Sabine Frambach & Kai Focke (Hrsg.)
55 fantastische Kürzestgeschichten aus der Phantastischen Bibliothek Wetzlar
AndroSF 122
Sabine Frambach & Kai Focke (Hrsg.)
STAUBKORNFEE TRIFFT ICH-MASCHINE
55 fantastische Kürzestgeschichten aus der Phantastischen Bibliothek Wetzlar
AndroSF 122
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: August 2021
p.machinery Michael Haitel
Titelbild & Illustrationen: Gabriele Behrend
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 247 8
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 851 7
Im August 2011 erblickte mit »Ihr Haar zersprang wie blaues Glas« die erste »Phantastische Miniatur« das drucktechnische Licht der Welt. Anlass waren die 31. Wetzlarer Tage der Phantastik: Neue Welten – Phantasie aus deutscher Feder. Die damaligen Autoren sollten für die hieraus entstehende Publikation Miniaturengeschichten im Umfang von maximal siebenhundert Wörtern schreiben. Der erste Band blieb kein Einzelkind und durfte sich mit dem Erscheinen von »Einseitig« im Juli 2018 über neunundzwanzig ebenso fantastische Brüder und Schwestern freuen. »Einseitig« inspirierte die Herausgeber zu einer ambitionierten und alles andere als einseitigen Idee: Aus den vorliegenden Kurzgeschichten sollte eine Anthologie mit lustigen, ernsten, unterhaltsamen, nachdenklich machenden sowie einfach nur verrückten Texten entstehen. Die Auswahl zielte zudem darauf ab, möglichst viele Facetten der Fantastik abzubilden und dabei Leser verschiedener Genres anzusprechen. Die Herausgeber stellten sich der schwierigen Aufgabe, lasen achthundertvierundneunzig Beiträge, sortierten diese, erfanden im Zweifelsfall neue Genrebezeichnungen – wie logopädische Fantastik – und trafen eine in sich stimmige Auswahl von fünfundfünfzig Kurzgeschichten. Leider mussten hierbei zahlreiche brillante Texte unberücksichtigt bleiben. Es sei daher bereits vorab auf das Gesamtprogramm der »Phantastischen Miniaturen« (PM) verwiesen, das am Ende dieses Buchs aufgelistet ist.
Bedanken möchten sich die Herausgeber bei den siebenunddreißig hier vertretenen Autoren für deren wirklich fantastische Miniaturen, die uns bereits bei der Auswahl zum Weinen, zum Lachen, zum Schaudern und zum Nachdenken brachten. Ein weiterer herzlicher Dank geht an den Verleger Michael Haitel, nicht nur für die erstklassige Zusammenarbeit im Rahmen der Anthologie. Er gilt auch für das Einverständnis, sowohl seitens des Verlags (als auch der Autorenschaft) auf diesbezügliche Honorare sowie Gewinnmargen zu verzichten. Der Reinerlös dieser Anthologie kommt vollständig der Phantastischen Bibliothek Wetzlar zugute und soll dazu beitragen, dass die umfangreichste Sammlung deutschsprachiger fantastischer Literatur auch weiterhin einer interessierten Öffentlichkeit kostenlos zugänglich gemacht werden kann.
Diese Bibliothek, der Ort, an dem sich neben Aliens und Zwergen auch Fantasten zu Hause fühlen dürfen, ist das Lebenswerk des Gründers und Leiters Thomas Le Blanc. Ohne ihn gäbe es weder die Bibliothek noch unsere Miniaturenreihe, welche er als Herausgeber seit Jahren betreut. Ohne sein Engagement wäre die Welt gewiss weniger fantastisch. Der größte Dank geht daher nach Wetzlar; möge die Bibliothek auch zukünftig jedem offenstehen.
Die Herausgeber
Sabine Frambach & Kai Focke
im Juni 2021
Hallo, ich bin Galdra! Ich würde dich gerne durch dieses besondere Buch begleiten und dir dabei ab und zu ein paar interessante Infos geben.
Du bist jetzt schon neugierig? Gedulde dich bitte noch ein kleines bisschen: Wir werden uns bereits nach der ersten Geschichte wiedersehen.
Viel Spaß beim Lesen
und bis gleich!
Olaf drehte dieses kleine knubbelige Plastikding, das aussah wie ein rot-schwarz geringelter Schraubendübel aus dem Baumarkt, skeptisch zwischen seinen grünen Klauen und beäugte es äußerst misstrauisch. Dann steckte er es zwischen seine noch wachsenden Fronthauer und versuchte daran zu nagen.
»In den Mund gehört es nicht, du kleiner Feuerspeier.« Der gemütlich aussehende Feuerwehrmann nahm Olaf das Knubbelding ab und hielt es ihm vor seine großen wässrigen Augen.
Olafs Neugier war geweckt.
»Du steckst es dir in deine Nasenlöcher.« Der Feuerwehrmann schob den Niesstopfen in Olafs rechte Nase und drehte ihn mit einer geschickten Bewegung fest. Dann nahm er aus der Schale neben der Tür einen zweiten Stopfen und schob ihn in das andere Nasenloch.
Olaf zuckte zunächst ein wenig und kräuselte seine lange pinkfarbene Nase; er erwartete ein Kitzeln, aber dann verspürte er wider Erwarten ein leichtes Wärmegefühl im Naseninnern, das nicht reizte, sondern beruhigte. Er war noch zu jung, um verstehen zu können, dass der Stopfen ein sedierendes Gel absonderte, das sich auf die Schleimhäute legte und ein unkontrolliertes, explosionsartiges Entzünden verhinderte.
»Jetzt kannst du nicht mehr niesen«, bestätigte der Feuerwehrmann und öffnete die Tür. »Und deshalb darfst du jetzt auch rein.«
Olaf blickte in einen Saal mit eng gestellten hohen Regalen, die alle voll Bücher waren. Ein wenig furchtsam noch ergriff der kleine Drache die Hand seiner Mutter, und dann stapfte er neugierig zum ersten Mal in die große Bibliothek hinein.
Bereits im Vorwort haben wir von der Phantastische Bibliothek Wetzlar – oder PBW, wie sie gerne liebevoll abgekürzt wird – gehört. Was ist denn das für eine Bibliothek?
Sie wurde 1987 von Thomas Le Blanc gegründet und beherbergt auf vier Stockwerken über dreihunderttausend deutschsprachige Publikationen aus dem Genre der Fantastik: eine Sammlung, die weltweit ihresgleichen sucht.
Die PBW ist nicht nur eine Bibliothek. In ihren Räumen werden wissenschaftliche Tagungen, Seminare sowie Workshops abgehalten und Literaturforschung betrieben. Hinzu kommen Aktivitäten im Bereich der Leseförderung sowie der Lehreraus- und Lehrerfortbildung. Damit fungiert die PBW als Kultur-, Wissenschafts- und Bildungszentrum. Des Weiteren fertigt sie innerhalb der Sektion Future Life interdisziplinäre Zukunftsstudien für Großunternehmen und Mittelständler an.
Ein Besuch lohnt sich sowohl real (Turmstraße 20, 35578 Wetzlar) als auch virtuell (www.phantastik.eu).
Schau doch einfach mal vorbei!
Wenn Charly flucht, dann flucht er richtig. Und jetzt flucht Charly richtig. Mit hochrotem Kopf sitzt er vor seinem Redaktionsrechner, rechts neben der Maus ein Stapel Zeitschriften, links eine Banane. »Guck dir das mal an«, sagt er. »Google spinnt!«
Also stehe ich auf, um das Drama aus der Nähe zu erleben. Charly recherchiert gerade für unsere neue True-Crime-Story über den Massenmörder Fritz Honka, der seine Opfer auf der Hamburger Reeperbahn suchte und zersägte. Kein appetitliches Thema.
Charly hat natürlich »Honka« ins Suchfeld eingetippt. Und Google sagt: »Meintest du: Tonka.« Nein, Charly meint Honka. Aber das interessiert Google nicht. In 0,38 Sekunden liefert die Suchmaschine 2.391.000.000 Ergebnisse für »Tonka«.
»Es wird noch besser«, verspricht Charly und unterdrückt einen weiteren Fluch. »Pass auf!« Er fährt sich mit der linken Hand über den fast kahlen Kopf und tippt dann »Tonleiter« ins Suchfeld. Ergebnis: »Meintest du: Tonka.« Tonnage, Tunika, Tabak, Tokaier, Toastbrot – all das kennt Google nicht und will lieber nach Tonka suchen.
»Ruf unsere IT-Experten an«, schlage ich vor. »Das muss ein Computervirus sein.«
Charly winkt ab. »Die kommen sowieso erst nach einer Woche. Und ich brauche meine Recherche für den Artikel jetzt.«
Ich blicke ihm weiter über die Schulter, während er mit der ihm eigenen Verbissenheit das Wort »Honka« ins Suchfeld von Wikipedia tippt. Sein Kopf wird noch roter. »Der Tonkabohnenbaum (Dipteryx odorata), auch Toncabaum genannt«, steht da, »ist eine Pflanzenart aus der Gattung Dipteryx in der Unterfamilie der Schmetterlingsblütler (Faboideae) innerhalb der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae).« Aha.
»Scheint ein mächtiger Systemfehler zu sein«, sage ich. Und das beunruhigt mich, ehrlich gesagt, mehr als Charly. Während der mit zitternden Händen seine noch ziemlich grüne Banane schält, gehe ich zurück an meinen Schreibtisch und gieße mir eine Tasse Earl-Grey-Tee aus der Thermoskanne ein. Irgendwo wird sicher bereits fieberhaft an der Lösung des Problems gearbeitet. Wo auch immer.
»Ne, das glaube ich jetzt nicht!« Die Stimme kommt hinter der halbhohen Trennwand zur Ratgeberredaktion hervor. Das kann nur Jana Mareike aus dem Kompetenzzentrum Reise und Gesundheit sein. Mit dem Smartphone in der rechten Hand stapft sie jetzt über den teppichbodenbedeckten Mittelgang auf uns zu.
»Guckt euch das mal an!«, sagt sie. »Egal welche Webadresse ich hier eintippe, immer kommt nur www.tonka.space.«
»Und? Was gibt’s da Spannendes?« Charly klingt stets etwas genervt, wenn Jana Mareike auftaucht. Sie ist sehr blond, schminkt sich ungeschickt und telefoniert zu laut im Großraumbüro. Außerdem ist Charly ja sowieso ziemlich fertig wegen der eigenen Tonka-Probleme.
»Was es da Spannendes gibt?« Jana Mareike verdreht die Augen zur Decke. »Keine Ahnung. Die merkwürdigen Schriftzeichen kenne ich nicht.«
Charly lacht. »Mein Tipp: ausschalten, wieder einschalten. So ein Neustart hilft immer.«
»Tonkaschön«, sagt Jana Mareike.
»Wie bitte?«
»Ich sagte Dankeschön.«
»Nein, du sagtest Tonkaschön.«
Wird höchste Zeit, dass auch ich mich wieder an der Unterhaltung beteilige. »Wusste gar nicht«, versuche ich die Wogen zu glätten, »dass sich Menschen mit Computerviren anstecken können.«
Charly lacht dieses Mal nicht. Er blickt sehr ernst. »Darum geht es gar nicht, mein Lieber. Hinter dieser Tonkageschichte steckt wohl viel mehr.«
»Ach ja?« Ich setze mich auf den Schreibtisch, lasse möglichst gelassen die Beine baumeln und grinse. Mein Blick wandert von Charly über den Bildschirm mit dem Wikipediaeintrag zu Jana Mareike und zurück.
»Das ist doch meine alte Theorie: Außerirdische haben damals Internet und Smartphone auf die Erde gebracht, um die Menschheit zu versklaven.«
»Du meinst, Außerirdische vom Planeten Tonka?« Jana Mareike blickt ihn noch verwirrter an als sonst.
»Schau dich doch mal auf der Straße um. Überall laufen versklavte Smartphonetypen rum und nehmen diese Welt gar nicht mehr wahr. Und durch einen Systemfehler kommt das jetzt alles raus. Ich sag nur: Invasion vom Planeten Tonka.«
Er schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch, dass sein Redaktionsrechner hüpft. Dann lacht er auf. »He, war doch nur ein Witz.«
Jana Mareike lacht etwas gequält und schaut auf ihr Smartphone. Ich lache natürlich auch. Und denke nach. Das war also ein Witz. Wirklich nur ein Witz? Oder ahnt Charly etwas?
Ich fürchte, ich werde ihn beseitigen müssen.
Er schwebte. Schwerelos. Es war ein angenehmer Traum.
»Was machst du da?«, weckte Ilse ihn.
Herbert schwebte immer noch. Weiter schwerelos.
Es war kein Traum. Er hing einen Meter über der Couch in der Luft. Misstrauisch schaute er nach unten. Wenigstens würde er weich fallen. »Ich weiß nicht«, sagte er.
»Du schwebst«, stellte Ilse fest.
»Das sehe ich.«
»Lass das!«
»Ich kann nicht!«
»Ja, aber … warum hast du damit angefangen?«
»Ich hab’ geschlafen.«
Sie schauten sich jeweils mit Unglauben im Blick an.
Herbert bemerkte, dass er immer noch ein wenig Auftrieb hatte und die Decke langsam näherkam. Er streckte die Hände zu Ilse aus. »Hilf mir mal runter.«
Sie schaute ihn fünf Sekunden lang böse an. Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu und ergriff seine Hände. »Und jetzt?«
»Zieh mich runter.«
Er schien so leicht wie ein Ballon zu sein, denn sie zog ihn mühelos herunter, sodass er sich an der Couchlehne festhalten konnte. Als er sich in der Luft drehte, um die Füße auf den Boden zu lenken, wäre fast sein Griff wieder abgeglitten, doch er schaffte es, seine Füße unter die Couch zu bekommen und sie zwischen der Couch und dem Boden zu verkeilen. Er fühlte, wie es ihn weiter zur Decke zog, als wäre diese der eigentliche Boden und er würde an der Couch kopfüber wie eine Fledermaus hängen. »Siehst du? Alles in Ordnung!«, log er.
Ilse setzte sich neben ihn. »Soll ich einen Arzt rufen?«
»Mir geht’s doch gut.«
»Du sitzt gar nicht. Da ist eine Lücke zwischen dem Polster und deinem Hintern.«
»Das vergeht schon.«
»Ich könnte dir Steine in die Taschen tun. Oder dich anbinden.«
»Quatsch!«
»Du brauchst jetzt nicht sauer zu werden!«
»Ich bin nicht sauer!«
Sie schwiegen sich an. Herbert begann zu schwitzen. Es war ein warmer Sommerabend, und es kam aufkeimende Panik dazu.
»Das ist wahrscheinlich nur ein Traum«, meinte Herbert.
Ilse kniff ihn.
»Aua!«
»Und? Wach?«
»Ja!«
»Schwebst du noch?«
Probehalber zog er die Füße unter der Couch hervor, und er glitt langsam in die Höhe.
»Das können wir nicht so lassen. Ich rufe jetzt einen Arzt.« Ilse stand von der Couch auf, schritt zur Tür in den Flur und stieß diese auf.
Sie hatte vergessen, dass sie das Flurfenster noch offen hatte.
Ein Windstoß zog durch das Apartment, erfasste Herbert und blies ihn zum offenen Wohnzimmerfenster. »Tür zu!«, rief er aus, versuchte noch, sich am Fensterrahmen festzuhalten, doch es war zu spät. Noch bevor Ilse die Tür wieder geschlossen hatte, war Herbert aus dem Fenster geweht worden.
Ilse stürzte ans Fenster und streckte den Arm nach ihm aus, doch der Wind spielte bereits mit Herbert, wirbelte ihn hin und her. »Versuch in der Luft zu schwimmen!«, rief sie ihm zu.
Bevor er zu weit weg war, hörte sie ihn noch ausrufen: »Ich hasse Schwimmen!«
Herbert stieg immer höher, in immer wilderen Drehungen, wurde zu einem Fleck am Himmel und kleiner und kleiner.
Der Punkt am Himmel verblasste.
»Ist es das erste Mensch, das du siehst?«
Brihan übertrug Zustimmung. Bläulich glänzte seine Oberfläche; das Funkeln unterstrich die Besonderheit des Augenblicks. »Das erste Mensch, das ich sehe. Interessant. Die Farbe der Oberfläche bleibt konstant.«
»Nicht unbedingt. Wir konnten feststellen, dass die Farbe am oberen Ende differiert, rötlich, blasser oder leicht grünlich werden kann.«
Brihan schimmerte zartgelb, ein Zeichen für die Bereitschaft, Wissen zu empfangen. »Ist es immer so still?«
Linahan zeigte eine hellblaue Färbung mit einer Spur Purpur darin, um die Komplexität seiner Antwort zu untermalen. »Bislang wechseln sich Phasen völliger Stille mit überschäumender Aktivität ab. Die Bewegungen sind nicht fließend, eher abrupt. Auch sondert es Schallwellen aus, die offenbar nicht willkürlich erfolgen, sondern einen gewissen Rhythmus aufzeigen. Leider war es noch nicht möglich, diese Wellen und ihren Sinn zu verstehen. Und seitdem es sich hier befindet« – Linahan deutete mit einer fließenden Drehung auf den Raum, in dem sich seine Ausstellung befand – »seitdem nehmen die Schallwellen weiterhin ab.«
»Vielleicht eine Reaktion auf die fremde Umgebung, die es mittlerweile akzeptiert hat?«
»Möglich.« Linahan signalisierte eine Zustimmung, unterstützt von einem schwachen Grün.
Brihan betrachtete das fremde Wesen, wie es da hockte, die eigenartig auslaufenden Glieder des Körpers ineinander verschlungen. Es hatte zwei weißliche Punkte am oberen Ende, und mittig darin konstant leuchtendes Blau. Brihan empfand ganz plötzlich Mitleid mit das Mensch und zeigte dies mit einem schwachen Rosa an. »Ist es das Letzte dieser Art?«
Linahan blinkte rötlich auf, ehe er in Schattierungen von Purpur fortfuhr. »Nein, drüben bei Kasinna besitzen sie mehrere. Allerdings kam es beim vergangenen vollen Mond zu einem Unglück. Sie halten die Menschen seitdem getrennt.«
»Was ist geschehen?«
Linahan übermittelte die Antwort mit merklicher Verzögerung und hinterlegte sie mit dem kupfernen Glanz des Bedauerns. »Ein Mensch hat die anderen Exemplare angegriffen. Verletzt. Dabei hat es ihre Oberfläche beschädigt.«
Brihan schwieg die angemessene Zeit und färbte sein Entsetzen in einem dunklen Granitgrün.
Rasch übermittelte Linahan weitere Informationen. »Es stürzte auf ein anderes Mensch, streckte Teile des Körpers aus, kratzte und schlug gegen die Oberfläche und sendete dabei Schallwellen. Kurz darauf gerieten weitere Exemplare in Bewegung. Sie zeigten Verfärbungen von Rot in ihren oberen Enden. – Heute«, setzte Linahan hinzu, »werden auch wir es wagen und ein weiteres Exemplar in die Ausstellung bringen. Es wird gleich soweit sein.« Er hinterlegte seine Aussage mit einem orangeroten Schimmer als Zeichen für die Bemühung, das Gute zu denken.
Ein besorgtes Rosa glomm auf Brihans Oberfläche.
Im selben Augenblick öffnete sich die weiße Tür links. Hinaus trat ein weiteres Mensch, anders geformt, kleiner, runder und mit interessanten Ausstülpungen am oberen Drittel.
Das hiesige Exemplar sendete eine Schallwelle, noch eine, sprang auf und bewegte sich auf das neue Mensch zu. Es reckte die Glieder, und es wurde immer schneller.
»Es berührt das neue Mensch.« Brihans Oberfläche wurde dunkelrot.
Das Exemplar umrundete das neue Mensch, fasste es an, immerzu sendete es Schallwellen, und da, inmitten der Berührung, erkannte Brihan die Gefahr. Aufgeregt setzte er kräftiges Rot ein. »Da! Ein Stachel! Es will das andere Mensch verletzen! In die Oberfläche eindringen! Gefahr! Gefahr!«
Linahan signalisierte Verständnis, ehe er eine Anweisung an die Sicherheit ausstrahlte, untermalt mit drängendem Gelb.
Die Sicherheit schoss einen Pfeil aus tiefgrünem Schlaf. Sofort sackte das Mensch zusammen und blieb inaktiv auf dem Boden liegen.
»Wir werden es separieren«, signalisierte Linahan mit entschlossenem Burgund. »Zur eigenen Sicherheit.«
Und das Mensch blieb alleine für viele volle Monde.
Vor vielen Jahren erschien im Feenreich eine winzig kleine Fee. Sind Feen schon ohnehin keine großen Wesen, so war diese Fee auch für die Verhältnisse der Feen sehr, sehr klein. Sie war gerade einmal so groß wie ein Staubkorn.
Und so blieb diese Fee immer allein, denn sie konnte nicht mit den anderen tanzen, ohne in Gefahr zu geraten, sogar von den leichtfüßigen Feen zertrampelt zu werden, und wenn sie sang, hörte man ihr leises Stimmchen kaum.
Doch die winzige Fee war kein Kind von Traurigkeit. Sie sah ein, dass sie sich andere Tanzpartner suchen musste. Und die anderen Feen waren es zufrieden, mussten sie sich doch fortan keine Sorgen mehr um das kleinste Mitglied ihres Volkes machen.
Ihre winzigen Flügelchen trugen sie in die Welt hinaus. Und klein, wie sie war, besah sie sich alle Dinge, die ebenso klein waren wie sie selbst. Und so fielen ihr Dinge auf, die die anderen ob ihrer Winzigkeit gar nicht beachteten. Zum Beispiel, wie schön Staubkörner funkelten, wenn die Sonne auf sie fiel.
So tanzte sie in dem Reigen der Staubkörner, und ihr leises Stimmchen erklang nur zu ihrer eigenen Freude.
Bald tanzte sie in den Schlössern der Reichen, wirbelte zwischen Stuck und Marmor herum und ließ den Staub der Jahrhunderte aufscheinen, bald tanzte sie in den bescheidenen Häusern der Armen und wiegte sich im Lichtstrahl, der durch löchrige Dächer oder rissige Wände fiel. Und bald wirbelte sie durch die Metall- und Glaskonstrukte der neuen Zeit.
Kinder nahmen manchmal noch ihr Lied wahr, denn Kinder haben ein feines Ohr und sind nicht so schnell wie die Erwachsenen bereit, dies als Einbildung abzutun.
Doch je weiter die Zeit fortschritt, desto weniger Menschen konnten die Fee sehen oder gar ihren leisen Gesang hören. Denn in dem ewigen Streben nach Höher-Schneller-Weiter und auch Lauter-Farbiger-Technischer hatten die Menschen vergessen, auf etwas so Unscheinbares wie Staub zu achten.
Doch wer genau hinsieht und genau hinhört, wenn der Staub in einem Sonnenstrahl tanzt, der kann vielleicht auch heute noch die winzigen Flügelchen der Fee in der Sonne schillern sehen und hört ihren leisen Gesang.
Fantastik wird in der Literaturwissenschaft unterschiedlich definiert. Zumeist werden ihr die literarischen Gattungen (Genres) Fantasy, Mystery, Science-Fiction, Märchen und Fabel zugerechnet. Dies schließt auch diverse Subgenres, wie zum Beispiel Steampunk oder Urban Fantasy, mit ein.
Zu bekannten Publikationen der Fantastik können unter anderem folgende Werke und Geschichten gezählt werden: »Frankenstein« (Mary Shelley), »Das verräterische Herz« (Edgar Allen Poe), »Die Eissphinx« (Jules Vernes), »Die Zeitmaschine« (Herbert George Wells), »Die Musik des Erich Zahn« (Howard Phillips Lovecraft), »Das Silmarillion« (John Ronald Reuel Tolkien), »Die Verwandlung« (Franz Kafka), »Die unendliche Geschichte« (Michael Ende) und »Der Fornit« (Stephen King).
Den fantastischen Genres ist das Ungewöhnliche, das Übersinnliche und das Irreale gemein. Damit häufig auch das Überraschende. Das ist es, was die Autoren der »Phantastischen Miniaturen« an diesem Genre fasziniert. Diese Faszination möchten sie in dieser Anthologie mit dir teilen.
Wir schlendern die Uferpromenade entlang. Die Gärten zu unserer Linken sind prachtvoll; wohin man schaut: Es blüht.
Hannah redet die ganze Zeit; ihre Klagen nehmen kein Ende. Ihr zufolge ist mein Schwager ein Idiot. Das habe ich immer geahnt. Freilich ist auch sie nicht einfach.
Die Blumen sorgen für willkommene Pausen. Immer wieder bleibt sie stehen, um die Blüten zu bewundern. Sie kennt sie alle beim Namen, ich mag die Farben und die Düfte.
»Blumen bekomme ich auch nicht«, meint sie traurig und beugt sich über eine Rose. »Wirklich nie.«
Was soll ich dazu sagen?
Plötzlich ruft sie: »Schau mal dort, die Schwarzäugige Susanne!«
Ich schaue, aber ich sehe niemanden.
»Wo?«, frage ich.
»Dort vorne. Bist du denn blind?«
Endlich verstehe ich. »Du meinst die gelben Blumen?«
»Ja. Was hast denn du gedacht?«
»Na, eben eine …«
»… Frau mit schwarzen Augen, die Susanne heißt. Schon klar.« Hannah schüttelt den Kopf. »Mein Bruder und seine Affären!«
»Ich mache es wie die Bienen: Sie fliegen von Blüte zu Blüte und holen sich den süßen Nektar. Übrigens finde ich, dass die Pflanze zu brav aussieht für diesen Namen. Susanne passt ja. Aber bei schwarzen Augen denke ich an eine heißblütige Latina … und nicht an so ein Mauerblümchen.«
»Pass lieber auf, was du sagst oder dir wünschst, denn heute ist Johannisnacht, da kann so einiges passieren.«
»Johannisnacht? Was soll denn da passieren? Ach, Hannah, du und deine Mystik!«
Wir zanken noch ein wenig, aber nur im Spaß. Dabei betrachte ich mir die Blume näher: Üppig wuchernd klettert sie an der Mauer empor; die gelben Blütenblätter sind wie Herzen geformt, das Innere ist rund und schwarz; »Auge« nennt man das also. Aber das Auge passt nicht zu den gelben Herzen, finde ich. Und nicht zur Susanne.
Hannah zupft mich am Ärmel. »Gehen wir weiter?«
So machen wir das seit Jahren, seit sie im Süden wohnt und ich im Norden: Wir treffen uns irgendwo in der Mitte, von Samstag auf Sonntag, gehen spazieren und reden miteinander. Fast wie früher, als wir Kinder waren. Damals mussten wir uns ein Zimmer teilen, heute hat jeder sein eigenes. Und flüstern tun wir auch nicht mehr.
Hannah geht früh ins Bett, ich treibe mich noch herum. Im Juni will die Sonne einfach nicht untergehen, der Himmel ist blau, und alles ist wie mit Bronze überzogen. An der Uferpromenade herrscht noch Leben: Ein Kerl mit einem Ziegenbärtchen hockt auf einem Stein und spielt Gitarre, und manchmal singt er leise dazu. Alles gute alte Songs. Und auf den Bänken sitzen Leute, größtenteils Pärchen; manche essen Pizza oder Eis, andere küssen sich, oder sie lauschen der Musik.
Ich sitze da und schaue.
Aus dem Schatten kommt jetzt eine Frau in einem sonnengelben Kleid. Sie geht an mir vorbei zum Ufer, setzt sich ans Wasser, zieht die Schuhe aus und spielt mit den Zehen im Sand.
Sie fährt mit der Hand durchs Haar.
Jetzt wendet sie den Kopf und blickt zu mir herüber. Ihre Augen sind ganz dunkel.
Sie wendet sich ab und schaut aufs Wasser. Ihre Hände wühlen im Sand. Sie lässt ein Steinchen in den Wellen springen. Noch eins. Und ein drittes.
Noch einmal wendet sie den Kopf und blickt zu mir herüber. Ihre Augen sind fast schwarz.
Plötzlich steht sie auf. Sie hat die Schuhe in der Hand.
»Gefalle ich dir?« Ihre Stimme ist weich und tief.
Ich schweige verblüfft.
»Du schaust mich ständig an. Gefalle ich dir?«
Ich nicke. Aber es ist gelogen. Sie gefällt mir nicht. Sie reizt mich. Diese dunklen Augen! Aus der Nähe sehe ich, dass sie tatsächlich schwarz sind.
Sie lächelt. »Früher war ich schüchtern, ein echtes Mauerblümchen.«
»Willst du tanzen?«, frage ich.
Warum auch nicht? Es ist Johannisnacht, die Sonne will einfach nicht untergehen, die Gärten sind prachtvoll, ein Kerl mit Gitarre spielt gute alte Songs, und die Frau in meinem Arm hat schwarze Augen.
»Andere fragen zuerst, wie ich heiße.«
Der Kerl spielt eine Rumba.
Ich nicke. »Aber tanzt du auch mit denen?«
»Du bist süß.« Sie lächelt. »Mein Name ist Susi.«