66 Wahrheiten einer verrückten Dekade
mit 10 Touchés von © TOM
E-Book-Ausgabe September 2021
© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2021
www.satyr-verlag.de
Coverillustration und Cartoons: ©TOM
Korrektorat: Jan Freunscht
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de
Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.
E-Book-ISBN: 978-3-947106-77-6
Vorwort – Michael Ringel, Christian Bartel
Sodbrennen mit Omas Schlotze – Christian Bartel
Versteinerte Weichheit – Michael Bittner
Stammgermanen, Schlammgeburten – Thilo Bock
Trinkfeste Halsbrecher – Thomas C. Breuer
Die Schrankwände der anderen – Laura Brinkmann
Ein Hauch von Beige – Katinka Buddenkotte
Grenzfrage der Kunst – Fritz Eckenga
Nächtlicher Heimweg – Eugen Egner
Müll ist in der kleinsten Hütte – Leo Fischer
Wir sind nicht vom selben Gendersternchen – Susanne Fischer
Weil wir alle wahnsinnig wurden – Arno Frank
Wo sind die Zahnlosen? – Pia Frankenberg
Am Tellerrand des Tinnitus – Torsten Gaitzsch
Das Rätsel der Balz – Bernd Gieseking
Rigoroser Rudimentarismus – Severin Groebner
Der arabische deutsche Mann – Thomas Gsella
Wo Wili Wonka wohnt – Michael Gückel
Volle Regression voraus – René Hamann
Hipster im Schlamm – Uli Hannemann
Wer. Dient. Deutschland? – Patric Hemgesberg
»Schleicht euch, ihr Würstchen!« – Gerhard Henschel
Hingefläzt aufs Eisbärenfell – Helmut Höge
Vorfreude aufs Fest – Jan Kaiser
Hakapocalypse now – Francis Kirps
Sitzt du noch? – Tanja Kokoska
Sittlich reife Schweine – Peter Köhler
Im Namen der Hodenfee – Kriki
Der homosexuelle Mann … – Elmar Kraushaar
Brot ist nicht dumm! – Tanja Küddelsmann
Tausend Jahre Björn Höcke – Hartmut El Kurdi
Der König von Burladingen – Fabian Lichter
Weg mit dem Kretin! – Philip Meinhold
Versuch über die Mondfinsternis – Jürgen Miedl
Fußballstadien voller Sexsklavinnen – Jacinta Nandi
Dresdner Zombies – Peter P. Neuhaus
Musik, zwo, drei! – Robert Niemann
Clown im Kessel – Cornelius Oettle
Frühlingsfeucht – Holger Paetz
Ein paar Fragen an Sigmar Gabriel – Klaus Pawlowski
Herbstmuskelschwäche – Bernd Penners
Der Salz-Irre von der SPD – Nico Rau
Vivat, Santa Jacinda – Anke Richter
Unverlangte Li-La-Lyrik – Michael Ringel
Was gab’s heut zu sehen am Strand? – Carola Rönneburg
Papa Balú – Andreas Rüttenauer
Frankfurt fuckt ab – Jürgen Roth
Verfahren im Olympiapark – Michael Sailer
Alt-Metal mit Herzensbildung – Frank Schäfer
Mit Lach und Krach – Oliver Maria Schmitt
Horst Kawamba-Pukkapäki y Gutiérrez – Joachim Schulz
Schwimmt nicht im Meer, Iren! – Ralf Sotscheck
Allein mit Nosferotz – Corinna Stegemann
Stirb langsam in Cottbus – Ulrike Stöhring
Marmeladenbrot statt Heulkrämpfe – Volker Surmann
Auferstanden aus Rosinen – Fritz Tietz
Spott über Gott – Mark-Stefan Tietze
Ein Denkmal für Habermas – Reinhard Umbach
Unkraut jäten im Neurosengarten – Ella Carina Werner
Damit morgen wieder die Sonne scheint – Michael-André Werner
Being Greta Thunberg – Heiko Werning
Ein Bruchband für Berlin – Rayk Wieland
Ungeheuer in Stockholm – Valentin Witt
Urlaub im besten aller Paradiese – Harriet Wolff
Nackte Kokeljockel – Tim Wolff
Stromabwärts im Raum-Zeit-Kontinuum – Dietrich zur Nedden
Kultivierte Kommunikation am Arsch – Jenni Zylka
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ein ganz normaler Tag in der Wahrheit-Redaktion. Die Agenturticker rattern vor sich hin. Die Nachrichtenlage ist mau. Da klingelt plötzlich das Telefon. Am Apparat Wolfgang Grupp von Trigema. Der Mann aus der Fernsehwerbung mit dem Affen. Mit seiner bekannt schnarrenden Stimme legt er los und eine rund zehnminütige Suada hin, dass der Text über ihn »eine Grenze überschritten« habe und »unter die Gürtellinie« gegangen sei.
Zuvor hatte der Wahrheit-Autor Fabian Lichter eine feine Satire zum 100-jährigen Jubiläum des baden-württembergischen Textilunternehmens verfasst. Am meisten regt sich Grupp darüber auf, dass Lichter geschrieben hatte, auf der Jubelfeier hätte sich der Trigema-Chef mit einem 500-Euro-Schein die Stirn abgewischt, die Banknote zusammengeknüllt und weggeworfen. Das würde er als »verantwortungsvoller Unternehmer«, der »nicht im Ausland arbeiten lässt und keine Kinder beschäftigt, nie tun«. Man könne ihn ruhig als »Mann mit dem Affen aus dem Fernsehen« beschreiben, aber das nicht! Er fliege zwar »mit dem Hubschrauber«, sei aber »bodenständig«!
Als Wahrheit-Redakteur stellt man sich selbstverständlich vor seinen Autor, was Wolle Grupp als Patron alter Schule wohlwollend zur Kenntnis nimmt, und erklärt den üblichen Sermon über Satire und die Mittel der Übertreibung und Zuspitzung, man habe aber keinesfalls die Privatsphäre verletzt, weshalb das Ganze also juristisch kaum verfolgbar wäre, er könne ja einen Leserbrief einsenden und dort noch einmal Dampf ablassen. Und zum Abschied entbietet man schöne Grüße an den Affen. Ein ganz normaler Tag in der Wahrheit.
Um dem Affen Zucker zu geben und die damals arg trockene schwarz-weiße Bleiwüste der taz zu beleben, wurde Anfang der Neunzigerjahre die Wahrheit-Seite ins Leben gerufen. Es sollten die immer häufiger kursierenden seltsamen Nachrichten und Berichte aus aller Welt gebündelt werden, die in einer normalen Tageszeitung auf der Seite für Vermischtes gelandet wären. Aber die taz war nie eine normale Zeitung und wollte keine Polizei-, Unglücks- oder Celebrity-Meldungen im Blatt haben. Kurz zuvor waren die Sowjetunion und der Ostblock zusammengebrochen und auch solch illustre Publikationen wie die sozialistische Westberliner Zeitung Die Wahrheit verschwunden, also wurde der vakante Titel aus der Erbmasse ironisch übernommen. Das bis heute weitgehend bestehende Layout mit »Gurke«, »Wetter« und Wetterfrosch entwarf die im Jahr 2021 verstorbene Künstlerin Françoise Cactus, die damals als Layouterin für die taz arbeitete. Am 3. September 1991 erschien dann die erste Wahrheit, und seither ist sie »die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit«. So lautet jedenfalls ihre Selbstbeschreibung, nach der sie auch »drei Grundsätze« hat: »Warum sachlich, wenn es persönlich geht. Warum recherchieren, wenn man schreiben kann. Warum beweisen, wenn man behaupten kann.«
Eine parodistische Verkehrung journalistischer Grundsätze, die dem berühmten Durchschnittsleser, der im Fall juristischer Händel gern bemüht wird, sofort klarmachen soll, dass es sich um ein satirisches Medium handelt. Die Wahrheit versammelt dann auch alle Formen und Genres des gängigen Humors: Satiren, Glossen, Parodien, Spottgedichte, Anekdoten, Grotesken, Witze, Nonsens, Karikaturen, Cartoons und Comics. In Bild und Text wird Tag für Tag die Welt als Narrencontainerschiff abgebildet.
Als Besonderheit präsentiert die Wahrheit den einzigen originalen täglichen Bilderstreifen in einer deutschen Zeitung, den »Touché« von ©Tom, der am 6. Dezember 1991 erstmals erschien. Seit dem 12. November 1991 schreibt der Irland-Korrespondent der taz, Ralf Sotscheck, seine montägliche Kolumne. Und dienstälteste Autorin der Wahrheit ist Susanne Fischer, die seit dem 2. Januar 1996 kolumniert und ihres Zeichens geschäftsführender Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung in Bargfeld ist. Jeden Donnerstag findet sich zudem als ein weiteres funkelndes Glanzstück auf der Seite ein komisches Gedicht – nach der selbst gewählten Devise: »Die Wahrheit spricht / im Reimgedicht.«
Eines der Hauptmittel der Wahrheit ist der Fake oder die Fake-Reportage. Lange bevor der amerikanische Lügenweltmeister Donald Trump den Begriff populär machte, nutzte die Wahrheit das Genre und veröffentlichte komplett erfundene Geschichten, die aber durchaus möglich sein könnten. Bekanntestes Beispiel ist eine Satire von Gerhard Henschel mit dem Titel »Sex-Schock! Penis kaputt?«, die zum sogenannten Penis-Prozess führte. Henschel hatte dem damaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann wegen der enorm sexualisierten Prominentenberichterstattung des Blut-und-Sperma-Blatts eine Penisverlängerung angedichtet. Die Wahrheit wurde verurteilt, den Text niemals wieder in Umlauf zu bringen, Diekmann allerdings wurde sein gefordertes immens hohes Schmerzensgeld nicht zugestanden – und der Rest ist Justizgeschichte.
Der gesamte Vorgang wurde sogar von einem Bildhauer in ein Kunstwerk umgewandelt, das am alten taz-Gebäude in der Berliner Rudi-Dutschke-Straße hängt. Dort begaffen an normalen Reisetagen Dutzende von Touristengruppen aus aller Welt das Wandgebilde mit dem Titel »Friede sei mit Dir«. Eine Anspielung auf die Verlegerin Friede Springer, zu deren Konterfei sich ein gigantischer lachsfarbener Penis hinaufschlängelt, weshalb das Werk auch in Reiseführern weltweit als »Der Pimmel über Berlin« auftaucht.
Die Beschwerden über und Klagen gegen die Wahrheit sind Legion und bilden eine ganz eigene Liga, allerdings keine der außergewöhnlichen Gentlemen. Zuletzt beschritt den Rechtsweg der Schweinebaron Clemens Tönnies, den der Wahrheit-Autor Peter Köhler in einen Albtraum und sein eigenes Schlachthaus hineinversetzte, wo er als Schwein den gesamten Schlachtvorgang miterleben durfte. »Das Schwein wird humanisiert«, wie es in einer Stellungnahme der Wahrheit für die Anwälte und das Gericht mit Blick auf die tierethischen Aspekte und ihre allegorische Einkleidung heißt. Das übliche Gesummse, das in solchen Fällen den gröbsten Schaden abwenden soll, denn bei Schmerzensgeldforderungen in Höhe von 40.000 Euro hört der Spaß auf. So etwas kann beim Gang durch alle Instanzen, die sich ein schornsteinreicher Mann wie Tönnies leisten kann, schnell auf das Zehnfache an Kosten anschwellen und somit für eine kleine Zeitung wie die taz existenzbedrohend werden.
All das muss mitbedenken, wer die Wahrheit macht. Und in der kleinen Redaktion gehören dazu seit dem Jahr 2000 Michael Ringel und seit 2013 Harriet Wolff, die beide auf der Arbeit ihrer vielen guten Vorgänger aufbauen konnten und mit den ständigen Vertretern Christian Bartel und René Hamann auf profunde literarische Kräfte zurückgreifen können. Aber die Wahrheit wäre nichts ohne ihre Autoren, sie ist eine ausgewiesene Autorenseite, auf der jeden Tag sowohl ein Aufmacher als auch eine Kolumne von einem freien Mitarbeiter erscheinen. Aber wer sind jene furchtlosen Recken und Recketten an ihren tollkühnen Schreibtischen, die weder die Macht der Milliardäre noch den Zorn wutgefüllter Blasen fürchten? Und was ermutigt die Zuträger der Wahrheit, Tag für Tag ins finstere Bergwerk des Zeitgeschehens einzufahren, um noch im abseitigsten Stollen die seltene Erde der Komik aus dem Schamott zu schürfen?
Ein Psychogramm dieser Humorschaffenden kann und soll hier nicht gewagt werden, die Motivationen dürften ohnehin disparat ausfallen. Dafür sprechen die Texte in diesem Band. Vom Mitleid mit der geschundenen Kreatur über die Kritik an den Verhältnissen, die schiere Fassungslosigkeit über Triumphe menschlicher Dummheit bis zum anarchischen Spaß an der »fröhlichen Infamie« (Tim Wolff) springt dem Leser aus den Zeilen alles Mögliche und Unmögliche entgegen.
Eines jedoch ist sicher: Das magere Zeilengeld kann kaum jemals Motiv gewesen sein, die wiederkehrenden Appelle aus dem Wahrheit-Kontor zu erhören, die zur »Beendigung des Textleids« nach »Aufmachern, Aufmachern, Aufmachern« oder »Kolumnen, Kolumnen, Kolumnen« rufen. In Rundbriefen jammern die Redakteure dann über die »leere Halde«, die »abgeschmolzen wie der Butterberg« sei und dringend des fetten Nachschubs bedürfe.
Die Wahrheit ist: Für die Wahrheit zu schreiben, muss man sich leisten können, vor allem aber wollen. Die Entscheidung für die Satire, namentlich in der taz, ist eine Entscheidung gegen die ökonomische Vernunft. Schon deswegen bleibt die Autorenschaft der Wahrheit ebenso überschaubar wie undurchschaubar, um nicht zu sagen: schillernd. Prinzipiell eint sie wohl eine robust subversive Grundhaltung, die ihnen noch kein Steuerberater austreiben konnte.
Zu den Altinternationalen der schreibenden Spaßfront – den mittleren bis späten Jahrgängen der Neuen Frankfurter Schule und verwandter Bildungseinrichtungen – haben sich neue Generationen komischer Autorinnen und Autoren gesellt. Zuletzt ist die Generation Lesebühne beim Marsch aus der Vorlesekneipe durch die publizistischen Institutionen auf die Wahrheit gestoßen. Ella Carina Werner und Volker Surmann, Uli Hannemann und Heiko Werning sind nur einige der vielen Autoren, die ihre Pointenfindigkeit dieser Literaturveranstaltungsform verdanken, auch wenn ihr Schreiben längst über die Lesebühne hinausweist.
Wie das gesamte Humorgewerbe wird auch die Wahrheit langsam weiblicher, mit Betonung auf »langsam«. In den letzten zwanzig Jahren konnte der Frauenanteil auf der Wahrheit-Seite von fünf auf sagenhafte dreißig Prozent gesteigert werden. So viele Frauen findet man sonst höchstens in deutschen Aufsichtsräten. Die beschwerliche Arbeit der humoristischen Weltdeutung findet aber nun einmal nicht in den Niederungen deutscher Chefetagen, sondern in den »heiligen Hallen der Wahrheit« statt, wie das Kontor in offiziellen Redaktionsverlautbarungen stets genannt werden muss. Eine Formulierung, die nicht etwa auf den realen Ort, sondern auf einen entrückten Hort der Weisheit verweist, der auf halber Strecke zwischen Shangri La und Wolkenkuckucksheim zu suchen ist. Gleich hinter dem verwaisten Tempel des Sarastro. Mehr wird aber nicht verraten.
Aus dieser luftigen Höhe scheint es nur angemessen, den gesamten Weltkreis und das bizarre Wirken seines Bodenpersonals für bekloppt zu halten. Wenn dann auch noch ausgesucht sinistre Spießgesellen wie der unheimliche Affenmann anrufen, ergibt sich ein alarmierendes Gesamtbild.
Ist die Welt, sind wir alle flächendeckend beknackt? So grenzdebil, imbezil und rettungslos dem Wahnsinn verfallen, wie der Titel dieses Buches einfühlsam andeutet? Der vorliegende Band legt jedenfalls erstmals stichhaltige Beweise für die menschheitsalte These vor. Dazu haben wir 66 Wahrheiten aus den letzten zehn Jahren versammelt – einer von Schmonzes und Bockmist bis ins Unterfell verkleisterten Dekade, die Experten schon jetzt für die irrste Dekade der letzten zehn Jahre halten.
Zur Erinnerung: Die verflixten Zehnerjahre begannen mit dem Unsinn einer Schuldenkrise, um sich anschließend in den eigens dafür erfundenen sozialen Netzwerken zu noch gröberem Schwachsinn zu radikalisieren. Irgendwo musste den Irren schließlich der Schmarren ins Haupt gezüchtet werden, der sie die Killerclowns Bolsonaro und Trump an die Macht und französischen Witzzeichnern eine Kugel in den Schädel liken ließ. Derweil marschierten angeblich nicht vorhandene Bataillone über die Krim, und das Vereinigte Königreich machte sich auf den Marsch aus der bald womöglich tatsächlich nicht mehr vorhandenen EU. Der Irrsinn in Syrien wurde unbeschreiblich, der Stumpfsinn der mörderisch besorgten Bürger hierzulande offensichtlich. Über die europäischen Grenzen marschierte der Treck der Davongekommenen, die anderen holte das Mittelmeer. In deutschen Parlamenten marschierten schon wieder Nazis. Als König Mumpitz tauchte ausgerechnet Friedrich Merz aus der Versenkung auf.
Solche Petitessen fielen aber kaum ins Gewicht, weil der Klimawandel immer unangenehmer ins Apokalyptische rutschte und Australien entzündete, wovon pünktlich zum Dekadenschluss eine Pandemie ablenkte. Eine todbringende Pandemie! Nach all dem Irrsinn! Der Virus erwies sich dann auch als unbezwingbarer Endgegner für die gebeutelte Restvernunft der Menschheit.
Statt Seelenruhe brachte der Lockdown beileibe nicht nur im Osten blühende Wahnlandschaften, und der stetig länger werdende Seuchenzug ließ den ganz speziellen Irrsinn des Regierungshandelns immer neue Sumpfblüten treiben. Dazu schlossen auch noch dauerhaft sämtliche Schankwirtschaften – und keine Rettung war nirgends.
Mit dieser ausgesucht heiteren Note soll der kleine Epochenrundgang enden. Deutlich wird: Kein vernünftiger Mensch konnte vom Bullshit-Büfett der abgelaufenen Dekade fressen, ohne sich anschließend unter Albträumen im Bett zu wälzen. Die verrückten Zehnerjahre werden der Welt noch eine ganze Weile schwer im Magen liegen.
Zum Glück gilt die aus feinster Binse geflochtene Weisheit, dass wer über die Weltzustände eher lacht, nicht nur ein weiser Narr, sondern sogar ein närrischer Weiser ist.
Von diesem wahlweise hilfreichen oder trügerischen Glückskeksaxiom scheinen auch die »Wahrheitistas« genannten Autorinnen und Autoren nicht unbeeindruckt: Die Texte in dieser Anthologie verweisen doch recht deutlich auf die resilienz- und renitenzfördernde Eignung der Komik.
Auch die Leserinnen und Leser der Seite, von denen etliche gar im ominösen »Wahrheitklub« organisiert sind, der in Normalzeiten gern seinen Unfug auf den beiden gängigen Buchmessen treibt, zeigen und zeigten Zustimmung: Wenn der Irrsinn der Dekade am tiefsten war, wurde ihr Gelächter umso lauter.
Ob die Pandemie nun vorläufiger Kulminationspunkt eines seit Menschengedenken grassierenden Wahnsinns ist oder als Großinkubator vollkommen neuer Schwachsinnsmutationen von verschärfter Infektionskraft in die Geschichten der Wahrheit eingehen wird, muss allerdings die nächste Anthologie entscheiden. Hier ist jetzt mal Redaktionsschluss.
Christian Bartel und Michael Ringel
Bonn und Berlin, Frühjahr 2021
Vorweihnachtszeit – Zeit für Nostalgie:
Wenn Großmütter Frankensteins Monster auf die Teller zaubern.
Von Christian Bartel
Die Vorweihnachtszeit nutzen Menschen gern, um sich nostalgischen Gefühlen wie dem Sodbrennen hinzugeben. Das aber ist gar nicht so einfach, weil oft die gastronomischen Voraussetzungen fehlen. Spätestens mit meiner Großmutter mütterlicherseits ist doch die letzte bedeutende Interpretin der westdeutschen Nachkriegsküche von uns gegangen, die auch Desserts auf der Basis von Schweineschmalz konzipierte.
Gemüse war nur zugelassen, wenn man es in Mehltunke ertränkte. »Und zuletzt noch einen Stich guter Butter«, hieß es bei meiner Oma, und schon war der Butterberg der EU, die damals noch EWG hieß, nur mehr halb so groß.
Bis an ihr Lebensende vertrat meine Großmutter die Auffassung, dass eine einzige Mahlzeit genug Energie abwerfen muss, um ein paar Hungerjahre in russischer Kriegsgefangenschaft zu überstehen. Ihre Gerichte waren so schwer, dass ich die Gabel nur mit Mühe zum Mund heben konnte, aber genau dies galt als Beweis, dass ich noch nicht kräftig genug war, sodass ich umgehend mit Nachschlag rechnen musste: »Iss, Kind!«
Genau wie Frankensteins Monster hatte das Essen meiner Großmutter keinen Namen. Es hieß nicht mal Suppe oder Eintopf, sondern war namenloses Grauen, eine graubraune Schlotze, in der Graupen, Raupen oder Schrauben dümpelten, so genau konnte man das nicht erkennen. Nur einmal ging meine Mutter in die Küche, hob den Deckel und sagte mit Blick auf das Hühnermassaker: »Na, gibt’s heute wieder ›Ausgebombt‹?«
Meine wortkarge Oma nickte, denn so war sie drauf, die Kriegsgeneration. Statt sich die Traumata beim Analytiker von der Seele zu reden, hat meine Oma den ganzen Wahnsinn Tag für Tag am Herd nachgestellt. Joseph Beuys rümpelte die Museen mit seinen Fettbergen voll, meine Oma hat sie gekocht.
Um die fußballgroßen Talgknödel aufzulösen, die sich in den Mägen bildeten, wurde Kaffee eingesetzt. Der war jedoch kein verdauungsförderndes Getränk, sondern rituelle Selbstbestrafung, mit der man sich die Kriegsschuld aus den Eingeweiden ätzte. Dieser angeblich »gute Bohnenkaffee«, den meine Oma in Wahrheit aus Eicheln und Teerklumpen zusammenkloppte, wurde erst serviert, wenn er auf der Warmhalteplatte zu bitterem Sirup verschmurgelt war. Man konnte literweise Dosenmilch reingießen, doch blieb er ein schwarzes Loch in Tassenform, das alles Licht aus der Welt und alle vier Klappen aus den Herzen fraß.
Heute dagegen stehen an jeder Ecke Vollidioten an arabicagefüllten Vollautomaten, und das gutbürgerliche Fettflächenbombardement ist bloß noch in verwilderten Dorfgasthöfen aufgegebener Landstriche wie Niedersachsen zu erleben, aber selbst dort wird mitunter gar nicht mehr mit Schweröl frittiert. Damit die Sehnsucht der Bevölkerung nach dem Nostalgiegefühl Sodbrennen trotzdem gestillt werden kann, hat die Bundesregierung Weihnachtsmärkte ins Leben gerufen, die mit Fettreserven aus dem Kalten Krieg arbeiten. Ein einziger Bissen der dort gereichten Speisen genügt, um das Weihnachtsgefühl in der Speiseröhre so heimelig brennen zu lassen wie Kerzen auf dem Adventskranz.
Oma übrigens war nie auf einem dieser Weihnachtsmärkte, vermutlich weil sie ahnte, dass man in den Fritteusen das alte Fett von Joseph Beuys wiederverwendete. Und von Kunst musste sie immer aufstoßen.
Dass die Sachsen nie vollständig unterworfen oder gar
zivilisiert wurden, rächt sich nun bitterlich.
Von Michael Bittner
Mit Verwunderung blickt ganz Deutschland auf einen kleinen Flecken am Rande der Republik: Sachsen. Ein Bundesland, das bislang nur für eine sympathische Sprachbehinderung seiner Einwohner und den Schnauzbart von Wolfgang Stumph bekannt war. Das abgelegene Ländchen steht nun plötzlich mitten im Licht jener brennenden Flüchtlingsheime, die allnächtlich von jungen Sachsen angezündet werden. Tagsüber melden sich derweil besorgte Sachsen mit kritischen Anmerkungen zur Migrationspolitik wie »Mistvieh!«, »Hure!« oder »Fotze!« zu Wort. Was ist bloß los im Freistaat?
Erstaunt und erschrocken müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sich mitten in Deutschland schleichend eine Parallelgesellschaft gebildet hat. Unter unseren Augen und doch unbemerkt ist sie entstanden. Die sächsische Parallelgesellschaft hat inzwischen eigene Gesetze: Grundrechte wie die Demonstrationsfreiheit gelten nicht mehr. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist mitnichten überall sicher. In viele national befreite Zonen traut sich die deutsche Polizei schon nicht mehr hinein. Stattdessen patrouilliert dort der Heimatschutz, eine Art Schariapolizei, deren Heilige Schrift jedoch von einem Propheten aus Braunau am Inn verfasst wurde.
Dieser Bürgerwehr gelten demokratische Werte und die christliche Kultur nichts mehr. Gegrüßt wird mit erhobener Rechter, gebetet wird zu Wotan und Thilo Sarrazin. Selbst grundlegende Errungenschaften der Zivilisation, so etwa die Rechtschreibung und die Grammatik, scheinen in der sächsischen Parallelgesellschaft vergessen. Es ist nicht verwunderlich, dass erste Stimmen einen Austritt Sachsens aus der Bundesrepublik fordern.
Einigen Einheimischen wäre eine solche Sezession auch ganz recht. Nach dem Vorbild des Islamischen Staates (IS) könnten sie sich dann unbeschwert an die Errichtung eines Sächsischen Staates (SS) machen. Einigen Sachsen juckt es erkennbar schon in den Fingern, Relikte einer überwundenen Fremdkultur wie Parlamente und Zeitungsredaktionen endlich in die Luft jagen zu können.
Will man das Rätsel Sachsen lösen, muss man in die Geschichte schauen. Denn auch die Sachsen selbst richten ihren Blick am liebsten zurück in die gute alte Zeit. Es war im Mittelalter, als sich am Fuße des Erzgebirges und im Tal der Elbe Germanen und Slawen zur fröhlichen und friedlichen Völkervereinigung trafen. So entstanden die Sachsen, die ihren multikulturellen Ursprung leider über die Jahrhunderte ein wenig verdrängt haben.
Ungefähr eine halbe Million Kinder mit mehreren Frauen soll August der Starke gezeugt haben – die männlichen Sachsen lieben ihn noch heute für diese Leistung. Sie selbst kommen über anderthalb Kinder mit einer Partnerin nicht mehr hinaus, was umso unverständlicher ist, als sächsische Frauen völlig zu Recht als attraktive Geschöpfe gelten.
Spaziert man an einem sonnigen Sonntag durch Dresden, sieht man die Sachsen friedvoll und gelassen am Strand der Elbe lagern. Kaum glaublich scheint es bei diesem Anblick, dass am folgenden Tag einige ebendieser Sachsen zornentbrannt aufmarschieren, einem Lügner und Banditen zujubeln und gegen »Volksfahrräder« anbrüllen werden. Doch es ist so.
Hier wird die Schattenseite des sächsischen Charakters sichtbar: Weichheit versteinert zu unnachgiebiger Härte, übermäßige Süße verdirbt zu Bitternis. Die vielen politischen und militärischen Niederlagen haben den Sachsen nämlich trotz kultureller Blüte auch einen Minderwertigkeitskomplex in die Seele gepflanzt und ein Misstrauen gegen alle Invasoren.
Man lache nicht über solch historische Erklärung: Die Preußen mögen den Siebenjährigen Krieg und den Wiener Kongress längst vergessen haben, die Sachsen aber haben weder vergessen noch vergeben! Erst recht nicht die ständige Bevorzugung Ost-Berlins zu Zeiten der DDR! So fürchtet der Sachse auch heute noch beständig, wieder einmal von Fremden verarscht oder bestohlen zu werden.
Wie passt dies aber damit zusammen, dass Sachsen so viele Fremde als Touristen recht gern begrüßt? Leider recht einfach: Viele Sachsen haben es sich angewöhnt, jene Fremden, denen man Geld aus der Tasche ziehen kann, freundlich willkommen zu heißen, jene Fremden aber, die Hilfe brauchen, verärgert von sich zu weisen.
Nach ihrer Nützlichkeit beurteilte schon der anonyme Autor des Buches »Dresden, wie es ist, und wie es seyn sollte« im Jahre 1800 die Menschen: »Es ist ganz natürlich, daß es an Fremden in einer Residenz, besonders in Dresden, wo so viele Merkwürdigkeiten zu sehen sind, nicht fehlen kann. Aber gerade diese Klasse bringt der Stadt eher Nachtheil als Vortheil.« Auch noch andere Fremde störten ihn: »Juden werden von Tage zu Tage mehr, und auf allen Straßen wird man von solchen Leuten angefallen.«
Ob dieser anonyme Autor die Dynastie der Bachmänner begründete? Touristen werden heute von den Sachsen im Allgemeinen zwar etwas günstiger beurteilt. Wer aber einmal in einem der teuren und recht geschmacklosen Restaurants in der Dresdner Altstadt gespeist hat, dem wird vielleicht aufgefallen sein, wie sich unter der übersüßen Freundlichkeit der unterbezahlten Kellnerin nur mühevoll eine bittere Aggressivität verbarg.
Was sollen die Sachsen nun machen, da ihr Ruf vorerst ruiniert ist? Bleibt ihnen vielleicht nur die Auswanderung, die Flucht nach Russland unter den Schutz Wladimir Putins? Erst einmal kann Entwarnung gegeben werden: Die Sachsen werden auch in Deutschland weiter gebraucht. Und zwar von jenen hässlichen Deutschen, die sich gleich ein wenig hübscher vorkommen, wenn sie mit dem Finger auf hässliche Sachsen zeigen.
Nicht nur Ausländer kann man abschieben, sondern auch den Rassismus. Wer sich einen guten Anwalt leisten, wer beim Abgeordneten seines Vertrauens anklingeln kann, um ein Flüchtlingsheim zu verhindern, der muss es natürlich nicht anzünden. Und kann ganz befreit auflachen über alle Untermenschen, sächsische und nichtsächsische.
Neben den berüchtigten Reichsbürgern lehnen auch weitaus traditionsreichere und ältere Barbarenhorden die Bundesrepublik ab.
Von Thilo Bock
Sie sind mitten unter uns. Kaum einer bemerkt sie, und wenn doch, tut man sie vorschnell als Spinner ab. Das stört sie nicht im Geringsten, denn sie lehnen unser Wertesystem ohnehin ab. Die Stammgermanen – sie leben unbemerkt in deutschen Wäldern.
Zu ihren Anführern zählt Ingwar der Schiefe. Gerade hatte er alle Hände voll zu tun mit den Begräbnisfeierlichkeiten für seinen Vater und ist zu allem Unglück liegen geblieben mit einem alten Unimog. Die Hinterachse war gebrochen. Weil der Rest seiner Sippe beim Jagen war, kam Ingwar auf die Idee, bei der ADAC-Pannenhilfe anzurufen.
Eine dumme Idee, wie er im Nachhinein findet. Ingwar der Schiefe schüttelt das zottelige Haar. »Da fragt mich der Hotline-Flachkopp, ob ich Steine geladen hätte! Ich mein, ich stand mit ’nem Achsbruch im Hohlweg, und jeden Moment konnte der einäugige Gantfred mit seiner Mufflonherde vorbeiziehen.«
Ingwar ist immer noch ziemlich geladen. Dabei war sein Wagen lediglich mit einem einzigen Stein beladen, einem großen Stein. Einem sehr großen Stein. Dem größten Stein, den Ingwar hatte auftreiben können. Das Grab für Wendelbert den Schmächtigen ist ein Hünengrab. Diese hierzulande untypische Art der Beisetzung wird von den wenigsten Bestattungsinstituten angeboten. In der Familie Ingwar des Schiefen ist sie dennoch üblich.