Peter Kiefer

Landläufig

Die Welt hinterm Acker

Ein Roman in Episoden

 

 

Außer der Reihe 59

 


Peter Kiefer

LANDLÄUFIG

Die Welt hinterm Acker

 

Außer der Reihe 59

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juli 2021

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Klaus Brandt

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 254 6

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 845 6

 

 

Für Birgit und Michael

 

 

Landläufig

Die Welt hinterm Acker

 

Das Dorf hat viele Namen, es sind die all seiner Bewohner und ebenso viele Geschichten birgt es. Manche spielen sich nur im Verborgenen ab, aber alle sind Teil einer größeren Geschichte, die zwar kaum erzählt, aber doch von allen durchlebt wird. Einem Fremden mögen diese Geschichten zuweilen grotesk erscheinen, dabei fördern sie nur etwas zutage, was andere, Städter vielleicht, in ihrer räumlichen Enge nicht zulassen mögen. Hier im Dorf, wo überall um die Ecke eine Wiese, ein Acker ist, kann man sich im buchstäblichen Sinne unverbauter bewegen, brutaler, schrulliger, wütender, im schöneren Fall beglückter. Aber es geht in den folgenden Begebenheiten nicht um den Beweis eines Besser hier, Schlechter da, sondern lediglich um eine Bestandsaufnahme ländlicher Mysterien. Sie ziehen mich, den Beobachter, in ihren Bann und ich blicke in eine Welt, die vergleichbar ist mit der einer Bühne. Dabei kann ich mich leicht in die verschiedenen Rollen, die dargeboten werden, einfinden, selbst wenn ich sie entsetzt oder auch nur lachend von mir weise. Am Ende ist für mich dann alles doch Theater und darin abgebildet eine halbe Welt.

 

 

Ich vergleiche das etwas abgelegene Dorf gern mit einer Venusfalle. Gleich, nachdem man es erreicht hat, spaltet sich die einmündende Landstraße in zwei Schleifen, die Untere und die Obere Dorfstraße. Am anderen Ende kommen sie wieder zusammen. Dieses spitz zulaufende Straßenoval erinnert einen in seiner Form unweigerlich an eine weibliche Scham. Das Ortsschild, nur um im Bild zu bleiben, stünde ganz oben auf diesem Grübchen, das Klitorisvorhaut genannt wird. Wiederum in Höhe der Eichel, also dort, wo beide Straßen sich vereinen, liegt ein Kiosk namens Brutzelbox.

 

Helena

 

ist die Betreiberin. Sie ist eine ausladende Erscheinung, wie man sie landläufig den Frauengestalten des Malers Paul Rubens zuordnet. Sie lockt einen mit Bratendüften, aber einmal in die Wurst gebissen, nähert sie sich zuweilen den männlichen Kunden ein wenig von der Seite und erzählt ihnen Geschichten aus ihrem Leben. Mir beispielsweise verkündet sie, einmal als Seilakrobatin im Zirkus Krone aufgetreten zu sein.

Da war ich leicht wie eine Feder, behauptet sie. Ich konnte sogar den Überschlag rückwärts – auf dem Seil. Ich habe Fotos.

Ihr von violettem Lippenstift etwas überzeichneter Mund biegt sich des Öfteren schmunkelnd nach vorn, als würde sie einem einen Kuss zuhauchen wollen. Dazu stellt sie mir unverlangt eine Flasche Bier auf den Stehtisch. Geht aufs Haus, sagt sie und lässt mich nicht mehr aus ihren Fängen.

Der Dompteur der großen Pferdenummer wollte mit mir durchbrennen. Seine Frau wollte das übrigens auch. Wir hätten zu dritt durchbrennen sollen.

Sie kichert heiser hustend in sich hinein.

Durchgebrannt bin ich dann mit einem Matrosen. Es fehlte nicht viel und ich wäre auf einem Piratenschiff gelandet! Eine heiße Geschichte. Wenn Sie möchten … Um neun mache ich den Laden dicht.

Sie blickt mich dabei herausfordernd an und ich frage mich, wie oft ihre Falle schon zugeschnappt ist und wie die, die darin gezappelt haben, sich wieder befreien konnten.

Das mit dem Piratenschiff glaube ich ihr am allerwenigsten. Wo gibt es denn noch so etwas!

 


Einem Bauern namens

 

Borstel

 

laufen die Hühner neuerdings im Kreis. Er weiß nicht, was er machen soll, denn jedes Mal, wenn er sie nach draußen lässt, reihen sie sich schon nach kurzer Zeit in einen Kreis von vielleicht fünf Metern Durchmesser ein und legen los. Wie aufgezogenes Spielzeug.

Borstel fragt den Tierarzt Doktor Reiter. Der misst, einer Ahnung folgend, die Länge der Hühnerbeine, schüttelt aber anschließend den Kopf. Die Beinpaare, meint er, sind bei allen gleich lang, infolge dessen könnten sie genauso gut geradeaus laufen.

Tun sie aber nicht.

Es wäre freilich denkbar …, sagt Doktor Reiter, lässt den Satz aber in der Luft hängen und winkt ab.

Borstel sieht ihn fragend an.

Ein Schlaganfall ist es nicht, sagt Doktor Reiter. Die können ja nicht alle auf einmal … nein, nein.

Beide, er und Borstel, blicken wieder mit einigem Verdruss auf die im Kreis tippelnden sieben Hühner. Nur der Hahn steht ein wenig abseits, ähnlich einem Ballettmeister, der die Schrittfolgen seiner Truppe mit kritischen Blicken verfolgt.

Wir könnten sie hypnotisieren, schlägt Doktor Reiter vor.

Borstel, der lediglich davon gehört, es aber noch nie ausprobiert, geschweige denn eine Ahnung hat, was es bewirken könnte, nickt eifrig.

Das wäre vielleicht der einzige Weg, meint er beflissen.

Beim Hypnotisieren, erklärt Doktor Reiter, zieht man vor der Schnabelspitze eine vertikale Linie und gibt damit gewissermaßen die Laufrichtung an, der das Huhn, wenn es wieder zu sich kommt, folgen muss.

Er holt ein Huhn nach dem anderen aus der Umlaufbahn, drückt es mit der Brust auf den lehmigen Boden, während Borstel streng nach Anweisung mit einem Stock jeweils die besagte Linie zieht. Ist das geschehen, hört jedes Huhn auf, mit den Beinen zu strampeln und verhält sich vollkommen reglos. Bald liegen sieben Hühner auf dem Bauch, sieben Linien gehen ihnen wie Fäden, an denen sie gezogen werden, voraus. Das Ganze erinnert an den Tiefstart bei einem Kurzstreckenrennen.

Aber das ist nicht alles. Doktor Reiter lässt es sich nicht nehmen, zusätzlich ein paar beschwörende Worte zu sprechen: Relinquate circulos, sequimini rectis1.

Bauer Borstel hat den Mund halb geöffnet. Er hat noch nie an einer Séance teilgenommen, aber das Wort spukt noch in seinem Kopf und er meint gleich zu wissen, worum es dabei geht. Doktor Reiter legt die Stirn in tiefe Falten und sagt sich, dass die Welt, selbst wenn der Versuch fehlschlagen sollte, nun endlich einmal von seinen lateinischen Talenten erfahren würde. Borstel wird es nämlich seiner Frau erzählen und die allen anderen.

Die Hühner liegen noch immer flach, der Hahn hält sich von ihnen fern. Sie sind ihm nicht recht geheuer, obwohl er sie nun doch ganz bequem begatten könnte.

Doktor Reiter sagt: Wenn ich in die Hände klatsche, werden sie loslaufen.

Er tut es. Die Hühner, aufgeschreckt gackernd, erheben sich und jedes läuft in eine andere Richtung.

Doktor Reiter reibt sich die Hände. Na bitte, sagt er.

Bauer Borstel bittet ihn, weil’s guter Brauch ist, auf einen Schluck mit ins Haus zu kommen. Als Doktor Reiter, angetan von Borstels Klarem, sicher noch mehr von sich selbst, später das Haus wieder verlässt, laufen die Hühner erneut im Kreis. Das Merkwürdige ist nur, dass der Hahn jetzt reglos in der Mitte dieses Kreises steht. Man fühlt sich unwillkürlich an den Kriegstanz um einen Marterpfahl erinnert. Doktor Reiter begreift, dass seine auf Latein geäußerte Beschwörung nicht ausreicht. Er wird sich jedoch Schritt für Schritt vorarbeiten, paulatimque discessum.

In der Folgezeit ist Borstels Hof von lauter kreuz und quer verlaufenden Linien durchzogen. Wer diesen betritt, denkt unwillkürlich an ein System magischer Zeichen und Bauer Borstel wird zum Gegenstand der dörflichen Gerüchteküche, die Sprüche des Doktor Reiter, mit denen Borstels Frau inzwischen hausieren geht, tun ein Übriges. Früher hätte man solche Leute auf den Scheiterhaufen geschickt, hat es im Dorf schon geheißen.

 


Zwei Schritte sind es noch bis zum Abgrund, ich mache den ersten. Unter mir in der Tiefe liegt der See, dessen spiegelglatte Oberfläche das Sonnenlicht silbrig weiß zurückwirft. In geringer Entfernung hinter mir steht

 

Blauweiß

 

der Mann mit dem Jagdgewehr. Er lässt mir die Wahl: Entweder springe ich hinab in die Tiefe oder er wird mir eine Kugel in den Rücken jagen. Ich breite die Arme aus, als wären es Engelsflügel, die mich heil durch die Lüfte tragen könnten, und mache den zweiten, den alles entscheidenden Schritt und schreie, so laut ich nur kann. Davon wache ich auf.

Draußen kräht Borstels Hahn. Ich sitze aufrecht in meinem Bett und brauche eine Weile, bis ich begriffen habe, dass niemand, auch Blauweiß nicht, mit einer Waffe hinter mir steht und auf mich zielt. Dennoch drehe ich mich zur Sicherheit noch einmal kurz um.

Blauweiß ist der größte Bauer im Dorf, eine Art Businessbauer. Wenn ich ihm über den Weg laufe, trägt er stets ein Headset im Ohr und verhandelt mit irgendwelchen Geschäftspartnern oder gibt Anweisungen an Mitarbeiter.

Er redet zwar keinen Dialekt, zitiert ihn aber gelegentlich, um das Geschäftsmodell »regionale Produkte« hervorzuheben. Selbige vertreibt er in blauweißen Tüten, blauweiß etikettierten Gläsern und Dosen, die man in den umliegenden Supermärkten oder in seinem mit Souvenirs aufgeputzten Hofladen findet.

Seine Frau stammt aus altem Landadel. Er glaubt, dass er sich das schuldig gewesen ist. Jedes Jahr zum Erntedankfest präsentieren sich beide in barocken Kleidern und gepuderten Perücken und fahren in einer Kutsche, huldvoll durchs offene Fenster winkend, die beiden Dorfstraßen entlang. Frau Krottek, mittlerweile in ihren Neunzigern und mit den ländlichen Festen nostalgisch vertraut, steht dann am Straßenrand und macht den halben Knicks, den ihre künstliche Hüfte noch erlaubt.

Blauweiß geht auch auf die Jagd und trägt auf seinem Schlapphut den längsten Gamsbart aller versammelten Jäger. Natürlich schießt er auch den größten Bock, obwohl Gerüchte nicht verstummen, die behaupten, jene Böcke stammten selten einmal aus dem hiesigen Wald. Aber man will es sich mit Blauweiß und seinen – durchaus gezielten – Freigiebigkeiten nicht verderben.

Dass er mal in einer Nacht einem offenbar verirrten Landstreicher mit der Schrotflinte hinterhergejagt ist und diesen böse verletzt und dann überstürzt in sein SUV geladen und samt einem Geldbündel vor der Tür eines Krankenhauses wieder ausgesetzt hatte, ist zwar ebenfalls nur ein Gerücht, wird aber noch hin und wieder kolportiert: Den Dorfbewohnern kommt es nicht ungelegen, sie wollen etwas gegen ihn in der Hand behalten, falls es mal nötig ist, heißt, falls er mal richtig stolpern sollte und falls dann zusätzlich noch ein kleiner Tritt nötig wäre.

Ich begegne ihm nicht oft und wenn, nimmt er mich lediglich mit freundlicher Routine wahr. Verfolgt mich aber noch im Traum.

 


Sie ist zuerst nur ein Gesicht, das plötzlich über einer Zaunhecke erscheint, wie eines, das man träumt. Das Gesicht hat breite Wangen, eine breite Nase und stahlgraue, von dicken Brauen überwölbte Augen. Es ist ein wenig zur Seite geneigt und starrt mich schweigend an.

Hallo, sage ich und versuche halbwegs entspannt zu klingen.

Hallo, sagt das Gesicht und bewegt dabei lediglich die Lippen: Ich bin

 

Grete Hülsenbeck

 

Ich stelle mich ebenfalls vor, doch schon im nächsten Augenblick ist das Gesicht wieder verschwunden, wie ein Dia in einem alten Vorführgerät, das soeben dem nächsten Platz gemacht hat. Weder vernehme ich Schritte noch das Schlagen einer Tür. Sie ist ein Geist, denke ich und blicke hinüber zu dem mit grauschwarzen Schindeln verkleideten Giebel ihres Hauses, das sie, wie man mir gesagt hat, alleine bewohnt. Es ist ein geräumiges altes Bauernhaus mit einer großen Scheune. Manche wollen von da schon merkwürdige Klagelaute vernommen haben und sprechen sogar von Selbstgeißelungen.

Als ihr Gesicht das nächste Mal über der Zaunhecke erscheint, sagt es lediglich den Satz: Intra muros peccatur et extra2.

Ist sie eine von diesen Frömmlerinnen, die überall Unrat und Verderbnis wittern und es nie verwunden haben, dass in der katholischen Kirche kein Latein mehr gesprochen wird? Oder ist sie bloß ein durchtriebenes Frauenzimmer, das es darauf anlegt, Verwirrung in den Köpfen seiner Nachbarn zu stiften?

Auf dem jährlichen Sommerfest des Dorfes ist sie mit einem kleinen Zelt vertreten. Manche von außerhalb, die es nur im Vorübergehen wahrnehmen, denken sicher, dass einem darin jemand aus der Hand lesen würde. Aber andere wissen es besser. Weder muss man bei ihr seine Handfläche hinhalten, noch liest sie die Zukunft aus einer Kristallkugel, legt Karten oder erstellt Horoskope. Stattdessen hat sie etwas zu verkünden und wer immer sich einmal in ihr Zelt getraut hat, kommt leicht verstört wieder heraus.

Meine Neugierde ist geweckt und ich betrete das kleine runde Zelt mit dem kegelförmigen Dach. Da sitzt sie an einem Tisch, dessen Platte kaum größer ist als die Sitzfläche eines Stuhls, und eine Petroleumlampe taucht alles in ein unruhiges Licht. Sie begrüßt mich sofort mit meinem Namen, lächelt aber nicht dabei, sondern zeigt nur wieder dieses maskenhafte Gesicht, das ich von der Zaunhecke kenne.

Fünf Euro, bitte.

Ich lege den entsprechenden Schein auf das Tischchen und nehme ihr gegenüber auf einem eisernen Gartenstuhl Platz.

Sie hat ein dünnes Büchlein aus ihrer Schürzentasche geholt, schlägt es an einer scheinbar beliebigen Stelle auf und liest einfach los: Und ich sah einen großen weißen Thron und den, der darauf saß, vor dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel, und keine Stätte wurde für sie gefunden. Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden geöffnet; und ein anderes Buch wurde geöffnet, welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren, und der Tod und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. Und der Tod und der Hades wurden in den Feuerpfuhl geworfen. Dies ist der zweite Tod, der Feuerpfuhl. Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buch des Lebens, so wurde er in den Feuerpfuhl geworfen.

Sie klappt das Büchlein wieder zu, blickt aber nicht zu mir auf, sondern verharrt in ihrer vorgebeugten Haltung.

Was ist das für eine Schrift?, frage ich.

Sie antwortet: Selig der Leser und die Hörer der prophetischen Worte und die sich an das halten, was darin geschrieben steht. Denn die Zeit ist nah.

Sie sagt diese Sätze mit fast geschlossenen Augen. Dann schweigt sie wieder.

Okay, sage ich, erhebe mich und verlasse das Zelt. Es ist blauweiß gestreift, aber das kann Zufall sein.

 

Heinz-Otto Krusche

 

besitzt auf Menorca eine Finca. Er spricht ein leidlich gutes Spanisch und wird dort, wie er gelegentlich einfließen lässt, gerne Don Otto genannt. Das ist mittlerweile auch sein im Dorf gebräuchlicher Spitzname.

Don Otto ist der Bürgermeister, ein leutseliger Mensch und passabler Schauspieler, der sich immer darum bemüht, seinen Wählern das Gefühl zu vermitteln, ihre Belange ernst zu nehmen. Genauso seinen Nichtwählern, so es welche gibt. Und nun steht er vor uns im Gemeinderat und fragt, indem er bereits am oberen Knopf seines Hemdes nestelt und, wenn seine Krawatte nicht zu straff gebunden wäre, das Hemd über seiner Brust vollends öffnen würde, um allen zu zeigen, dass er nichts zu verbergen, dass er jedem diese Brust darbieten kann, fragt also: Habe ich je zum Nachteil der Gemeinde gehandelt? War ich nicht immer ums Gemeinwohl bemüht? Oder wer hat, ich darf sagen, leidenschaftlich für die Ansiedlung von Schleckes gekämpft – und gesiegt?

Schleckes, von dem er spricht, ist ein mittelständischer Betrieb, der Haustiernahrung produziert und dafür Schlachtabfälle im Umland aufkauft, die dann zu schlecksy plus für Hauskatzen und schleckerli premium mit Biss für Hunde verarbeitet werden.

Und nun das: Über Nacht sind Plakate aufgetaucht, auf denen Don Otto mit glühend roter Schrift auf schwarzem Grund zutiefst und öffentlich gebrandmarkt wird. Überschrieben sind sie mit Hi-hi, da macht’s uns einer nach und dann ist – immer mit Hi-hi eingeleitet – die Rede von überhöhten Maklergebühren beim Verkauf des örtlichen Gewerbegeländes und dass daran Don Otto sich bereichert habe, dass er sich im Gegenzug zu weitreichenden Zugeständnissen habe bewegen lassen, etwa einer mehr als großzügigen Auslegung der Abwasserbestimmungen. Außerdem habe er sich den Vorsitz im Schützenverein mit Geldmitteln des Großbauern Blauweiß erschlichen, damit es möglich ist, dass diesem immer wieder die kapitalsten Böcke vor die Flinte getrieben werden und er, Don Otto, mit teuren Lendenstückchen bedacht werde. Unterschrieben sind die Plakate mit Weiter so! Die Freunde vom Räuber Hotzenplotz.

Don Otto lässt die Plakate auf dem schnellsten Weg entfernen und spricht ungehalten von einer Tat der Neider und Wadenpisser. Dennoch – man ist hellhörig geworden.

Don Otto muss sich bald darauf mit einer anonymen Anzeige herumschlagen. Erste Beweise sind aufgetaucht: ein vertrauliches Memorandum mit einem Schleckes-Manager und die Kopie der handgeschriebenen Rechnung eines illegalen Wildfängers, der für Blauweißens Zehnender gesorgt hat. Die Lokalpresse wird aufmerksam. Sonst mit Jubiläumsfeiern, Häkelgruppen und Altenheimleseabenden befasst, hat sie plötzlich mal was Aufregendes zu berichten.

Don Otto probiert es ein weiteres Mal mit der Ich-habe-ein-reines-Gewissen-Nummer und erscheint bei der nächsten Gemeinderatssitzung in Begleitung seiner attraktiven Frau, wegen ihrer Haarfarbe gewöhnlich nur »seine Blondine« genannt. Heute trägt er keine Krawatte, muss aber zu seinem Leidwesen feststellen, dass er versehentlich ein Unterhemd angezogen hat. Sich dieses erst noch aus der Hose zu reißen, um seine Brust entblößen zu können, würde die verkehrten Stellen der Beschau freigeben, er muss sich daher wieder mit einer verbalen Beschwörung seiner Unschuld begnügen. Die Blonde steht mit eingefrorenem Blick an seiner Seite, daneben die junge Tochter, der sie die Hand auf die Schulter legt. Das Bild erinnert an einen amerikanischen Wahlkampfabend, wo Frauen das heroisch schillernde Pendant ihrer Ehemänner sind. Die Parteifreunde, die von Don Otto stets gut versorgt worden sind, ergreifen der Reihe nach für ihn das Wort, eine Opposition gibt es nicht, was, nebenbei, bislang noch niemandem im Dorf so richtig aufgefallen ist.

Aber die Situation beruhigt sich nicht, denn es tauchen neue Papiere auf, die Heinz-Otto Krusche belasten. Die Staatsanwaltschaft hat sich eingeschaltet und mittlerweile scheint klar: Der Bürgermeister ist über kurz oder lang geliefert.

Wer aber hat das alles aufgedeckt? Helena, die Wirtin aus der Brutzelbox, hat eine simple Erklärung: An so was kommt man nur mit reichlich Sex. Sie spricht es kennerhaft aus und sagt es jedem, der bei ihr in eine Wurst beißt. Dieser Spruch macht schnell die Runde und auf einmal begründet er einen bestimmten Verdacht.

Man erinnert sich wieder daran, dass Korbinian Kropp einmal gegen Heinz-Otto Krusche kandidieren wollte, aufgrund seiner absehbaren Chancenlosigkeit aber kurz vor der Wahl seine Ambitionen eingestellt hatte. Gerüchte, die freilich längst wieder verpufft waren, besagen, dass er der Liebhaber von Don Ottos Blondine gewesen sei. Kropp, Vermieter von Ferienaufenthalten auf dem Land, hatte damals allerdings selbst dieses Gerücht gestreut: Er wollte damit gegenteiligen Gerüchten begegnen, um seine homophilen Neigungen zu kaschieren.

Auch jetzt kann er sich wieder ein wenig als Frauenheld profilieren, indem er die Rolle des gesuchten Maulwurfs annimmt. Don Ottos Frau bringt er damit natürlich in Verruf, man unterstellt ihr hinter kaum noch vorgehaltener Hand, Verrat an ihrem Ehegatten zu begehen. Don Otto taucht aus diesem Grund plötzlich ins geläuterte Licht des mitleiderregenden Opfers.

Nunmehr muss er alles versuchen, seine Frau wieder mit an Bord zu holen, er muss sie reinwaschen. Bei der folgenden Gemeinderatssitzung präsentiert er sie als Schwurzeugin in eigener Sache. Er hält sich bewusst kurz, denn das hier ist ihr Auftritt, und was zählt, sind ihre rührenden Tränen der Unschuld. Sie lösen die nötigen Emotionen aus und können die Gemüter der Versammelten letztlich überzeugen.

Weshalb die staatsanwaltlichen Ermittlungen bald mehr oder weniger im Sand verlaufen, lässt sich wohl damit erklären, dass Krusche, um einer Strafe zu entgehen, einen etwas höheren Betrag an die Staatskasse entrichten wird. Man kann davon ausgehen, dass die Firma Schleckes ihm dafür kollegial unter die Arme greift. Die Dorfbewohner haben ihn bald wieder ins Herz geschlossen, auch wenn er sich – aber die andern tun’s ja auch – kleine Fehltritte erlaubt hat. Niemand ist geschädigt worden, Don Otto hat weiterhin ein offenes Ohr für seine Nachbarn und die Gewerbesteuer beschert dem Dorf zuletzt zwei perfekt geteerte Dorfstraßen samt Blumeninseln vor den Ortseingängen.

Korbinian Kropp begegnet im Supermarkt Tage später zufällig Don Ottos blonder Frau. Beide starren sich einen Moment lang erschrocken an, dann ergreift Letztere die Flucht. Kropp hingegen ist so unverschämt, ihr hinterherzurufen und dabei einen Kosenamen zu benutzen, den er sich gerade ausgedacht hat. Sollte zufällig einer aus dem Dorf etwas mitgehört haben, könnte die Diskussion um Sexaffären und Verrat schon bald wieder in Gang kommen. Was mich jedoch angeht, erzähle ich es niemandem weiter.

 

 

Herr Deng

 

züchtet Enten, die auf Märkten und im einen oder andern Chinarestaurant als besondere Delikatesse angeboten werden. Freilich hat Herr Deng, ein spindeldürrer Mittsiebziger, nur Spott für das übrig, was hierzulande unter chinesischer Küche verkauft wird. Alleine, dass man Suppen als Vorspeisen anbietet, statt sie wie überall in China verdauungsfördernd erst nach den festen Speisen zu servieren, ist ihm gänzlich fremd. Von der fehlenden Yin-und-Yang-Balance und dem fatalen Einknicken vor westlichen Geschmacksnormen einmal völlig abgesehen.

Im Übrigen ist Herr Deng Altmaoist. Er habe es, erzählt er, seit sein Namensvetter Xiaoping zum mächtigsten Mann im Staat aufgestiegen war, nicht mehr lange in seiner Heimat ausgehalten. Die Regierung habe das Land geradezu folgerichtig in den Raubtierkapitalismus getrieben. Man müsse sich nur mal vergegenwärtigen, wie die Volksmassen heute zur Wanderarbeit gezwungen würden, wie sie am Smog erstickten, den andere in ihren Luxuskarossen zusammenbrauten. Dafür habe er in seiner Jugend wahrlich nicht Der Osten ist rot gesungen. Herr Deng ringt, wenn er davon erzählt, ein wenig mit der Fassung. Hierzulande gehe es ehrlicher zu, hier trüge der Kapitalist keinen roten Stern am Jackenrevers, sondern einen steifen Hut und Glacéhandschuhe und sei von daher als Feindbild immer klar erkennbar. Herr Deng hätte ihm noch ein Paar Gamaschen anlegen können und ich gebe ihm zu bedenken, dass solche Dandykapitalisten einer ganz anderen Zeit angehörten.

Keineswegs, widerspricht mir Herr Deng, zieht ein Buch aus seiner Tasche, ein chinesisches, und deutet mit ausgestreckter Handfläche auf ein Foto, das exakt einen so geschilderten Mann zeigt. Das Bild ist etwas unscharf und in Sepia und das Buch stammt aus den sechziger Jahren, aus der Zeit der Kulturrevolution. Auf dem Einband vor einem goldenen Strahlenkranz oder dem, was häufiger Gebrauch noch davon übrig gelassen hat, ist der Vorsitzende Mao abgebildet. Für Herrn Deng gibt es daher keinen Zweifel an der Richtigkeit des Inhalts. Auch als ich ihn frage, ob er hierzulande einmal einem solchen Menschen mit Zylinderhut begegnet sei, sagt er, dass man einem wie dem nicht auf der Straße begegnen würde. Dergleichen verschanzten sich in ihren Villen, ihren Gärten, ihren Büros, ihren Freudenhäusern.

Und wie soll so einer wie der, frage ich, den Zorn des Proletariats wecken?

Ausbeutung ist nicht an Gesichter gebunden, belehrt mich Herr Deng und nimmt mich, obwohl wir hier mutterseelenallein an der Eingangspforte seines Hauses stehen, ein wenig zur Seite.

Die Arbeiter rüsteten sich bereits im Verborgenen für die nächste Krise, raunt er mir zu. Wenn es dann soweit sei, kämen sogar jahrzehntelang frustrierte Sozialdemokraten wieder aus ihrer Deckung. Ein Sturm würde über Europa einsetzen und bis nach China fegen. Der einbalsamierte Vorsitzende am Platz des Himmlischen Friedens würde seine Glieder ausstrecken, erhöbe sich und wandelte, ein Heilsbringer, in einer langen Kutte über das Land. Bald versänke alles wieder wie einst in einem roten Fahnenmeer. Aber er, Herr Deng, sei Realist, er werde das sicher kaum mehr erleben dürfen, er begnüge sich daher mit der Rolle des Propheten.

Herr Deng verneigt sich und schreitet auf nicht mehr ganz sicheren Beinen in sein Haus zurück. Trinkt er?

 

 

Katharina

 

probiert es mit allem Möglichen, in der vergangenen Nacht zum Beispiel mit der melodramatischen Strauss-Oper Die Frau ohne Schatten. Helfen tut es nicht. Friedrich ist nun mal weg, irgendwo abgetaucht und Katharina ist plötzlich sterbensallein in diesem Dorf zurückgeblieben. Auf den Tag ein Jahr ist es her – jeder im Dorf weiß genau darüber Bescheid –, dass Friedrich sich eines Nachts und ohne mehr als das Allernötigste eingepackt zu haben, aus dem Haus geschlichen hat. Nicht einmal eine kleine Notiz hatte er geschrieben. Und als wollte er sie von jeglichen Nachforschungen abhalten, lag am Morgen auch noch sein Mobiltelefon auf dem Küchentisch. Augenscheinlich brachte er damit zum Ausdruck, dass er es nicht mehr brauchte, dass er ein neues Leben beginnen wollte, am liebsten auf einem anderen Planeten. Der Schuft!

Katharina ist ursprünglich ein Kind der Stadt, doch Friedrich hatte sie überredet, mit ihm aufs Land zu ziehen. Da versucht sie sich nun mit ihrer aufgezwungenen Einsamkeit zu arrangieren, spaziert mit Vorliebe bei schlechtem Wetter über die Wiesen (damit sie noch einen Grund verspürt, wieder in ihr verlassenes Haus zurückzukehren), liest Kafka und Katastrophenromane, versendet Hate-Speech im Internet an die Adresse von wildfremden Männern, hört Opern.

Eines verregneten Tages – sie will gerade einen ihrer Spaziergänge machen – klingelt an der Haustür ein Mann und fragt unumwunden, ob er zwei Tage hier nächtigen könne.

Katharina hält ihn für einen Verrückten oder Kleinkriminellen. Der Mann, wirres Haar, wirrer Spitzbart, mausgrauer Trenchcoat, eine Tragetasche unterm Arm, sagt: Friedrich hat mir deine Adresse gegeben.

Was?

Der Mann ergänzt: In der linken unteren Schublade seines Kleiderschranks liegt ein dunkelrotes Fotoalbum mit Bildern aus seiner Kindheit. Das soll ich erwähnen, damit du mir glaubst, dass ich von Friedrich geschickt worden bin.

Katharina weiß zwar, dass so ein Album existiert, aber nicht, wo es gerade liegt. Sie lässt den Mann draußen stehen, läuft in Friedrichs Zimmer, zieht die besagte Schublade auf und tatsächlich, da liegt das bewusste Album. Voll banger Neugier, öffnet sie wieder die Haustür, aber der Mann ist verschwunden. Auf der breiten Dorfstraße ist niemand zu sehen, auch hinten im Garten kann sie ihn nirgendwo entdecken.

Was will dieser Kerl von ihr? Katharina ist durcheinander, und hofft, dass der Mann erneut am Eingang läuten wird, damit sie ihn nach Friedrich fragen kann. Ihre Hoffnung wird gleich darauf wieder in die Höhe getrieben, als erneut die Klingel betätigt wird.

Sie reißt die Tür auf. Vor ihr steht nun allerdings ihre Nachbarin Klärchen Hummer.

Sagen Sie, sagt Klärchen Hummer, der Mann, der da vorhin zu Ihnen gekommen ist …

Sie sieht angestrengt an Katharina vorbei ins Innere, als hoffe sie, dort etwas ausmachen zu können.

… den kenne ich.

Sie kennen den?

Lief gestern Abend in Aktenzeichen XY. Ich hab ihn gleich wiedererkannt.

Wen?

Eine vorläufige Antwort gibt der Streifenwagen des Dorfpolizisten Holgass, der mit einer im Dorf nie gesehenen Geschwindigkeit herangebraust kommt. Die Reifen quietschen filmreif, als er vor Katharinas Haus anhält.

Ist er da drin?, fragt Holgass.

Nein, da ist niemand, sagt Katharina, ich würde ja selbst gern wissen …

Holgass rinnt der Schweiß unter der Mütze heraus, er verzichtet auf Erklärungen, schiebt Katharina ungeduldig beiseite, das ist jetzt seine Chance. Drinnen hört man ihn, wie er Zeigen Sie sich! ruft.

Klärchen Hummer hält es vor der Haustür kaum noch aus. Sie streckt ihre Nase noch weiter vor, atmet hörbar und sagt: Aber die Belohnung krieg ich!

Katharina knallt ihr die Tür vor der Nase zu. Sie will wissen, was Holgass, der gerne mit Cowboystiefeln herumläuft, in ihrem Haus anstellt, was, verdammt, hier überhaupt gespielt wird.

Ein Schuss fällt oder sind es zwei? Katharina, die Treppe hochhastend, entdeckt Holgass, der blass wie ein Schlossgespenst vor der geöffneten Badezimmertür steht. Schlaff hält er seine Dienstwaffe in der Hand und Katharina hat schon das Schlimmste vor Augen, wenn sie jetzt in dieses Badezimmer blicken wird. In der Tat klebt rot verfärbte Hirnmasse an den Kacheln der Wand und es hängt einer blutend über dem Badewannenrand – ihr seltsamer Besucher.

Er hat auf mich geschossen, bringt Holgass endlich keuchend heraus. Da.

Er fasst sich an den Oberschenkel und sinkt schon im nächsten Moment ohnmächtig zu Boden.