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Blaubart und Miss Ilsebill

Alfred Döblin

Das verwerfliche Schwein

Hubert Feuchtedengel, — Neuromanist und die zweiundvierzigtausend Mark seiner Erbschaft verfressend, aussaufend, drauf vier Jahre verheiratet, bis ihn seine Frau verstößt, weil er nur wöchentlich einmal anschwimmt zum Verschnarchen, Verschnaufen und zu einem Reinigungsbad, dann Mediziner auf Pump und Stipendien sechzehn lange Semester, bis das goldene Staatsexamen reift, achtunddreißig Jahr und nicht wenige Monate alt, — bringt es so weit, daß er Medizinalpraktikant in einem lothringischen Bezirkskrankenhäuschen wird. Inzwischen hat sich bei ihm ein exquisiter Fimmel etabliert.

Er sieht am grauen Morgen einen Bandwurm klar vor seinen geistigen Augen, mit unzähligen regsamen, windenden Gliedern, eierlegend, eierstreuend, eierregnend; in einem Bad kleiner tropfenartiger Eier bewegt sich das Vieh stolz, zieht hin. Dann erhebt sich der Beobachter vom Bett, steigt gedankenvoll zu einem Romanisten aufs Zimmer; sprechen braucht er nicht; der andere weiß schon: der Bandwurm ist da. Als keiner gefunden wird von einem älteren Zechgenossen, verschwindet Hubert nach Greifswald, erscheint nach Jahren wieder in Süddeutschland als selbstdenkender Mediziner. Jetzt weiß er: er hat keinen Bandwurm; was man vor Augen sieht am frühen Morgen, ist kein Bandwurm sondern Blutandrang. Und im lothringischen Hospital gelangt er zu der abschließenden wissenschaftlichen Überzeugung, daß es sich bei ihm um Sepsis, um Blutvergiftung handelt, beschränkt auf den Kopf; zweifellos um einen Fimmel, aber auf Sepsis beruhend.

Sein Assistenzarzt heißt Werner Strick. Das ist ein Gewaltmensch. Feuchtedengel imponiert ihm nicht, aber sie sind Duzbrüder. Neben dem rotgesichtigen hochwüchsigen Strick, der bei der Visite mit Sporen steigt, die zutrauliche gutmütige beleibte Gestalt seines Medizinalpraktikanten, Krankenjournale vor der kurzen Stülpnase, drüber her auf die Betten glotzend, dampfend vor Eifer.

Nach zwei Monaten konsultiert im schwarzen Gehrock nachmittags ein halb fünf Uhr vor der Stationsvisite Feuchtedengel seinen Chef wegen Hirnsepsis. Erklärt sofort, zahlen zu wollen, will wie ein gewöhnlicher Patient behandelt werden. Strick zieht sich die Stiefel an, wobei ihm sein Patient hilft, nimmt den erregten Besucher unter den Arm, setzt ihn im weißgestrichenen Untersuchungszimmer auf einen Eisenstuhl. „Zunge heraus!“ „Aufstehen, Fußspitzen zusammen, Augen zu!“ „Augen zu!“ „Romberg negativ.“ Zieht die schweren braunen Vorhänge zu, steckt hinter Feuchtedengels Rücken die Küchenlampe an, spiegelt seine Augen. Nichts zu finden. „Schlaf dich aus, Kerl. Geh nach Hause, Kerl!“

Nach drei Wochen schwimmt Hubert wieder an im schwarzen bauchumspannenden Gehrock. Sein Chef schmeißt ihm zwei Sporenstiefel vor die Beine. Hubert knaut, ist gedrückt, stellt die Stiefel auf, bleibt demütig an der Tür. Die Krücke des Spazierstockes fliegt gegen ihn. Drei Tage ist er Luft für seinen Herrn.

Schneevoller Winter. Silvesternacht. Sie versöhnen sich im jubelnden Bahnhofslokal. Frühmorgens fünf ziehen sie aufrecht aus der Wirtschaft die Neubrückenstraße herunter durch die Kapellenstraße. Feuchtedengel kann seine Überzeugung nicht zurückhalten. Also die Medizin, sagt er, entwickelt sich, aber schwach; es gibt eine umschriebene lokalisierte Sepsis; man kann sie haben, man kann sie lange Zeit haben. Werner Strick hat seinen Paletot im Bahnhof liegen lassen, geht in einer Flauschjacke, trägt die Reitpeitsche. Er schickt den Schwaben nach der Bahn; als er den Paletot hat, der Dicke ihn wieder demütig angafft, gerät er in Stinkwut über Hubert Feuchtedengel, seinen Medizinalpraktikanten. Haut ihm den steifen Hut ein, spuckt auf das schwarze Brückengeländer, schimpft vor sich. Wie sie weiter marschieren, flucht Strick. Er habe genug von der Sache. Beißt auf seine Zigarre: „Du Schwein. Du verwerfliches Schwein. Du bist ja ein ganz verwerfliches Schwein. Jetzt aber, jetzt sollst du was sehen. Jetzt kommst du mit. Jetzt hast du deine Sepsis und wirst behandelt. Verstehst du, Kerl?“

Feuchtedengel ist einverstanden, seine Augen tränen vor Entzücken, er ist vor Rührung nicht imstande, den Hut auszubeulen. „Kerl,“ flucht Strick weiter, kaut an seinem kalten Stengel, „Kerl, Kerl, dich werden wir kriegen.“ Klirrt mit den Sporen, stubbst am Kino den Plakatständer um.

Im Doktorzimmer, mit der Linken Licht knipsend, schubbst der Assistenzarzt den Barhäuptigen gegen die Chaiselongue, streift sich die Ärmel auf. Der Dicke unsicher: „Ziehst du nicht den Mantel aus? Wollen wir die Schwester wecken?“

„Nun legst dich hin und hälst die Goschen, Luder damisches.“ Strick raucht krampfhaft, schluckt, sucht im Arzneischrank.

„Kriegst eins reingefuhrwerkt,“ giftet er seinen Schüler an, „daß du platzst. Kollargol, für deine kreuzdämliche Sepsis. Wieviel willst du denn?“

„Fünf Gramm,“ lächelte der glückliche Hubert; beschaut schmunzelnd seine geschwollenen Armvenen.

„Nimm den Arm runter, ist noch nicht so weit. Fünf Gramm kannst ins Gesicht kriegen von mir. Fünfzehn krieste. Zwanzig, wenn du nicht ’s Maul gleich zumachst. Spuck dir rein, du verwerfliches Subjekt.“

Werner Strick vom Schrank weg, bürstet, wäscht sich im Paletot in den mächtigen Operationsschüsseln. Sein schwarzer Hut schwankt bei der wuchtigen Tätigkeit. Geheimnisvoll von hinten Feuchtedengel, aus himmelnden Äuglein zu seinem Chef: „Fünfundzwanzig Gramm. Ich vertrag es. Ehrenwort. Viel muß man bei mir geben. Über die Maximaldose.“

Verächtlich schweigt der Chef. Das Sublimat spritzt, über die Schüssel hinweg springt der Hut. Der Schwabe rückt an, will gebückt unten den Hut fassen, kriegt von der Seite einen Tritt in die Weiche.

Massig steht mit der großen Zwanziggrammspritze aus Glas der qualmende Mensch vor dem rotbäckigen Medizinalpraktikanten, der auf dem Untersuchungsstuhl sitzt, den linken bloßen Arm, mit Gummi abgeschnürt, triumphierend hinstreckend. Hubert bebt vor Freude, läßt sich nichts merken. Dreht den Kopf von Strick ab gegen die Wand. „Das schöne Bild“, schwabbelt er schämig, „in der Klosterküche. The monastery kitchen, cuisine de monastère. Soviel Mönche und bloß ein Kalb.“

Von oben faucht Werner: „Schwein, wieviel willste haben?“

„Fünfundzwanzig,“ stöhnt Hubert, kann es sich nicht versagen, bettelnd den Arm des andern zu berühren.

Spießt sich die Kanüle in die strotzende Vene, der Stempel der Spritze sinkt, die dicke schwärzlichbraune Flüssigkeit vermindert sich.

Hubert, eisern den Unterarm auf die Lehne drückend, knurrt, brüllt, schreit von innen heraus, gräbt seine Stimme aus der Tiefe der Brust, windet Gesäß, Rumpf, Schultern auf dem Stuhl, zieht das Gesicht lang, reißt die Lider hoch, die Stirn voller Querfalten. Der Arm ist ein Tier, das sich in ihn verbissen hat; er will weg davon. Keucht: „Mehr, mehr, Werner, gib nicht nach, laß nicht nach.“ Seine Füße treten mit den Spitzen den Boden.

„Fünfzehn, du hältst das Maul, achtzehn, neunzehn, kommst nicht weg, Junge, zwanzig, noch lange nicht, zweiundzwanzig; jawohl, vierundzwanzig. Da wären wir.“

Dreht ihm den Rücken; bläst, geht an die Wasserleitung. Ein Trampeln hinter ihm beginnt.

Hohes, tönendes Luftziehen, Sekunden Stille, dumpfes Krachen, Hinklatschen, Poltern, Bersten, Splittern, Stille. Stille.

Über den weißen Steinfliesen schwarz und ungefüg das quadratisch geschwollene, baumlange Untier, der Dickwanst, bäuchlings hingestreckt, die Stuhllehne zerquetscht unter der Brust, ein Stuhlbein von unten aufragend zwischen den Knien wie ein schräger Fahnenmast.

„Der Lump!“ triumphierend Strick am Wasser, schlägt sich den Schenkel mit der nassen Handfläche, „fünfundzwanzig Gramm! Hab’ ich gesagt! Dreißig! Warum nicht vierzig! — Häh, verruchtes Subjekt. Hähä.“ Stampft näher: „Häh, die Zunge! Streck’ die Zunge raus, Kerl!“

Der bewegt sich nicht.

Brüllend schüttelt Strick mit Lachsalven den Körper: „Die Zunge raus. Biste tot, dann biste tot.“ Zieht sich den Paletot aus. Der Körper bewegt die Finger; die Knie krümmen sich, das Stuhlbein wackelt leicht. Strick zieht sich wieder den Paletot an, schüttet die Sublimatschüssel aus, schleudert Wassermassen aus zwei vollen Schüsseln gegen den Hinterkopf des Körpers quer durch den Raum.

Das Stuhlbein bleibt stehen.

Der Wasserstrahl braust in den Behälter. Schüssel auf Schüssel wirft immer zorniger Strick über den Körper. Wutglühend schmeißt er Schüssel samt überschwappendem Wasser gegen die schwarze ungerührte Masse: „Da hast du den ganzen Salat. Das halbe Meer! Am besten, man buddelt dich gleich ein.“

Leitung abgestellt, Licht ausgedreht, Strick trampst türeschmetternd auf sein Zimmer.

Wie er sich das Nachthemd überziehen will, kommt es die Treppe schwer und langsam gegangen, stellt sich an seine Tür, klopft dumpf. Strick schnarcht im Halbschlaf: „Herein,“ legt sich zurück.

Über die Schwelle schlurrt aus dem dunklen Vorraum in das morgenlich graue Zimmer eine schräg nach hinten türmende, kopfsenkende, wassertriefende Gestalt; hinter ihr, sie am Rockkragen stützend, eine andere.

Stehen auf dem Bettvorleger, stumm.

„Werner,“ murmelt nach einer Weile die schiefe schwankende Masse.

„Herein,“ schnarcht der; reißt die Augen auf, weil ihn etwas Kaltes, Nasses anfaßt. Dann richtet er sich langsam in die Höhe.

„Wer ist denn das?“

„Werner,“ murmelt der vordere, „ich bin in den Fluß gefallen von der Brücke, ich konnte nicht gleich mitkommen. Du hast nicht gehört, wie ich dich rief.“

„Was bist du, Mensch?“

„Ich bin in den Fluß gefallen, wie ich deinen Paletot holte. Ich habe immer gerufen.“

„Dann gib mir meinen Paletot her, du Kerl; wo hast du ihn?“

„Ich hab’ ihn nicht.“

Strick ringt verzweifelt die Hände: „Na siehste! Bist du nicht versoffen, du elendes Geschöpf, hat dich das Kollargol nicht umgebracht, was soll ich mit dir machen?“ Überwältigt schreit er: „Raus, raus, septisches Vieh. Ich schlafe.“

„Werner, du sollst mir den Arm verbinden.“

„Wer ist denn das hinter dir?“

Traurig flüstert der Schwabe: „Das ist der Teufel!“

Entsetzt hält sich Strick den Kopf: „Was soll ich denn mit dem noch machen! Mitten in der Nacht!“

„Er hat mich rausgeholt aus dem Wasser, wie ich schon fast tot war. Du sollst mir den Arm verbinden.“

„Du bist ja schon tot. Hast du so wenig medizinische Kenntnisse?“

Hartnäckig flüstert Hubert — der Teufel stemmt ihn rückwärts —: „Du sollst mir den Arm verbinden; ein Fisch hat mich gebissen.“