Das Buch
Wagemutig erkunden Pietro und Bruno als Kinder die verlassenen Häuser des Bergdorfs, streifen an endlosen Sommertagen durch schattige Täler, folgen dem Wildbach bis zu seiner Quelle. Als Erwachsene trennen sich die Wege der beiden Freunde: Der eine wird sein Heimatdorf nie verlassen und versucht die Käserei seines Onkels wiederzubeleben, der andere zieht als Dokumentarfilmer in die weite Welt hinaus, magisch angezogen von immer noch höheren Gipfeln.
Vor der ehrfurchtgebietenden Kulisse des
Monte-Rosa-Massivs schildert Paolo Cognetti mit großer poetischer Kraft die lebenslange Suche zweier Freunde nach dem Glück. Eine eindringliche, archaische Geschichte über die Unbezwingbarkeit der Natur und des Schicksals, über das Leben, die Liebe und den Tod.
Vor der ehrfurchtgebietenden Kulisse des Monte-Rosa-Massivs schildert Paolo Cognetti mit großer poetischer Kraft die lebenslange Suche zweier Freunde nach dem Glück. Eine eindringliche archaische Geschichte über die Unbezwingbarkeit der Natur und des Schicksals, über das Leben, die Liebe und den Tod.
Die Autoren
Paolo Cognetti wurde 1978 in Mailand geboren und verbringt die Sommermonate am liebsten in seiner Hütte im Aostatal auf 2.000 Metern Höhe. Er hat Mathematik studiert, einen Abschluss an der Filmhochschule gemacht und Dokumentarfilme produziert, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Sein preisgekrönter Bestseller Acht Berge erscheint in 40 Ländern und hat sich weltweit rund 1,5 Millionen mal verkauft. Acht Berge wird gegenwärtig verfilmt.
Christiane Burkhardt lebt und arbeitet in München. Sie übersetzt aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen und hat neben den Werken von Paolo Cognetti u. a. Romane von Fabio Geda, Domenico Starnone, Wytske Versteeg und Pieter Webeling ins Deutsche gebracht. Darüber hinaus unterrichtet sie literarisches Übersetzen.
»Die Beschreibung der Natur,
ihrer Schönheit und Härte –
und wie diese Freundschaft solche
Gegensätze trägt: Bergwelt und
Stadt, Bauer und Intellektueller –
ist das leise, eindringlich nachwirkende
Wunder dieses Romans.«
NDR Kultur
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paolo cognetti
acht berge
Roman
Aus dem Italienischen
von Christiane Burkhardt
Fontane 2014–2016
Diese Geschichte widme ich dem Freund, der mich zu ihr inspiriert und an Orte geführt hat, wo es keine Wege gibt.
Und dem Geschick und Glück, die ihn seit jeher beschützen,
in tiefer Zuneigung.
Leb wohl, leb wohl, du Hochzeitsgast!
Doch dieses sag’ ich dir:
Der betet gut, wer Liebe hegt
Für Vogel, Mensch und Tier!
S. T. Coleridge, Der alte Matrose
Quelle des Zitats: Samuel Taylor Coleridge, Der alte Matrose, 1798, aus dem Englischen von Hermann Ferdinand Freiligrath, Kindle-Edition 2011.
Mein Vater ging auf seine Art in die Berge: Er war weniger ein Mann der Meditation als ein Dickkopf und Draufgänger. Er begann den Aufstieg, ohne seine Kräfte einzuteilen, stets im Wettlauf gegen irgendwen oder was, und wenn ihm ein Weg zu lang war, nahm er eine Abkürzung. Bei ihm war es verboten zu rasten, verboten über Hunger, Kälte oder Erschöpfung zu klagen, dafür durfte man ein schönes Lied singen, besonders bei Gewitter oder dichtem Nebel. Und sich laut johlend die Schneefelder hinabstürzen.
Meine Mutter, die ihn schon von klein auf kannte, erzählte, dass er schon damals auf niemanden warten wollte, so wild war er darauf, jeden einzuholen, den er vor sich hatte. Deshalb musste man gut zu Fuß sein, um in den Augen meines Vaters Gnade zu finden. Mit einem Lachen gab sie mir zu verstehen, dass sie ihn so erobert hatte. Später zog sie es vor, keine Wettläufe mehr zu veranstalten, sondern sich auf einer Wiese niederzulassen, die Füße in einen kalten Wildbach zu hängen oder Kräuter und Blumen zu bestimmen. Auch auf dem Gipfel bewunderte sie am liebsten die Kuppen in der Ferne, dachte an die Berge ihrer Jugend zurück und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie mit wem wo gewesen war, während mein Vater in diesem Moment nichts als Ernüchterung empfand und nur noch nach Hause wollte.
Zwei unterschiedliche Reaktionen auf dasselbe Heimweh vermutlich. Meine Eltern waren mit Anfang dreißig in die Stadt gezogen, fort aus dem ländlichen Veneto, wo meine Mutter geboren und mein Vater als Kriegswaise aufgewachsen war. Ihre ersten Berge, ihre erste große Liebe, waren die Dolomiten gewesen. Sie erwähnten sie manchmal in ihren Gesprächen, als ich noch zu klein war, ihnen zu folgen, aber manche Worte ragten eindeutig heraus, weil sie sonorer, gewichtiger waren: Rosengarten, Langkofel, Tofana, Marmolada. Es genügte, dass mein Vater einen dieser Namen nannte, und die Augen meiner Mutter begannen zu leuchten.
Das waren die Orte, an denen sie sich verliebt hatten, wie auch ich irgendwann begriff. Ein Pfarrer hatte sie in jungen Jahren mit dorthin genommen, derselbe, der sie später auch traute: am Fuß der Drei Zinnen, dort vor der kleinen Kirche, eines Morgens im Herbst. Diese Hochzeit im Hochgebirge war der Gründungsmythos unserer Familie – boykottiert von den Eltern meiner Mutter, ohne dass ich gewusst hätte, warum, gefeiert im Kreis weniger Freunde, mit Anoraks statt Hochzeitsgewändern und mit einem Bett in der Auronzohütte in ihrer ersten Nacht als Mann und Frau. Auf den Felsbändern der Großen Zinne glitzerte bereits Schnee. Es war ein Samstag im Oktober ’71, das Ende der Klettersaison – damals, aber auch noch für viele Jahre danach: Wenig später verfrachteten sie die ledernen Bergstiefel, die Kniebundhosen, ihren schwangeren Bauch und seinen Arbeitsvertrag ins Auto und zogen nach Mailand.
Gelassenheit gehörte nicht gerade zu den Tugenden meines Vaters, aber in der Stadt hätte er sie besser gebrauchen können als Ausdauer. Eine gute Aussicht hatten wir auch in Mailand; in den Siebzigern wohnten wir in einem Haus, das an einer breiten, stark befahrenen Allee stand. Unter dem Asphalt floss angeblich ein Fluss, die Olona. Tatsächlich führte die Straße an Regentagen Wasser, und dann stellte ich mir vor, wie der Fluss da unten im Dunkeln brodelte und anschwoll, bis er aus der Kanalisation kam. Doch es war der andere Fluss aus Autos, Transportern, Mopeds, Lastern, Bussen und Krankenwagen, der ständig Hochwasser hatte. Wir wohnten oben im siebten Stock, und die beiden identischen Häuserreihen, die unsere Straße säumten, verstärkten den Lärm. In manchen Nächten hielt es mein Vater einfach nicht mehr aus. Dann stand er auf und riss das Fenster auf, als wollte er die Stadt beschimpfen, ihr befehlen zu schweigen oder sie mit flüssigem Pech begießen. Minutenlang starrte er nach unten, um anschließend in seine Jacke zu schlüpfen und einen Spaziergang zu machen.
Aus diesen Fenstern sahen wir ein großes Stück Himmel. Ein eintöniges Weiß, egal zu welcher Jahreszeit, einzig und allein von Vögeln durchzogen. Meine Mutter ließ sich nicht davon abhalten, Blumen zu ziehen, auf einem von Auspuffgasen geschwärzten und von Dauerregen schimmlig gewordenen kleinen Balkon. Dort hegte sie ihre Pflänzchen und erzählte mir von Weinbergen im August, draußen auf dem Land, wo sie aufgewachsen war, von an Holzbalken aufgehängten Tabakblättern in den Trockenschuppen oder vom Spargel, der – um weiß und zart zu bleiben – geerntet werden muss, bevor er aus dem Boden sprießt, weshalb man einen besonderen Blick dafür braucht, ihn unter der Erde zu erkennen.
Jetzt nutzte sie diesen Blick auf andere Weise. Im Veneto war sie Krankenschwester gewesen, während sie in Mailand als Familienhelferin im Olmi-Viertel arbeitete, in den Sozialwohnungen am westlichen Stadtrand.
Das war ein noch ganz neuer Beruf, der gerade erst eingeführt worden war, genau wie die Beratungsstelle, für die sie arbeitete und die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Frauen während der Schwangerschaft zu unterstützen und Neugeborene während des ersten Lebensjahrs zu begleiten. Das war auch der Job meiner Mutter, der ihr gut gefiel. Nur dass man in ihrem Einsatzgebiet ein ziemliches Sendungsbewusstsein dafür brauchte. In diesem sogenannten Ulmen-Viertel gab es nämlich alles andere als Ulmen. Sämtliche Straßennamen in diesem Stadtteil, all die Erlen-, Fichten-, Lärchen- und Birkenwege, waren der reinste Hohn inmitten von zwölfstöckigen Mietskasernen, die von allen möglichen Problemen heimgesucht wurden. Zu den Aufgaben meiner Mutter gehörte es auch, das Umfeld zu kontrollieren, in dem ein Kind aufwuchs – es waren erschütternde Hausbesuche, die sie oft tagelang beschäftigten. In Extremfällen musste sie das Jugendamt informieren. Es war schwer für sie, sich zu so einer Entscheidung durchzuringen – von den vielen Beleidigungen und Drohungen einmal abgesehen. Trotzdem wusste sie, dass sie richtig handelte. Und damit war sie nicht allein. Sie fühlte sich den Sozialarbeiterinnen, Erzieherinnen und Lehrerinnen eng verbunden, so als hätten sie eine kollektive weibliche Verantwortung für diese Kinder.
Mein Vater hingegen war schon immer ein Einzelgänger. Er war Chemiker in einer Fabrik mit zehntausend Arbeitern, die fortwährend von Streiks und Entlassungen gebeutelt wurde. Doch egal, was dort vorfiel – er kehrte stets wutentbrannt zu uns zurück. Beim Abendessen schaute er stumm die Nachrichten, die Hände mit dem Besteck in der Luft erstarrt, so als rechnete er jeden Moment mit dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs. Bei jedem gewaltsamen Tod, bei jeder Regierungskrise, bei jeder Benzinpreiserhöhung und bei jedem anonymen Bombenattentat fluchte er leise vor sich hin. Mit den wenigen Kollegen, die er zu uns nach Hause einlud, wurde fast nur über Politik diskutiert, was stets in Streit ausartete. Bei Kommunisten machte er einen auf Antikommunist, bei Konservativen einen auf radikal und bei jedem, der ihn zum Kirchen- oder Parteieintritt bewegen wollte, kehrte er den Freidenker heraus. Aber das war keine Zeit, in der man sich einer Gruppenzugehörigkeit verweigern konnte, deshalb dauerte es nicht lange, und die Arbeitskollegen stellten ihre Besuche ein. Trotzdem ging er weiterhin in die Fabrik, als müsste er jeden Morgen in den Schützengraben, schlief schlecht und wollte die Dinge erzwingen, griff zu Ohrstöpseln und Kopfschmerztabletten und bekam cholerische Anfälle. Dann trat meine Mutter auf den Plan, die es als ihre eheliche Pflicht betrachtete, ihn zu besänftigen, die Schläge im Kampf meines Vaters mit der Welt zu dämpfen.
Zu Hause sprachen sie nach wie vor den Dialekt des Veneto. In meinen Ohren war das ihre Geheimsprache, der Widerhall eines früheren rätselhaften Lebens. Noch so ein Überbleibsel aus der Vergangenheit wie die drei Fotos, die meine Mutter auf dem Flurtischchen aufgestellt hatte. Ich sah sie mir häufig an. Das erste zeigte ihre Eltern in Venedig, auf der einzigen Reise ihres Lebens – ein Geschenk meines Großvaters an die Großmutter, zur Silberhochzeit. Auf dem zweiten posierte die ganze Familie bei der Ernte: Die Großeltern saßen in der Mitte, drei junge Frauen und ein junger Mann umstanden sie, dazu drei Körbe mit Trauben bei der Tenne. Auf dem dritten der einzige Sohn, mein Onkel, lachend mit meinem Vater neben einem Gipfelkreuz, ein aufgerolltes Seil um die Schulter und in Bergsteigermontur. Er war früh gestorben, weshalb ich seinen Namen trug, auch wenn ich Pietro und er Piero genannt wurde. Trotzdem kannte ich keinen dieser Leute. Wir besuchten sie nie, und sie kamen auch nie nach Mailand. Ein paarmal im Jahr nahm meine Mutter samstagmorgens den Zug, um sonntagabends trauriger als bei der Abfahrt wieder zurückzukehren. Doch dann verflog ihre Traurigkeit, und das Leben ging weiter. Es gab einfach zu viel zu tun, zu viele Menschen, um die man sich kümmern musste, statt in Wehmut zu versinken.
Aber diese Vergangenheit machte sich bemerkbar, wenn man es am wenigsten erwartete. Im Auto, während der langen Fahrt, die mich zur Schule, meine Mutter zur Beratungsstelle und meinen Vater zur Fabrik brachte, stimmte sie morgens manchmal ein altes Lied an. Mitten im Verkehr sang sie die erste Strophe, woraufhin er mit einfiel. Diese Lieder spielten in den Bergen und handelten vom Ersten Weltkrieg: La tradotta, La Valsugana, Il testamento del capitano. Es waren Geschichten, die ich inzwischen auswendig kannte. Mit siebenundzwanzig Mann waren sie an die Front gezogen und nur zu fünft heimgekehrt. Unten am Piave harrte ein Kreuz auf eine Mutter, die es irgendwann aufsuchen würde. Und in der Ferne wartete sehnsüchtig die Braut, doch eines Tages war sie es leid und heiratete einen andern. Der Sterbende schickte ihr einen Kuss und wünschte sich eine Blume. Manche Worte waren im Dialekt, woran ich erkannte, dass meine Eltern sie aus ihrem früheren Leben mitgenommen hatten. Gleichzeitig spürte ich noch etwas anderes, noch Seltsameres, so als würden diese Lieder irgendwie auch von ihnen handeln. Von ihnen ganz persönlich, denn sonst wäre da nicht die klar erkennbare Rührung in ihren Stimmen gewesen.
An bestimmten Föhntagen im Herbst oder Frühling tauchten am Ende der Mailänder Straßen plötzlich die Berge auf. Hinter einer Kurve, über einer Überführung, vollkommen unerwartet, und dann eilte der Blick meiner Eltern sofort dorthin, ohne dass einer den anderen darauf aufmerksam machen musste. Die Gipfel waren weiß, der Himmel außergewöhnlich blau, ein echtes Wunder. Während es unten bei uns Fabrikrevolten, überfüllte Sozialwohnungen, Straßenkämpfe, misshandelte Kinder und minderjährige Mütter gab, glitzerte dort oben Schnee. Meine Mutter fragte dann immer, welche Berge das waren, woraufhin sich mein Vater umsah, als wollte er den Kompass an der Geografie der Großstadt ausrichten. Wo sind wir hier, auf dem Viale Monza oder dem Viale Zara? Dann ist das die Grigna, sagte er nach einigem Nachdenken. Ja genau, das muss sie sein! Ihre Legende kannte ich: Die Grigna war einst eine wunderschöne, aber grausame Kriegerin, die ihre Verehrer mit Pfeil und Bogen tötete, weshalb sie von Gott zur Strafe in einen Berg verwandelt wurde. Und jetzt war sie hier, innerhalb der Windschutzscheibe, und ließ sich von uns dreien bewundern, die wir alle stumm unseren Gedanken nachhingen. Dann sprang die Ampel um, ein Fußgänger eilte vorbei, und hinter uns hupte jemand, den mein Vater verwünschte, während er wütend den Gang einlegte und diesem Moment der Gnade davonfuhr.
Die Siebziger neigten sich dem Ende zu, und während in Mailand die Hölle los war, schnürten meine Eltern die Bergschuhe. Sie fuhren nicht nach Osten, in ihre Heimat, sondern nach Westen, als wollten sie ihre Flucht fortsetzen: nach Ossola, ins Valsesia und ins Aostatal, hin zu höheren, schrofferen Bergen. Erst sehr viel später sollte mir meine Mutter gestehen, dass sie sie beim ersten Mal als überraschend beklemmend empfunden hatte. Im Vergleich zu den sanften Silhouetten des Veneto und Trentino kamen ihr diese Täler eng, düster und unheimlich vor, so als wäre man in einer tiefen Schlucht. Der Fels war feucht und dunkel, und überall stürzten Wildbäche und Wasserfälle in die Tiefe. Was für Wassermassen! Hier musste es wirklich viel regnen. Ihr war nicht klar, dass all das Wasser einer besonderen Quelle entsprang, und auch nicht, dass mein Vater und sie schnurstracks darauf zumarschierten. Sie stiegen auf, bis sie in der Sonne liefen, und plötzlich öffnete sich die Landschaft, und der Monte Rosa tauchte vor ihnen auf. Eine arktische Welt, ein ewiger Winter, der bedrohlich über den Sommerweiden aufragte. Meine Mutter fand das beängstigend, doch mein Vater sagte, das sei, als entdeckte man eine neue Dimension, als käme man von den Bergen der Menschen, nur um sich dann in denen der Riesen wiederzufinden. Natürlich war es für ihn Liebe auf den ersten Blick.
Keine Ahnung, wo das damals gewesen ist. In Macugnana, Lagna, Gressoney oder Ayas? Damals fuhren wir jedes Jahr woandershin, folgten dem unsteten Nomadentum meines Vaters einmal um den Berg, der ihn erobert hatte. Noch mehr als an diese Täler erinnere ich mich an die Häuser, falls man sie überhaupt so nennen kann. Wir mieteten uns einen Campingplatzbungalow oder ein Zimmer in einem Landgasthof, in dem wir dann zwei Wochen blieben. Wir hatten nie genug Platz, um es uns dort gemütlich zu machen, und auch nicht die Zeit, eine echte Bindung aufzubauen, aber das interessierte meinen Vater auch gar nicht, er nahm es überhaupt nicht wahr. Kaum waren wir angekommen, zog er sich um, holte Karohemd, Cordhose und Wollpulli hervor und wurde in seinen alten Kleidern ein ganz neuer Mensch. Er verbrachte diese kurzen Ferien mit Wandern, verließ frühmorgens das Haus und kehrte erst abends oder am nächsten Tag zurück: voller Staub, sonnenverbrannt und erschöpft, aber glücklich. Beim Abendessen erzählte er uns von Gämsen und Steinböcken, von Nächten im Freien, Sternenhimmeln und vom Schnee, der dort oben selbst noch im August fiel. Und wenn er so richtig zufrieden war, endete er mit den Worten: Wie gern hätt ich euch dabeigehabt!
Doch meine Mutter weigerte sich, auf Gletscher zu gehen, sie hatte eine irrationale, unüberwindliche Angst davor. Für sie endeten die Berge bei dreitausend Metern, in der Höhe ihrer Dolomiten. Den dreitausend Metern zog sie die zweitausend vor – die Weiden, Wildbäche und Wälder. Auch die tausend Meter gefielen ihr sehr, das Leben in diesen Dörfern aus Holz und Stein. Wenn mein Vater fort war, ging sie gern mit mir spazieren, trank einen Kaffee auf der Piazza, setzte sich auf eine Wiese, um mir vorzulesen, und plauderte mit Passanten. Unsere ständigen Ortswechsel fand sie eher belastend. Sie wünschte sich ein Haus, das sie sich zu eigen machen, ein Dorf, in das sie zurückkehren konnte, und bat meinen Vater wiederholt darum. Der meinte, wir hätten kein Geld für eine doppelte Miete, bis sie ihm eine bestimmte Höchstsumme abrang und er ihr irgendwann erlaubte, sich auf die Suche zu machen.
Abends nach dem Essen breitete mein Vater eine Landkarte auf dem Tisch aus und plante seine nächste Tour. Daneben befanden sich das graue Büchlein des italienischen Alpenvereins und ein halb volles Glas Grappa, an dem er hin und wieder nippte. Meine Mutter genoss ihre Freizeit in einem Sessel oder auf dem Bett, wo sie sich in irgendeinen Roman vertiefte. Für ein, zwei Stunden verschwand sie komplett darin wie in einer anderen Welt. Dann kletterte ich auf den Schoß meines Vaters, um zu sehen, was er da machte. Ich erlebte ihn gut gelaunt und gesprächig – das genaue Gegenteil von dem Vater in der Stadt, den ich gewohnt war. Bereitwillig erklärte er mir die Karte und wie man sie liest: »Das hier ist ein Wildbach« – er zeigte darauf –, »das ein Bergsee und das hier sind Almhütten. An den Farben kannst du den Wald von Wiesen, Geröllfeldern und Gletschern unterscheiden. Diese geschwungenen Linien geben die Höhe an: Je dichter sie beieinanderliegen, desto steiler ist der Berg, bis er so steil wird, dass man ihn nicht mehr erklimmen kann. Hier, wo es weniger sind, ist die Steigung sanfter, und es gibt Wege, siehst du? Diese Punkte mit einer bestimmten Höhenangabe sind die Gipfel. Und die besteigen wir. Wir gehen erst wieder runter, wenn es nicht weiter raufgeht, hast du das verstanden?«
Nein, das ging über meinen Horizont. Ich musste sie mit eigenen Augen sehen, diese Welt, die ihn dermaßen glücklich machte. Als wir Jahre später damit begannen gemeinsam loszuziehen, erzählte mir mein Vater, er wisse noch genau, wann ich dem Ruf der Berge erstmals gefolgt sei. Eines Morgens, als er gerade aufbrechen wollte und sich die Stiefel schnürte, während meine Mutter noch schlief, habe ich plötzlich vor ihm gestanden: angezogen und aufbruchsbereit. Ich müsse mich im Bett fertig gemacht haben. Im Dunkeln hätte ich ihn erschreckt, so als wäre ich weitaus älter als meine sechs oder sieben Jahre. Schon damals war ich der, der ich einmal werden sollte, zumindest seinen Schilderungen nach: ein Vorgeschmack auf den erwachsenen Sohn, ein Gespenst aus der Zukunft.
»Möchtest du nicht noch ein bisschen schlafen?«, hatte er mich flüsternd gefragt, um meine Mutter nicht zu wecken.
»Ich will mit«, hatte ich erwidert, zumindest behauptete er das. Aber vielleicht war das auch nur ein Satz, an den er sich gern erinnern wollte.
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