkt. Sie kam tagelang nicht nach Hause. Sie versagte sich niemandem. Es war ihr eine Lust, sich jedem Rolljungen, Viehtreiber in die Arme zu werfen. Sie machte sich mit gleichgültigem Lachen und Kopfschütteln zur Beute jeglicher Krankheit, die auf sie sprang, und trug sie mit Küssen, mit Gähnen und Inbrunst weiter. Sie schlich nach einigen Monaten in schwarzen Seidenkleidern in die strahlenden Ballsäle. Ihr Gesicht war voller geworden; die kleinen Augen glänzten unter dem Atropin. Die jungen Männer nannten sie: die Hyäne. Sie trug in die Ballsäle eine sonderbare Bewegungsweise. Der Tanz war ersichtlich aus einer eigentümlichen Ungeschicklichkeit der Tänzerin entstanden, die sich schon bei ihren ersten Schritten auf dem Parkett zeigte. Sie stieß jede berührende Hand zurück, wiegte sich in den Hüften vor ihrem Partner nach rechts und links, nur langsam wie ein Schiffer von einem Bein taumelnd auf das andere. Dann umging sie mit plumpen Füßen ihren Partner und jetzt wiegten sie sich gemeinsam, Hüfte an Hüfte gefaßt, aber er sprang vor ihren aufgehobenen Armen zurück, sie suchte ihn, sank über ihn hin und schließlich walzte sie nicht, sondern ließ sich von ihrem Partner halb tragen, wobei ihre Füße kaum über den Boden schleiften und sie die Augen schloß.
Sie ließ ein Jahr über sich ergehen. Als eines Abends der Postbote zu einem riesigen Blumenstrauß einen Brief brachte, drehte sie lange den mächtigen Bogen in ihren gepflegten Händen hin und her. Sie warf die Blumen in den Papierkorb, schlug den zitronengelben Kimono über die Brust zusammen, setzte sich an den Schreibtisch und spielte mit dem stark parfümierten Bogen. Der Bote stand noch an der Tür, seine Uniformmütze setzte er schon auf, als sie sich erhob und ihn bat, eine Depesche zu besorgen. Sie schien wie erleuchtet; sie nahm ein befehlerisches Wesen an. Sie telegraphierte nach Ostende: »Herrn Copetta, Ostende Hotel Estrada, erwarten Sie mich morgen Mittag. Bitte Drahtantwort.« Eine Stunde stand sie zitternd auf der Treppe, ob die Antwort bald käme. Sie packte den Handkoffer. Nach drei Stunden schickte sie um einen Wagen; zog einen dünnen Anzug aus gelber Bastseide an, fuhr auf die Bahn. Der Zug rannte lange Stunden der Nacht, rannte über Brüssel, Gent, Brügge; schließlich Ostende frühmorgens. Sie rasselte durch die engen bekannten Straßen der Stadt. Mit einmal leuchtete zwischen den Häusern das Meer auf, das graugrüne Meer. Sie stand aufgerichtet in der rasselnden Droschke, als der böige Wind sie mit einem Hagel von Stiletten überschüttete. Sie schrie aufgerichtet im Wagen vor Heimweh und Seligkeit, hob ihren Sonnenschirm auf und winkte dem graugrünen Meere zu. Sie betrat ihr altes Zimmer wieder, hörte halb, daß ihre Mutter schon seit langen Monaten in diesem Hause gestorben sei. Ihr Gesicht war still; aber als die Pensions-Dame sie entsetzt fragte, warum sie hier sitze und so lache, antwortete sie: »doch vor Glück, liebe Frau, wovor denn als vor Glück. Was erzählen Sie?«
Und dann nahm sie, die sich sanft wie eine schöne junge Frau bewegte, ihren weißen Sonnenschirm und ging an das Meer. Die Digue lag in dem blitzenden Mittagslicht. Unter dem Widerschein des unermeßlichen Wassers funkelten die Fenster der Strandhäuser zärtlich auf. Unablässig brüllte das Meer, warf sich gegen die Steindämme und legte sich platt hin. Sie drängte sich gewandt durch die geschmückte Menge, schlüpfte in das Vestibül des Hotels. Der Portier gab ihr das Telegramm; er erzählte, der Herr sei vor einem Jahr etwa verunglückt auf einer Segelpartie. Sie faßte sich an die Brust: »Auf diesem Meer?« Und dann drückte sie ihm ein Geldstück in die Hand, warf ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier mit ihrer Adresse, flüsterte ihm ins Ohr, er möchte doch dies Blatt an sich nehmen; wenn der verunglückte Herr heut Abend käme, möchte er es ihm sofort geben. Sie ging an dem Verblüfften lächelnd vorbei auf die Promenade, nahm einen jungen Herrn, der ihr folgte, an, hörte, mit ihm nachmittags an der Kapelle eine Schokolade trinkend, mit strahlendem Gesicht die freche leichte Musik des Kurkonzerts.
Der Abend kam herauf. Der Vollmond hing schlohweiß über dem ungeheuren Wasser.
Sie stand an ihrem Fenster und wartete. Es wurde Nacht; sie hatte schon ungeduldig auf das rostrote Haar den wippenden weißen Hut gesetzt. Sie lief auf den Zehen durch den dunklen Korridor, sah die lange Strandpromenade herunter, die im blendendweißen Mondlicht lag. Dann lief sie die lange Promenade hin und her, hielt ihren Hut fest, den der Sturm abhob, spielte mit ihrem Schatten, der schwarz vor ihr herfiel, tanzte ihm pfeifend auf offenem Weg etwas vor, machte ihm lange Nasen. Sie lugte nach dem Hotel, ob sein Fenster noch nicht hell wurde. Um zwölf Uhr schlief sie auf ihrem Bett sitzend ein; gegen vier fuhr sie entsetzt zusammen; es war schon ganz hell. »Er ist voraus.« Sie huschte die Tür hinaus, warf draußen johlend die Arme in die Luft, rief ihren Namen, tutete dazu. Im Nu war sie die schmale Steintreppe herunter. Sie suchte die Abfahrtstelle, lief zu den Badehäusern. Da lagen kleine und große Ruderboote. Keine frischen Männerschritte im Sand! Sie zog die Schuhe und Strümpfe aus, warf ihren Hut an den Strand, schürzte ihren Rock, zog keuchend an dem Bootsseil. Jetzt sprang sie ein, zog die Ruder. Nur wenig wurde sie von der Brandung zurückgeworfen, dann fuhr sie sicher aus.
Scharf blies der Wind über das offene Wasser; dicke Regentropfen fielen; weit und breit kein Segel, kein Boot. Über die hohen gebogenen Wellenwände kroch ihr Boot, stürzte metertief, kroch unverdrossen weiter. Sie suchte nach allen Seiten; die Angst überkam sie. Sie schrie auf den Knieen kriechend, von jeder Wellenhöhe seinen Namen kreischend über das brodelnde Wasser, aber jetzt schlüpften nicht zahme Hündchen über den Bord; wie der Steinschlag fielen die Wellen auf die Brust der Atemlosen, die sich die Augen wischte. Eben legte sie, schon erlahmend, die Ruder hin, brach in ein wütendes Schluchzen aus, schlug sich verzweifelt mit den Fäusten gegen die Brust, als eine dunkle Gestalt sich neben dem Boot aus dem Wasser aufrichtete. Auf dem Kamm einer Welle schwang sich die dunkle Gestalt ins Boot. Der Brasilianer saß stumm auf dem Bootsrand und ließ die Beine auf die Ruderbank hängen. Er war unförmig geschwollen; seinen weißen Anzug trug er prall auf dem Körper. Die weißgrauen Haare waren dick inkrustiert mit Salz; schwarzgrüner Tang hing in Büscheln über sein triefendes gelbbraunes Gesicht, dessen Mund bebte. Dünner weißer Sand und Muscheln rieselten von seinen breiten Schultern, floß aus seinen Ärmeln. Er blies laut die Luft von sich, dann atmete er stiller. Langsam hob er den rechten Arm und wehrte die Frau ab, die sich jubilierend von dem Boden erhob. Seine tiefen schwarzen Augen sahen sie fragend an, ihr volles frauenhaftes Gesicht, ihre Lippen, die reif waren, ihre kleinen lebendigen Augen unter den roten Brauen, die jetzt beseelt und süchtig strahlten. Dann blickte er an ihr vorbei. Sie stürzten unter peitschendem Regen zwischen Wellenbergen hinunter; sie hörte ihr eigenes entsetztes Rufen nicht unter dem Singen und Flöten des Sturmes. Er senkte seinen Arm, legte sich wie auf ein Kissen mit dem Rücken gegen die Welle. Das Polster glitt zurück. Sie sah wie er langsam den Kopf ihr zuwandte, sah den berauschten, aufgeschlossenen Blick auf sich gerichtet, sprang ihm nach, und nun umschlangen sie die wulstig dicken Arme; jetzt lachte sie gurgelnd und drückte ihren Kopf an seinen gedunsenen. Und wie sie zusammen die nassen Wellen berührten, wurde sein Gesicht jung; ihr Gesicht wurde jung und jugendlich. Ihre Münder ließen nicht von einander; ihre Augen sahen sich unter verhängten Lidern an. Eine Wassermasse, stark wie Eisen, schickte das unermeßliche graugrüne Meer heran. Die trug sie, mit der Handbewegung eines Riesen an die jagenden Wolken herauf. Die purpurne Finsternis schlug über sie. Sie wirbelten hinunter in das tobende Meer.
Sie wurde mit elf Jahren zur Tänzerin bestimmt. Bei ihrer Neigung zu Gliederverrenkungen, Grimassen und bei ihrem sonderbaren Temperament schien sie für diesen Beruf geeignet. Läppisch bis dahin in jedem Schritt, lernte sie jetzt ihre federnden Bänder, ihre zu glatten Gelenke zwingen, sie schlich sich behutsam und geduldig in die Zehen, die Knöchel, die Kniee ein und immer wieder ein, überfiel habgierig die schmalen Schultern und die Biegung der schlanken Arme, wachte lauernd über dem Spiel des straffen Leibes. Es gelang ihr, über den üppigsten Tanz Kälte zu sprühen.