Der Mensch – sein Leben – seine Botschaft
2021, aktualisierte Neuausgabe
© Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt GmbH, München
Printversion:ISBN 978-3-7346-1270-1
eBook:ISBN 978-3-87996-439-0
www.neuestadt.com
Wenn ihr in meinem Wort bleibt,
werdet ihr die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch frei machen.
(Johannes 8,31)
Die Wahrheit hat keine Stunde.
Ihre Zeit ist immer und gerade dann,
wenn sie am unzeitgemäßesten erscheint.
(Albert Schweitzer)
Um den allgemeinen
und alles durchdringenden
Geist der Wahrheit
von Angesicht zu Angesicht zu schauen,
muss man fähig sein,
das geringste Geschöpf
zu lieben wie sich selbst.
(Mahatma Gandhi)
Zur Neuausgabe
Vorwort zur ersten Auflage
Einstimmung: Was für ein Mensch!
DAS LEBEN
Kindheit und Jugend
Student, Vikar, Stiftsdirektor, Privatdozent
Helene Bresslau
Medizinstudium
Anfang in Afrika: Lambarene, Erster Weltkrieg, Deportation
Zurück in Europa
Wiederbeginn in Lambarene: Pendler zwischen den Kontinenten
Nationalsozialismus, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg
Kalter Krieg: Engagement für den Frieden
Der Lebensabend
DAS WERK: LAMBARENE
DIE BOTSCHAFT
Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben
Die Mahnung zum Frieden
Nur allzeit fröhlich. Humoristische Episoden
Zur Aktualität Albert Schweitzers
Ausklang
Anhang
Zeitzeugen über Schweitzer
Zeittafel
Ausgewählte Literatur
Kontaktadressen
Eine aktuelle österreichische Studie über Vorbilder junger Leute hält als Hauptergebnis fest, dass „die Jugend wieder alten Werten wie Ehrlichkeit, Charakterstärke, Mut und Ehrgeiz“ nacheifere (jugendkultur.at/die-neuen-vorbilderder-jugend-2021, 18.6.2021). Werte, wie sie Albert Schweitzer auf bewundernswerte Weise verkörpert hat, wobei sein „Ehrgeiz“, besser: seine zielstrebiges Engagement nicht seiner eigenen Ehre galt, sondern im Dienst am Mitmenschen, am Leben stand. So ist es nicht verwunderlich, dass „der Urwalddoktor“ bei einer anderen, etwas älteren deutschen Befragung im Vorbilder-Ranking Jugendlicher unter den Top Ten landete – ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod! Authentische, überzeugende Menschen veralten nicht. Zumal wenn ihre Botschaft so brandaktuell ist wie die von Albert Schweitzer: Ehrfurcht vor dem Leben, Achtung der Schöpfung, Kampf für den Frieden und eine Welt ohne Vernichtungswaffen …, die Reihe ließe sich fortsetzen. Der gebürtige Elsässer mit einer schier unglaublichen Bandbreite an Begabungen hat in seinem Leben eine Entscheidung getroffen, die Ausdruck einer geradezu verstörend konsequenten Prioritätensetzung ist: Wichtiger als Ruhm, Karriere und eine oberflächlich verstandene Selbstverwirklichung ist das konkrete Dasein für diejenigen, die es brauchen, der „Dienst am Mitmenschen“. Wer einmal selbst in irgendeiner Weise „bedürftig“ geworden ist, weiß, dass nichts auf der Welt so wichtig ist wie Menschen, die einem dann nahe sind – nicht mit bloßen Worten, sondern konkret.
Albert Schweitzer als Theologe, als Prediger und als Bach-Spezialist wäre wohl bei den meisten in Vergessenheit geraten, doch durch sein Wirken in Lambarene/Gabun hat er ein Zeugnis der Menschlichkeit gegeben, das bis heute viele fasziniert. Peter Münster ist es gelungen, nach Jahrzehnten intensivster Beschäftigung mit Schweitzer und aktiver Mitarbeit im Deutschen Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital einen anschaulichen, einfühlsamen Überblick über Schweitzers Leben, Werk und Botschaft zu geben. Die Zusammenarbeit mit ihm vor der Drucklegung war außerordentlich gut, ja schön. Dass er relativ bald nach dem Erscheinen seines Buches an einer kurzen, schweren Krankheit verstorben ist, war für die, die ihn näher kannten, ein großer Schmerz. Dass seine letzte Publikation, die in erster Auflage im Jahr 2010 erschien, eine solche Nachfrage gefunden hat, dass nun eine durchgesehene Neuausgabe erscheinen kann, freut uns sehr. Und es ist ein weiteres Indiz dafür, wie lebendig Albert Schweitzers Vermächtnis ist.
Stefan Liesenfeld
VERLAG NEUE STADT
Er begleitet mich schon lange. Die erste Begegnung mit der Person und dem Werk Albert Schweitzers reicht zurück in meine Grundschulzeit (Volksschule nannte man das damals), knapp fünf Jahrzehnte ist das nun her. Ich las erstmals vom Tier- und Menschenfreund im Urwald.
Die zweite Begegnung war geistig schon intensiver: Sie fiel in meine Konfirmandenzeit. Unser Pfarrer Küstermann, ein damals junger Mann, der uns zu begeistern wusste, berichtete während einer der Unterrichtsstunden in der einjährigen Vorbereitungszeit, dass Albert Schweitzer gestorben sei, und erzählte ein wenig aus seinem Leben. Er fragte uns, ob nicht jemand bereit sei, für die nächste Stunde ein kleines Referat vorzubereiten. Ich ging auf diese Anfrage ein, beschäftigte mich erstmals etwas tiefer mit Schweitzers Denken und seinem Werk in Lambarene. Während des Studiums begegnete mir hin und wieder sein Name, doch eher am Rande: Andere Denker, bedeutende Pädagogen vor allem, standen auf dem Lehrplan des angehenden Lehrers.
Begegnung Nummer drei: Zu unserer Hochzeit im Jahr 1975 schenkte mir meine Frau die fünfbändige Ausgabe der „Gesammelten Werke“. Ich begann, Schweitzer tiefer zu entdecken, setzte mich intensiver vor allem mit seinen ethischen Gedanken auseinander. Dann standen Familie und Beruf im Vordergrund, das Interesse an Schweitzer beschränkte sich auf gelegentliche Lektüre, diese allerdings mit großer Betroffenheit und wachsender Wertschätzung.
Schließlich die Mitgliedschaft im „Deutschen Hilfsverein“ für Lambarene, die zeitweise Mitarbeit im Vorstand. Eine wertvolle Zeit. Sie führte auch dazu, dass ich nun selbst Vorträge über Albert Schweitzer hielt, dabei viele interessante Begegnungen mit Gleichgesinnten, aber auch Kritikern erlebte.
Seitdem hat er mich nicht mehr losgelassen, der große Menschen- und Schöpfungsfreund aus dem nahen Elsass. Ich habe mich gründlich in sein Werk einzulesen versucht, Bücher, Aufsätze über ihn gelesen, die Filme über ihn genossen. Die Übereinstimmung von Denken und Handeln, die sich bei ihm findet, ist beispielhaft. Bei aller Kritik an Albert Schweitzer, auf die zurückzukommen sein wird, bleibt meine Bewunderung für den großen Elsässer ungebrochen. Er ist eines der großen Vorbilder meines Lebens. Neben Jesus und Franziskus hat Albert Schweitzer meinen geistigen Werdegang, meine Einstellung zum Leben, meine Berufsauffassung am nachhaltigsten geprägt, und der umfangreiche Nachlass seines Werkes wird wohl dafür sorgen, dass ich noch manches von dem großen alten Mann werde lernen dürfen.
Ein Buch abschließen zu können, ist immer auch mit dem Gefühl der Dankbarkeit verbunden. Ich danke meiner Familie, meinen Eltern. Und ich danke den Mitarbeitern des Verlags Neue Stadt, die mich trotz Verzögerungen meinerseits stets freundlich ermuntert haben.
Peter Münster
„Auf die Frage, ob ich pessimistisch oder optimistisch sei, antworte ich, dass mein Erkennen pessimistisch und mein Wollen und Hoffen optimistisch ist.“
Diese Selbstcharakterisierung Albert Schweitzers findet sich im Schlusskapitel seiner Autobiografie „Aus meinem Leben und Denken“, die er im März 1931 in Lambarene abschloss. Den hier angesprochenen Spannungsbogen zwischen einem Pessimismus, den ihm die Erkenntnis der Welt auferlegte, und dem Optimismus, den er aus der Kraft schöpfte, Gutes tun zu dürfen und zu können, hat er selbst ausführlicher erläutert:
„Pessimistisch bin ich darin, dass ich das nach unseren Begriffen Sinnlose des Weltgeschehens in seiner ganzen Schwere erlebe. Nur in ganz seltenen Augenblicken bin ich meines Daseins wirklich froh geworden. Ich konnte nicht anders, als alles Weh, das ich um mich herum sah, dauernd mitzuerleben, nicht nur das der Menschen, sondern auch das der Kreatur … Auch in der Beurteilung der Lage, in der sich die Menschheit zurzeit befindet, bin ich pessimistisch.“
Das klingt hoffnungslos und so gar nicht nach Lebensoptimismus, Lebensbejahung, ließe man es so allein stehen. Die Unausrottbarkeit des Elends und Bösen in der Welt, die harte Wirklichkeit des Fressens und Gefressenwerdens, wie sie sich uns in der irdischen Natur offenbart, die drohende sittliche Verrohung und geistige Abstumpfung unter den Völkern – all dies hat Schweitzer in klarster Erkenntnis wahrgenommen. Und diese Erkenntnis musste ihn pessimistisch stimmen.
„Dennoch bleibe ich optimistisch.“ Das schrieb er nur wenige Zeilen weiter, und dieses „Dennoch“ klingt geradezu kraftvoll, kämpferisch, zukunftsorientiert und hoffnungsvoll. „So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie in Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass es jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen. So fand ich mich nach und nach darein, dass das Einzige, was wir an jenem Problem verstehen könnten, dies sei, dass wir unseren Weg als solche, die Erlösung bringen wollen, zu gehen hätten … Als unverlierbaren Kinderglauben habe ich mir den an die Wahrheit bewahrt. Ich bin der Zuversicht, dass der aus der Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Meiner Ansicht nach gibt es kein anderes Schicksal der Menschheit als dasjenige, das sie sich durch ihre Gesinnung selbst bereitet. Darum glaube ich nicht, dass sie den Weg des Niedergangs bis zum Ende gehen muss. Finden sich Menschen, die sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit auflehnen und als Persönlichkeiten lauter und tief genug sind, dass die Ideale ethischen Fortschritts als Kraft von ihnen ausgehen können, so hebt ein Wirken des Geistes an, das vermögend ist, eine neue Gesinnung in der Menschheit hervorzubringen. Weil ich auf die Kraft der Wahrheit und des Geistes vertraue, glaube ich an die Zukunft der Menschheit. Ethische Welt- und Lebensbejahung enthält optimistisches Wollen und Hoffen unverlierbar in sich. Darum fürchtet sie sich nicht davor, die trübe Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.“
Hier hebt sich die Spannung zwischen dem Pessimismus des Erkennens und dem Optimismus des Wollens und Hoffens auf: Schweitzer blieb nicht stehen bei seiner pessimistischen Welterkenntnis. Er vertraute auf die Kraft der Wahrheit, auf ein elementares ethisches Denken, das unter dem Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ zum tragenden Fundament seiner Philosophie und seines Handelns wurde. Mögen das Elend in der Welt, die unfassbare Not und das unschuldige Leiden vieler Menschen und Tiere, die zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten unter den Völkern, das schreckliche Übel der Kriege auch noch so sehr unser pessimistisches Erkennen heraufbeschwören und begründen: Wir haben die Aufgabe und die Kraft, unser Möglichstes zu tun, um das Elend zu mindern, vom Leiden zu befreien, uns mitgeschöpflich gegenüber Menschen, Tieren und Pflanzen zu verhalten. Und je mehr Menschen sich auf diese Aufgabe besinnen, je mehr Einzelne denkend die Ehrfurcht vor allem Leben für ihr eigenes Dasein verinnerlichen, desto berechtigter ist die Hoffnung auf eine Zukunft der Menschen.
Schweitzer hat dies getan, und er zählt durch sein geistiges und praktisches Lebenswerk völlig zu Recht zu einer der bedeutendsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Was an ihm am meisten beeindruckt, ist wohl die Kongruenz zwischen seinem Denken und seinem Handeln, ist die Konsequenz, mit der er seine Ethik umgesetzt hat in mitmenschliche und mitgeschöpfliche Praxis.
Er ist kritisiert worden als Theologe und Philosoph (am umfangreichsten durch Helmut Groos mit seiner voluminösen kritischen Würdigung „Albert Schweitzer – Größe und Grenzen“). Man hat gefragt, ob er überhaupt Christ im orthodoxen Sinne gewesen sei, hat ihm vorgeworfen, durch sein Verhalten in Lambarene als Kolonialist aufgetreten zu sein. Man hat ihn wegen der hygienischen Zustände in seinem Urwaldspital angegriffen, ihn gar wegen seines engagierten Eintretens gegen den unmenschlichen atomaren Rüstungswettlauf während des Kalten Krieges als ideologischen Steigbügelhalter des Kommunismus abzustempeln versucht.
Schweitzer selbst hat auf Kritik an seinem geistigen und praktischen Lebenswerk in der Regel nicht reagiert, sich nicht verteidigt. Er sagte einmal, solche Kritik perle an ihm ab wie das Wasser am Federkleid einer Gans.
Gerhard Rosenkranz, ehemaliger Rektor der Universität Tübingen, berichtet, Schweitzer sei durch den Rat seines Orgellehrers Widor zu dieser Haltung gegenüber Kritikern gelangt. Dieser habe ihm gesagt: „Schweitzer, ich weiß nicht, was aus Ihnen werden wird. Aber wenn Sie in der Presse angegriffen werden, dann antworten Sie nicht.“ Schweitzer selbst meinte, er habe sich seitdem an das chinesische Sprichwort gehalten: „Wer nicht fechten will, mit dem kann man nicht fechten.“
Wer seine Lebensleistung sieht, wer daran denkt, wie ausgefüllt sein Alltag war, der wird diese Haltung verstehen können und gutheißen. Schweitzer war sich seines Weges sicher, er ist ihn konsequent und in sich ruhend gegangen, trotz aller Höhen und Tiefen, die seinen Lebensweg ja auch markiert haben.
Er hat gelitten am Leid und Weh in dieser Welt, schon als Kind und Jugendlicher, erst recht als Erwachsener. Aber er ist nicht in der Resignation vor diesem Elend der Welt verharrt, sondern hat in aufrichtiger Menschenliebe und Lebensbejahung auf das Leiden der afrikanischen Mitmenschen reagiert, hat seine Verantwortung für die Mitgeschöpfe in Ehrfurcht vor allem Lebendigen angenommen. Das macht ihn so glaubwürdig und über die in manchen Punkten sophistische Kritik erhaben.
Karl Barth, einer der großen protestantischen Theologen des vergangenen Jahrhunderts und als Hauptvertreter der dialektischen Theologie gewiss nicht auf der Linie des liberalen Theologen Albert Schweitzer (die beiden haben sich in milder Polemik gegenseitig als Häretiker bezeichnet), sagte in seiner letzten Vorlesung an der Basler Universität im Wintersemester 1961/62 über den Urwalddoktor: „Könnte ein so problematischer Theologe wie Albert Schweitzer nicht – immer gerade vom Gegenstand der Theologie her gesehen – das bessere Teil erwählt haben und mit ihm die ersten Besten, die da und dort ohne alle theologische Besinnung versucht haben, Wunden zu heilen, Hungrige zu speisen, Durstige zu tränken, elternlosen Kindern eine Heimat zu bereiten?“
Barths Frage ist rhetorisch: Gewiss hat Schweitzer den besseren Part erwählt, indem er seine „umstrittene“ Theologie, seine von manchen akademisch für nicht ausgereift gehaltene Philosophie durch ein praktisches Christentum in konsequenter Nachfolge Jesu veredelt hat! Der Verzicht auf eine abgesicherte (und vermutlich glänzende) Universitätskarriere, seine bewusste Entscheidung für den hingebungsvollen Dienst am bedürftigen Mitmenschen in Afrika verliehen seinem geistigen Werk eine so hohe Glaubwürdigkeit, dass alle Kritik an ihm zweitrangig wirkt. Er wollte nicht das wohlsituierte Leben als Theologieprofessor, sondern suchte zielstrebig und fand die Einheit von Denken und Handeln.
Das einfache und doch so wirkmächtige Jesus-Wort „Du aber folge mir nach“ (Matthäus 9,9) war theologisch der entscheidende Impuls, der Schweitzers Leben die Richtung wies. Harald Steffahn hat seine erste Schweitzer-Biografie aus dem Jahre 1974 unter diesem Titel erscheinen lassen und darin einfühlsam und glänzend belegt, wie sehr Albert Schweitzers Leben und Werk durch den Mann aus Nazareth geprägt waren: „Der Einfluss, den Jesus auf Schweitzers geistiges Werden von Kindheit an ausgeübt hat, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Eine große innere Nähe überbrückte Zeiten und Räume, und am Ende lesen sich Mitleid und Opferbereitschaft, Dankbarkeit und Verzicht in Schweitzers Leben wie Gleichnisse aus dem Neuen Testament.“
Schweitzer selbst beendete sein großes theologisches Hauptwerk „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (1913) mit den Worten: „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagte dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! Und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist …“ Diesem gebieterischen Ruf ist er gefolgt.
Was war er für ein Mensch, dieser Albert Schweitzer? Seine Fähigkeiten sind beeindruckend: Theologe, Philosoph, Orgelvirtuose und -bauer, Arzt, Architekt tropentauglicher Wohnungen, Schriftsteller, Handwerker, Viehzüchter, Landwirt … Allesamt Aufgabenbereiche, die für sich allein ein Menschenleben ausfüllen könnten. Er hat sie in sich zu vereinigen gewusst. Im Zeitalter immer größer werdenden Spezialistentums mutet die Vielfalt der Tätigkeitsbereiche, in denen Schweitzer sich kompetent bewährte, schier unglaublich an. Sein Tagesablauf war ausgefüllt bis zum Äußersten dessen, was ein Mensch zu leisten imstande ist – und das bis ins hohe Alter hinein, ja eigentlich bis kurz vor seinem Tod im gesegneten Alter von 90 Jahren.
Heute kursiert das hässliche Wort vom „workaholic“ als Bezeichnung für Menschen, die süchtig zu sein scheinen nach Arbeit, nach Betätigung. Gerade das aber war Schweitzer wohl nicht, trotz der Vielfalt von Aufgaben, die er sich Tag für Tag aufbürdete und oft bis zur Erschöpfung zumutete. Bei aller Arbeitsbelastung, bei aller Müdigkeit, über die er in seinen Briefen so oft klagte, schien er den Menschen, die mit ihm zu tun hatten, doch immer von einer tiefen inneren Ruhe getragen zu sein, die er aus seinem Glauben schöpfte. Liest man die Erlebnisberichte der Zeitgenossen, die ihn näher kannten – Freunde, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kolleginnen und Kollegen, Journalisten und Schriftsteller –, so stößt man immer wieder auf diesen Wesenszug Schweitzers. Er verstand es, sich in aller Betriebsamkeit, in der übergroßen Fülle der Aufgaben in Ruhe sammeln zu können. So schrieb der elsässische Publizist Gerard Schufenecker 1965 in einer Lambarene-Impression zum 90. Geburtstag Albert Schweitzers: „Alles tut der Urwalddoktor ohne Hast nach einem genau festgesetzten Stundenplan. Für ihn ist Geduld eine Haupttugend. ‚Nur nicht so eilig, meine Herren!‘ Es war am Morgen seines Geburtstages, und die Fotografen hätten sich beinahe gebalgt. ‚Wir haben Zeit, nehmen Sie sich Zeit, Ihre Apparate einzustellen.‘ Das Spital und nur das Spital ist heute seine einzige Sorge.“
Darin liegt gewiss eines der Geheimnisse der Persönlichkeit Albert Schweitzers: die Dinge in Ruhe angehen zu können, sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren, keine Hektik aufkommen und walten zu lassen. Nur so ist wohl die bewundernswerte Effizienz zu erklären, mit der er seine wahrlich vielfältigen Aufgaben zu bewältigen wusste.
Fragt man nach den charakterlichen Merkmalen dieses außergewöhnlichen Mannes, so ist auch hier das Urteil derer, die ihn gekannt haben, von großer Übereinstimmung.
Dass er geduldig war, hörten wir schon. Nun soll dies aber nicht bedeuten, dass er nicht auch aufbrausend, impulsiv sein konnte, etwa wenn es darum ging, die einheimischen Mitmenschen zu notwendigen Arbeiten im Spitaldorf anzutreiben. Sein Temperament konnte wohl auch dazu führen, dass er – äußerst vereinzelt – auch einmal Ohrfeigen austeilte, was seinerzeit bekanntlich nicht unüblich war. Doch selbst solche emotionalen Ausbrüche und gelegentliche Schimpfwörter können nicht darüber hinwegtäuschen, mit wie viel Geduld und Nachsicht Schweitzer mit anderen Menschen umzugehen pflegte.
Die gelegentlichen emotionalen Eruptionen können erst recht nicht überdecken, was wohl Schweitzers grundlegendster Wesenszug gewesen ist: seine grenzenlose Menschen- und Schöpfungsliebe, sein tiefes Mitgefühl und Mitleid, das er den Menschen und Tieren entgegenbrachte, sein hohes Maß an Empathie im Umgang mit seinen Mitmenschen, seine tiefe Achtung vor allem Lebendigen – ein Wesenszug, der sich bis in seine Kindheit hinein zurückverfolgen lässt.
Schweitzer wollte sich nicht in den Vordergrund drängen, und doch war er eine „Führungspersönlichkeit“; er strahlte das aus, was man als natürliche Autorität bezeichnet. Schon aus seinen jungen Jahren wissen wir, dass er ohne sein Zutun, zum Beispiel im Kreise von Studenten, in Freundesund Bekanntenkreisen rasch im Mittelpunkt stand. Elly Knapp, die spätere Gattin von Theodor Heuss, dem ersten deutschen Bundespräsidenten, und eng befreundet mit Helene Bresslau, der Ehefrau Schweitzers, berichtet davon, dass der junge Albert Schweitzer stets durch sein Auftreten, seine Wesensart, seine damals schon umfassende Bildung rasch die Aufmerksamkeit und Achtung aller auf sich lenkte. Er vermochte Menschen mitzureißen, zu begeistern. Selbst wenn er im Freundeskreis in heftigen Disputen nicht geschont wurde oder wenn man seinen Entschluss von 1905, als Arzt nach Äquatorialafrika zu gehen, entschieden tadelte, so galt doch immer: „Der Bedeutendste, das war uns immer klar, war Albert Schweitzer, der Theologe, Philosoph, Bachbiograf und Orgelspieler.“
Schon früh wurde Schweitzer auch mit ganz konkreten Führungsaufgaben betraut: Noch als Vikar oblag ihm die verantwortungsvolle Funktion des Direktors des Thomasstifts in Straßburg, einer Ausbildungsstätte für angehende Pastoren. Und der energische Aufbau und vor allem der spätere Ausbau seines Urwaldspitals wäre ohne seine liebevolle Dominanz überhaupt nicht denkbar gewesen.
Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, wenn ich als Nächstes eine Eigenschaft Schweitzers zur Sprache bringe, die so gar nicht zu seiner Autorität zu passen scheint: Er war ein zurückhaltender, ja in gewissem Sinne schüchterner Mensch. Damit meine ich nicht jenes Gehemmt- oder gar Verklemmtsein, das wir oft mit dem Wort „schüchtern“ assoziieren, sondern vielmehr die Neigung, sich selbst nicht hervortun zu wollen, sich auf sich selbst zurückziehen zu können, den Trubel und Lärm der Welt zu meiden, die Stille und Andacht zu schätzen und zu suchen. Wie oft sprach Schweitzer davon, dass er sich nach Zurückgezogenheit sehne, dass er gern Zeit für sich gehabt hätte zum Ausruhen, zur Besinnung. Der Ruhm, der sich mit zunehmendem Bekanntheitsgrad einstellte und auf Weltebene mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 1953 seinen Höhepunkt erreichte, war ihm eine schwere Bürde und Verpflichtung. Er hat ihn nicht gesucht. Vor einer größeren Menschenmenge zu reden, ist ihm auch noch in hohem Alter schwergefallen, kostete ihn jedes Mal innere Überwindung, weil er sich stets der Verantwortung bewusst war, dass seine Worte Wirkung haben würden.
Dankbarkeit war ein zentraler Begriff in Schweitzers Leben. „Das Danken ist mir eine sehr ernste Sache“ schrieb er 1964 in einem Brief an seine Nichte Suzanne Oswald.
Als Kind vergoss er bittere Tränen, wenn es an Weihnachten auf väterliche Weisung darum ging, die obligatorischen Dankesbriefe für erhaltene Geschenke zu schreiben. Dieser erzwungene Dank war unecht. Umso herzlicher und inniger klingt es, wenn Schweitzer als 49-Jähriger in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen schreibt: „Blicke ich auf meine Jugend zurück, so bin ich vom Gedanken bewegt, wie vielen Menschen ich für das, was sie mir gaben und was sie mir waren, zu danken habe. Zugleich aber stellt sich das niederdrückende Bewusstsein ein, wie wenig ich jenen Menschen meiner Jugend von diesem Danke wirklich erstattet habe. Wie viele von ihnen sind aus dem Leben geschieden, ohne dass ich ihnen ausgedrückt habe, was die Güte oder die Nachsicht, die ich von ihnen empfing, für mich bedeutete! Erschüttert habe ich manchmal auf Gräbern leise die Worte für mich gesagt, die mein Mund einst dem Lebenden hätte aussprechen sollen.“
Die fundamentalste Form der Dankbarkeit ist die Dankbarkeit dafür, dass wir überhaupt leben und unser Dasein letzten Endes Gott verdanken. Wir vergessen oft, dass wir dankbar sein sollen und können. Wir neigen oft dazu, unser Leben und unsere Gesundheit als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und vergessen darüber den Dank für unsere Existenz. Albert Schweitzer hat aus diesem Grundgefühl der Dankbarkeit gelebt. Und dieser Dank war tief empfunden und aufrichtig. Sein humanitäres Lebenswerk in Lambarene wäre auf Dauer nicht haltbar gewesen ohne die selbstlose Hilfe und Unterstützung von Freunden, Mitarbeitern, Gönnern. Das wusste er natürlich, und deshalb ist er nicht müde geworden, für alles, was ihm an ideeller und materieller Hilfe zuteil wurde, seine herzliche Dankbarkeit zu bekunden. Liest man seine Berichte aus Lambarene, seine Briefe, so stößt man immer wieder auf die von ihm geäußerte Dankbarkeit, die er gegenüber den unzähligen bekannten und anonymen Helfern empfand. In einer seiner „Straßburger Predigten“, gehalten im Jahre 1919, konnte Albert Schweitzer sagen: „Das Größte ist danken für alles; wer das gelernt hat, der weiß, was Leben heißt.“
Wer sich auch nur ein wenig mit Schweitzers Leben und Werk auseinandersetzt, der weiß, dass solche Worte nichts Floskelhaftes an sich haben, sondern aus einer zutiefst dankbaren Menschenseele kommen.
Will man das Bild von der Persönlichkeit Schweitzers abrunden, so darf eine wichtige Eigenschaft nicht unerwähnt bleiben: Der Urwalddoktor war ein Mann des Dienens. Dass er sein Leben nach dem dreißigsten Lebensjahr aus Dankbarkeit für bis dahin erfahrene Privilegien in den Dienst an bedürftigen Mitmenschen gestellt hat, ist in einer Zeit, da das Verdienen höher im Kurs zu stehen scheint als das selbstlose Dienen, gewiss keine Selbstverständlichkeit. Natürlich gibt es auch heute noch Menschen, die dazu bereit und fähig sind. Aber in einer Welt, die oft von Gier, Korruption, Rücksichtslosigkeit, Narzissmus geprägt ist, sind solche Menschen eher rühmliche Repräsentanten einer Minderheit.
Schweitzer wusste sehr genau, warum er sich das Dienen zur Lebensmaxime erkoren hatte: nicht in der Hoffnung auf Belohnung für altruistisches Handeln, nicht im Streben nach Ruhm, sondern als Abtragen einer Schuld, die die Europäer als Kolonialisten gegenüber den Bewohnern des schwarzen Erdteils vielfältig auf sich geladen hatten. Schweitzer bekannte mehrfach, dass es für ihn ein großer Glücksfall gewesen sei, den Kranken in Lambarene zu Hilfe kommen zu dürfen. Nicht jedem, der sich in den Dienst am Mitmenschen stellen möchte, kann dieses Glück beschieden sein. Aber jeder kann seinen Beitrag zur humanitären Hilfe leisten, wenn er sich aufmerksam umsieht, wo solche Hilfe nötig und ihm möglich ist. Mag ein solcher Beitrag auch noch so klein und unscheinbar anmuten, so ist er doch von Wichtigkeit! Einem kranken Nachbarn zu helfen; einem einsamen Menschen die Stunden des Alleinseins zu verkürzen; ein trauriges Kind zu trösten; einem Menschen in der Trauer beizustehen – all das sind kleine, aber wichtige Taten der Menschenliebe, hervorgegangen aus der Bereitschaft zum Dienst am Menschen. Und Schweitzer hat ohne Zögern bejaht, dass auch ein Mensch, der sich im Tierschutz engagiert, damit einen wichtigen Beitrag zu einer friedlicheren, freundlicheren Welt leistet.
In einer Predigt konnte der „afrikanische Elsässer“ seinen Zuhörern sagen: „Dienen, das ist der tiefe Sinn des Lebens, doch jeder muss suchen, welche Art des Dienens ihm bestimmt ist.“ Schweitzer hat in Lambarene seinen Weg des Dienens finden können, aber jeder kann „sein“ Lambarene finden, wenn er nur bereit ist, seinem fühlenden Herzen zu folgen. In derselben Predigt hat Schweitzer davon gesprochen, dass demjenigen, der zum Dienen bereit ist, auch die Seligkeit des Dienens erfahrbar wird.
Der Dienst an den Bedürftigen war für ihn die „Nagelprobe“ des Christentums. In unmissverständlicher Klarheit und Deutlichkeit hielt Schweitzer dies den christlichen Völkern vor Augen: „Draußen in den Kolonien geht es trostlos zu. Wir – die christlichen Nationen – schicken den Abschaum unserer Gesellschaft hin; wir denken nur daran, wie wir aus den dortigen Menschen viel herausziehen …, kurz, was draußen vorgeht, ist ein Hohn auf Menschheit und Christentum. Soll die Schuld einigermaßen gesühnt werden, so müssen wir Menschen hinausschicken, die im Namen Jesu Gutes tun, nicht ‚bekehrende‘ Missionare, sondern Menschen, die das an den Armen tun, was man tun muss, wenn die Bergpredigt und die Worte Jesu zu Recht bestehen. Bringt das Christentum dies nicht fertig, so ist es gerichtet.“
Die Reihe der positiven Charaktereigenschaften, die man Schweitzer attestiert hat, ließe sich mühelos fortsetzen: zuverlässig, glaubwürdig, aufrichtig, bescheiden, verzeihend, hilfsbereit, großherzig, heiter trotz großer Ernsthaftigkeit seines Denkens, liebevoll – um nur einige zu nennen. Ist das Heldenverehrung? Eher ist es ein Ausdruck der Tatsache, dass viele ihn als wahrhaft außergewöhnliche Persönlichkeit wahrgenommen haben. Dass Schweitzer zu all dem auch noch über eine gehörige Portion Humor verfügte, soll nicht verschwiegen werden. Im Gegenteil, es ist zum Verständnis des Menschen Albert Schweitzer so unverzichtbar, dass ich dem Thema „Humor bei Albert Schweitzer“ ein eigenes kleines Kapitel gewidmet habe.
Schweitzer hat oft betont, dass die Seele eines Menschen letztlich ein Geheimnis bleibt, vor dem wir Respekt haben sollen. Im Bemühen darum haben wir zunächst ein paar flüchtige Blicke auf den Menschen Albert Schweitzer geworfen. Im Folgenden werden wir die wichtigsten Stationen seines langen, facettenreichen Lebens nachzeichnen.
Kaysersberg heißt der Geburtsort im Elsass. Am 14. Januar 1875 kam Albert Schweitzer als zweites von insgesamt fünf Kindern des protestantischen Pfarrers Ludwig (Louis) Schweitzer und dessen Frau Adele (geborene Schillinger) zur Welt. In seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen schildert Schweitzer, er habe sich als Knabe sehr viel darauf eingebildet, in der Stadt des berühmten mittelalterlichen Predigers Geiler von Kaysersberg (1445–1510) und zudem noch in einem ausgezeichneten Weinjahr geboren zu sein.
Das Elsass war seit dem 9. Juni 1871 staatsrechtlich von Frankreich abgetrennt und gehörte nun „für immer“ dem Deutschen Reich an. Dieses „für immer“ dauerte nicht lange. Als das Elsass durch die Wirren des Ersten Weltkriegs wieder zu Frankreich kam, war das für Schweitzer eine der schwersten Krisen seines Lebens.
Albert war also Deutscher, als er 1875 geboren wurde. Als er sechs Monate alt war, wurde dem Vater die Pfarrstelle im nicht weit entfernten Günsbach angetragen. Günsbach blieb zeitlebens Schweitzers europäische Heimat und ist bis auf den heutigen Tag unauflöslich mit seinem Namen durch das Albert-Schweitzer-Archiv und -Museum verbunden.
Der kleine Albert war ein schwächlicher, untergewichtiger Säugling. Einmal wurde er wegen seiner gelblichen Hautfarbe gar für tot gehalten; Nachbarn tuschelten hinter vorgehaltener Hand, die erste Beerdigung, die der neue Pfarrer in Günsbach durchzuführen habe, sei wohl die des kleinen Albert. „Aber die Milch der Kuh des Nachbars Leopold und die gute Luft Günsbachs taten Wunder an mir. Vom zweiten Jahre an gesundete ich und wurde ein kräftiger Knabe.“ Gelobt seien Leopolds Kuh und Günsbachs gute Luft sowie die Fürsorge der Eltern, die dem schwächlichen Kind letztendlich eine außergewöhnlich robuste Gesundheit und geradezu biblische Lebensdauer bescherten.
Günsbach war auch im Hinblick auf die geistige Entwicklung des Jungen von nicht geringer Bedeutung. Schon früh lernte Albert kennen, was man heute ökumenischen Geist nennen würde. Die Günsbacher Kirche war eine sogenannte Simultankirche, womit gemeint ist, dass sich die evangelische und die katholische Ortsgemeinde dieses Gotteshaus teilten. Zudem war Vater Schweitzer ein weltoffener, liberaler Theologe, dem es keine Schwierigkeiten bereitete, sich mit dem katholischen Amtsbruder zu arrangieren, und der stets ein über die konfessionellen Grenzen hinaus für jedermann offenes Pfarrhaus leitete. Es scheint, als seien liberal-theologisches Denken und Offenheit für die Mitmenschen dem kleinen Albert schon von der Familie her mit auf den Weg gegeben. Vater Ludwig war übrigens in Günsbach fünfzig Jahre als geschätzter Seelsorger tätig.
Wir sind über Albert Schweitzers Kindheit und Jugend recht gut aus erster Quelle unterrichtet. Als 49-Jähriger (1924) veröffentlichte er seine Erinnerungen an seine frühen Jahre. Nun gibt es kritische Geister, die davor warnen, die Aufzeichnungen eines reifen Mannes über seine eigene Kindheit und Jugend allzu ernst zu nehmen, denn der zeitliche Abstand und die Tücken des menschlichen Erinnerungsvermögens könnten zu einer verzerrenden oder sentimental verklärten Rückschau führen. Schweitzer freilich verfügte bis ins hohe Alter über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, wie viele seiner Weggefährten und Bekannten einhellig bekundeten. So ist davon auszugehen, dass auch seine Kindheits- und Jugenderinnerungen einen hohen Grad an Authentizität aufweisen. Sie umfassen im Wesentlichen seine Lebensspanne als Schüler, und die Anschaulichkeit, mit der er die ihm wichtigen und bleibenden Szenen aus dieser Zeit geschildert hat, ist beeindruckend. Zudem macht sie die sprachliche Schönheit auch heute noch zu einem wahren Lesevergnügen. Schweitzer war ein Meister darin, einfach und tief zugleich zu erzählen.
Wenn ich im Folgenden etwas ausführlicher auf die Kindheits- und Jugenderinnerungen Schweitzers eingehe, so hat das seinen Grund darin, dass in ihnen schon keimhaft angelegt ist, was sich später insbesondere in seiner Ehrfurchtsethik