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Nik Aaron Willim
Asadullah Haqmal

GRÜNE TIGER

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Nik Aaron Willim
Asadullah Haqmal

GRÜNE
TIGER

Thriller

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Linda, so vieles liegt noch vor uns, so viele Wege zu gehen, keinen gehe ich ohne dich. NIK

www.grünetiger.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Urheber unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Aufl. August 2021

Copyright © 2021 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG

Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg

www.kjm-buchverlag.de

ISBN 978-3-96194-166-7

Satz, Gestaltung: Svenja Wiese, Hamburg

Cover und Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Entwicklung: Norbert Klugmann, Hamburg

Lektorat: Katrin Köhler, Hamburg und Heiko Arntz, Wedel

Korrektorat: Rainer Kolbe, Hamburg

Herstellung: Eberhard Delius, Berlin

Druck & Bindung: CPI, Leck

Alle Rechte vorbehalten

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www.kjm-buchverlag.de

ES IST HÖCHSTE ZEIT
ZU HANDELN

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1

»Verdammter Regen!« Ean sah hoch zu der dunklen Wolkendecke, die unterkühlten Hände in den Hosentaschen vergraben. Unaufhörlich prasselten Tropfen auf ihn herab. Seine kurzen braunen Haare waren schon ganz nass. Er verharrte einige Sekunden so, aber der Himmel blieb trist und grau, kein Sonnenstrahl wollte den Morgen retten. Seufzend blickte Ean auf seine Sportuhr, ein teures Modell, Geschenk seines Sponsors.

6.50 Uhr. Eine brutale Zeit.

Hinter ihm drängten sich einige Schüler unter die mickrige Überdachung der Haltestelle. Mädchen und Jungen aus seinem Viertel, genauso schlecht gelaunt wie er. Ein verfluchter Montag an der Bushaltestelle nach viel zu kurzen Osterferien.

Gähnend wühlte Ean in seiner Jackentasche nach einem Kaugummi. Er zog das silbrige Papier ab und warf es in eine Pfütze. Der frische Pfefferminzgeschmack verbesserte seine Stimmung, wenn auch nur geringfügig.

»Das ist Umweltverschmutzung.«

Es war noch früher Morgen, aber die Umweltpolizei war bereits hellwach. Ean atmete entnervt aus. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Sich umzudrehen war nicht nötig, Jakobs belehrender Tonfall war ihm wohl bekannt.

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, knurrte Ean. Er sah den empörten Blick des dreizehnjährigen Ökofreaks praktisch vor sich. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie dieser einen Schritt auf ihn zu machte. Tatsächlich: Jakob hob seinen Müll auf.

»Gott wird dich dafür belohnen«, murmelte Ean.

Jakob schaute ihn an wie ein besonders großes Stück Abfall.

Ean lockerte seine Schultern mit kreisenden Bewegungen und blickte die verregnete Straße hinunter.

Warum bin ich nicht mit dem Fahrrad gefahren? Als er begann, seine Entscheidung ernsthaft zu bereuen, ertönte das Motorgeräusch des Busses. Alle reihten sich hintereinander auf, was auch an diesem Morgen nicht ohne Gedränge vonstattenging.

Die Vordertür des Busses öffnete sich und Ean marschierte durch den Gang bis zu Piet, der einen Platz neben sich freigehalten hatte.

»Danke, Bro«, nuschelte Ean, als Piet die Jacke zur Seite nahm und er sich auf den Sitzplatz schmiss. Ean kannte Piet schon lange, aber erst in der Oberstufe, als sie gemeinsam in eine Klasse kamen, hatte ihre Freundschaft richtig begonnen. Nun war Piet ein fester Bestandteil in Eans Leben.

»Na, regnet es draußen?«, begrüßte ihn Piet und betrachtete schadenfreudig Eans nasse Haare. Ein Sache, die Piet selbst nie passieren würde, viel zu wichtig war ihm seine Frisur, viel zu wichtig war ihm sein gesamtes Aussehen.

»Sei einfach still.«

»Schon mal was von Regenschirmen gehört?«, stichelte Piet und hob seine in Form gezupften Augenbrauen.

»Ich bin nicht der vom anderen Ufer«, sagte Ean und blickte verächtlich auf den Regenschirm neben Piets Schulrucksack.

»Sorry, dass ich nicht krank werden möchte.«

Ean massierte seine rechte Schulter. Seit der Verletzung an seiner Bizepssehne vergangenes Jahr war sie noch nicht wieder voll einsatzfähig. Doch mehr als ein paar Tage pausieren konnte er nicht. Die Muskeln brannten, als hätte er gerade erst mit dem Training aufgehört. Vergangenen Freitag hatte er wieder einmal übertrieben, aber Ean liebte es, seinen Körper herauszufordern. Als wäre die Schmerzgrenze sein größter Rivale. Seit mehreren Jahren betrieb er Leistungssport. Judo, um genau zu sein. Er war Kampfsportler durch und durch, ein verdammt guter noch dazu. Einer, der es zu den Olympischen Spielen schaffen konnte. Ean war stolz auf seine Leistung, seinen Willen und sein Können. Vor allem war er stolz auf die Aussicht, sein Land eines Tages international vertreten zu können, denn die Teilnahme an den Olympischen Spielen war nun einmal die größtmögliche Ehre für einen Sportler.

»Wo steckt Leyla?« Ean ließ seinen Blick durch den vollen Bus schweifen. Übermüdete Gestalten in jeder Sitzreihe. Als hätten alle in den Ferien zu wenig Schlaf bekommen. Dazwischen ein paar kleine Stinker, die mit ihren Fingern auf den beschlagenen Scheiben malten.

»Woher soll ich das wissen? Bestimmt ihr morgendlicher Denkspaziergang«, sagte Piet.

»Hm-hm«, stimmte Ean zu.

Leyla ging gerne mal eine halbe Stunde zu Fuß zur Schule. Aber im Regen?

In diesem Moment kam Ean ein anderer Gedanke. Mit einem Schlag verschwand der Missmut über den ins Wasser gefallenen Wochenstart. Er drehte sich zu seinem Freund und näherte sich seinem Gesicht so sehr, dass er die Stellen erkannte, wo Piet seine Pickel mit Make-up überdeckt hatte.

»Hast du die Alte noch rumgekriegt?«

Vergangenen Samstag war es Ean nicht entgangen, wie Piet wieder die Aufmerksamkeit aller Ladys auf sich gezogen hatte. Im örtlichen »Tanzlokal«, wie sie den Club Lala spöttisch nannten, hatte er Heimrecht. Piet wirkte auf die Mädchen wie ein Magnet. Ean wusste nicht, woran das lag, auch wenn er den Freund an jedem Wochenende in Aktion sah und hörte, wie die Mädchen in der Schule über ihn redeten. Es war unbegreiflich und magisch, wie dieses männliche Duckface-Model ihm die Show stahl.

»Der Gentleman genießt und schweigt«, sagte Piet.

»Erzähl schon!«, drängte Ean. »Die war echt heiß. Hast du sie abgeschleppt?«

»Kann schon sein.«

Ean kannte das. So defensiv reagierte Piet nur, wenn etwas Unangenehmes passiert war. Dann lohnte es sich, dranzubleiben und so lange nachzufragen, bis er mürbe wurde. Die gebräunte Haut, die perfekt hochgestylte Frisur und seine Markenklamotten rückten Piet optisch dicht an die männlichen Instagram-Models. Das war ihm auch bewusst. Leider brachte ihn all dies nicht selten dazu, Dinge zu tun, die er später bereute – besonders wenn Alkohol im Spiel war.

»Was ist? Bin ich jetzt dein Freund oder nicht? Erzähl doch einfach!«

Ean griff nach dem Ärmel der Calvin-Klein-Jacke und zog den Freund näher zu sich heran. Aber Piet blieb ungerührt, starrte nur auf die Rücklehne des ranzigen Sitzes vor ihm.

»Ich muss dir nicht alles erzählen«, murmelte er.

Der Bus schlängelte sich durch die Vororte und erreichte schließlich das Viertel, in dem sich die beiden großen Gymnasien befanden. Die Stadt in Norddeutschland, die Ean seine Heimat nennen durfte, zählte knapp fünfzigtausend Einwohner. Kein Kaff, aber beileibe auch noch keine Großstadt. Ean fühlte sich hier wohl. Man konnte alles machen, von Kino über Gyms bis hin zum Feiern, und trotzdem hatte man nicht das Chaos einer Stadt wie Hamburg. Selbst wenn man die vielen Erinnerungen, die er nun schon hier gesammelt hatte – sei es auf Spiel- oder Sportplätzen, auf Dates oder beim Training – streichen würde, wäre die Stadt immer noch nach seinem Geschmack. Nichts was Rezo über Aachen sagen würde.

Als der Bus nach einer Viertelstunde die Endhaltestelle erreichte, stand die Hälfte der Schüler bereits im Gang. Ean zählte – eins, zwei, drei –, der Bus bremste ab und die ungeduldigen Jugendlichen wurden nach vorne geschleudert. Jeden Morgen das Gleiche. Eine ewige Wiederholung, sinnlos und dumm. Überrascht starrte Ean das Mädchen an, das bäuchlings auf seinem Schoß gelandet war. Hastig drückte sie sich von seinen Oberschenkeln ab und floh zu ihrer Freundin. Ihre Miene verriet, dass sie gerade nicht Teil dieser Welt sein wollte. Doch der Bus leerte sich wie üblich nur sehr langsam, sodass sie gezwungen war, seine Nähe noch einige Augenblicke zu ertragen.

»Du weißt schon, dass die selbst für dich ein wenig zu jung ist?«

Piet sprach so laut, dass es jeder mitbekam. Normalerweise hätte Ean das witzig gefunden, aber diesmal übertrieb Piet.

»Hast du nicht gesehen, dass ihr das auch so schon peinlich war?«, fragte er, als die Schülerin verschwunden war.

»Ich habe nur gesehen, dass die Kleine dir fast an die Hose gegangen wäre.«

»Du gehörst in die Hölle.«

»Und du in den Knast.«

Die beiden Zwölftklässler warteten, bis sich der Bus fast geleert hatte, dann erhoben sie sich und stiegen aus. Bevor Piet einen Fuß auf den nassen Asphalt setzte, öffnete er seinen Regenschirm und gab Ean dabei mit einem der Metallstreben einen Kinnhaken.

»Das sind dreißig Meter«, sagte Ean vorwurfsvoll und deutete auf das Schulgebäude.

»Bei deinem Rasenmäherschnitt würde ich mir auch keine Sorgen um meine Frisur machen.«

Piet schaffte es, jede Situation in eine komische Szene zu verwandeln. Wenn man mit ihm unterwegs war, hatte man das Gefühl, in einem Fack ju Göhte-Film festzuhängen. Das war einer der Gründe, warum Ean ihn als Freund schätzte.

Ean musste noch einige Scherze über sich ergehen lassen, dann betraten sie das Hauptgebäude. Eans kleiner Bruder behauptete, dass das Bauwerk an dunklen Tagen Ähnlichkeiten mit der Zauberschule Hogwarts aufweisen würde. Auch ohne Türme. Zaubern konnte hier allerdings niemand, und überhaupt war sein kleiner Bruder ein ziemlicher Vogel.

»Puh, diese Stufen habe ich echt nicht vermisst«, schnaufte Piet übertrieben, als sie in den vierten Stock hinaufgingen.

»Du bist so eine Pussy – unfassbar.«

Als sie in den Flur einbogen, riss Simon, ein Klassenkamerad von ihnen, die Tür auf und rief: »Er kommt! Er kommt!«

Ean runzelte die Stirn. Was war denn da los? Er selbst alberte auch hin und wieder herum, doch einige Mitschüler verhielten sich wie die Fünftklässler im Bus. Als Ean den Klassenraum betrat, waren alle Augen auf ihn gerichtet. Diese Stille! Wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer hereinkam, war es nie so leise.

»Was ist los?«, fragte Ean in die Runde.

Die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Simon, ein schmächtiger Typ mit Justin-Bieber-Frisur, klappte hastig die Tafel zu. Er rieb lachend die Tränen unter seiner Brille weg und brachte japsend hervor: »Piet, musst du nicht mal wieder auf Klo?«

Piet war auf seinen Platz geschlichen, offenbar wusste er, weshalb die Stimmung in der Klasse so beflügelt war.

Ean sah zu Piet, dann zu Simon. »Was habt ihr, verdammt?«

Simon zückte sein Handy und öffnete mit schnellen Wischbewegungen ein Video. Dann übergab er es an Ean. Die Kameraführung war hektisch, ließ nicht viel mehr erkennen als verschwommene Farben. Man hörte ein wildes Durcheinander besoffener Stimmen, die sich etwas zubrüllten, unterlegt mit dumpfen Diskobässen. Ean wollte es Simon gerade zurückgeben, als das Gewackel innehielt und die Kamera von oben in eine Klokabine hineinfilmte.

Ean erkannte das blonde Mädchen wieder, das sich am Samstag an Piet rangemacht hatte. Sie stand mit leicht zerzausten Haaren vor jemandem. Ihr Satin-Top mit Wasserfallausschnitt gewährte dem Betrachter einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté.

Plötzlich riss Ean die Augen auf. »Wooah! Habe ich da gerade Piets Schwanz gesehen?«

»Jaaa!« Simon heulte vor Begeisterung.

In dieser Sekunde hatte die Kamera auch Piet erfasst. Nur, im Vergleich zu ihr war er bereits fast vollständig ausgezogen.

»Warum hat er nur noch Socken an!? What the Fuck?«

»Man weiß es nicht, man weiß es nicht«, japste Simon selig.

Ean blickte auf das Display und verstand nun, warum es sein Freund im Bus vorgezogen hatte zu schweigen. Nach diesem Video brauchte er sich bei keinem Unternehmen mehr zu bewerben – jedenfalls nicht außerhalb der Pornobranche. Die letzten zehn Sekunden der Aufnahme brannten sich in Eans Kopf ein, wie es so schnell kein Schulstoff schaffen würde. Gerade als Piet den Versuch startete, dem Mädchen das Top abzustreifen, bemerkte sie die Kamera. Dann ein Blick zum halbnackten Piet. Dem starken Alkoholkonsum zum Trotz schien sie in diesem Moment zu realisieren, was gerade dabei war zu geschehen. Eilig entriegelte sie die Tür. Im selben Moment setzte wieder heftiges Kameragewackel ein. Dann hörte man eine wutschnaubende Stimme. »Mach das aus, du Arsch!« Schließlich wurde das Display schwarz.

O mein Gott, ging es Ean durch den Kopf. Ein klein wenig freute es ihn, dass Piet so etwas passiert war. Er empfand es als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Und wenn er auch mit seinem Freund mitlitt, konnte er doch nicht dem Verlangen widerstehen, ein weiteres Mal auf Play zu drücken.

»Ich verstehe es immer noch nicht. Warum bist du fast komplett nackt und sie hat noch alles an? Wer macht so etwas?«

Piet war bleich geworden. Er starrte vor sich hin und sagte mit tonloser Stimme: »Alter, weißt du, wie betrunken ich war?«

»Die Frage ist eher, wie betrunken sie war«, mischte sich Marie ein.

In diesem Moment betrat Herr Roland den Raum. Die Schülerinnen und Schüler suchten in gewohnter Lässigkeit ihre Plätze auf. Für einen Moment herrschte Stille. Herr Roland sah sich verwundert um. Er schien zu ahnen, dass etwas im Busch war. Und er hatte sich nicht getäuscht.

Als er die Tafel auseinanderklappte, brach sofort ohrenbetäubendes Gelächter los. Piet AKA Lalaficker stand da in großen Druckbuchstaben.

»Kann mir einer sagen, was das zu bedeuten hat?«, fragte Herr Roland hörbar genervt.

»Das wollen Sie nicht wissen«, antwortete Marie.

Herr Roland, der in seinen Fünfzigern war, sah sich um: »Wer war das?« Sein Blick blieb an der Justin-Bieber-Frisur hängen. »Simon, ich tippe mal auf dich. Ich verwarne dich zum letzten Mal. Wenn du in Zukunft nicht ...«

»Ich war es.«

Leyla hatte die Hand gehoben und presste reumütig ihre Lippen aufeinander. Leyla war Deutsch-Afghanin und besaß ein einmaliges Aussehen. Pechschwarze Locken umrahmten ihr hellbraunes Gesicht. Sie hatte eine schlanke, aber weder sportliche noch magere Figur. Das Auffälligste an ihr aber waren die Augen – stechend blau und umrahmt von dunklen Schatten. Schatten, die immer dort waren, ob sie ausgeschlafen hatte oder nicht.

Herr Roland betrachtete seine Ausnahmeschülerin. Es war ihm anzusehen, dass er Leyla nicht glaubte. Doch dann klappte er resigniert die Tafel wieder zu.

»Okay«, sagte er. »Anscheinend habt ihr euch in den Ferien gut amüsiert. Oder zumindest einer von euch.«

Simon feixte und warf Leyla einen dankbaren Blick zu.

Ean lehnte sich zu Piet hinüber: »Falls du es nicht mitbekommen hast: Roland meint dich.«

Piet funkelte ihn wütend an. »Reicht es jetzt mal?«

Leyla lächelte zu ihnen rüber, bemühte sich dann aber um eine ernste Miene.

»Ean, lass ihn in Ruhe«, sagte sie und band ihre dunklen Haare zu einem Zopf zusammen. Nichts lag ihr näher, als sich über Piets peinlichen Eskapaden zu amüsieren, aber sie kannte auch Gnade. Sie holte ihr Notizbuch heraus, wobei eine Zeichnung herausrutschte und auf den Boden segelte.

Ean bückte sich, um danach zu greifen. Es war die Bleistiftzeichnung eines Jungen. Er inspizierte das Bild, bevor er es zurückgab. Leyla war eine ausgesprochen gute Zeichnerin – unverschämt gut, nur gab sie ihre Fähigkeiten ungern zum Besten. Er wusste, dass Leyla es gerne hatte, wenn Leute sie unterschätzen. Sie war seine beste Freundin und selbst ihm erzählte sie bei weitem nicht alles. Oft ließ sich nur erahnen, was sie wirklich beschäftigte. So war es für die Klasse ein Rätsel, wie ein einziges Notizbuch sämtliche Schulordner ersetzen konnte. Nur Ean wusste, dass das Buch noch nicht einmal Mitschriften vom Unterricht enthielt, der Großteil bestand aus Zeichnungen und persönlichen Stichwörtern.

Die ersten Minuten des Deutschunterrichts plätscherten dahin, bis es klopfte und Hektor den Raum betrat. In seiner dunkelblauen Wolfskin-Jacke und den braunen Wanderschuhen sah er aus, als sei er gerade auf einer Trekking-Tour in den Bergen. Die dreckigen Sohlen hinterließen schlammige Spuren, von der Kleidung perlte die Nässe ab.

»Bitte entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte er mit ruhiger Stimme. Ean staunte immer wieder, wie ernsthaft und selbstbewusst Hektor auftrat. Meinungen anderer berührten ihn genauso wenig wie stürmisches Wetter. Er zeigte nicht den geringsten Anflug von Schuldbewusstsein, dass er am ersten Schultag nach den Ferien eine Viertelstunde zu spät zum Unterricht erschien. Dabei war das ein höchst untypisches Verhalten von ihm. Hektor war sonst immer pünktlich. Immer.

»Darf ich erfahren, warum du zu spät bist?«, fragte Herr Roland.

»Wir standen im Stau.«

Ohne Herrn Roland anzublicken, streifte Hektor die Kapuze ab. Seine blonden Haare waren trocken.

»In Ordnung. Setz dich hin, damit wir auch die letzten Albernheiten der Ferien hinter uns haben.«

Hektor suchte seinen Platz in der hinteren Ecke auf. Als Herr Roland sein Lehrmaterial durchsuchte und den Schülern damit eine Verschnaufpause verschaffte, nutzte Leyla die Gelegenheit: »Was ist passiert?« Leyla hatte ein sehr ausgeprägtes Gespür dafür, Verstimmungen sofort zu erkennen.

»Nichts, was soll passiert sein?«

Mit seinen markanten Wangenknochen, den stechend grünen Augen und dem kurzen blonden Haar sah Hektor im Grunde noch ein bisschen besser aus als Piet. Aber im Gegensatz zu Piet machte er nichts daraus. Weder sein Aussehen noch sein Klamottenstil schienen ihn zu interessieren.

In diesem Moment hörte man Herrn Roland tief seufzen: »Ich muss noch einmal ins Lehrerzimmer. Also – benehmt euch zivilisiert. Und bleibt von der Tafel weg.«

Kaum war Roland draußen, rief Tim: »Hey Piet, ich glaube, er muss aufs Klo. Oder was sagst du als Fachmann?«

»Witzig, Tim, sehr witzig.« Piet klatschte lustlos in die Hände. Die meisten brachen wieder in Gelächter aus.

Hektor blieb stumm. Anstatt sich zu erkundigen, was das Theater sollte, blieb er in Gedanken versunken.

»Wie war der Jagdurlaub in Fürt?«, fragte Ean und klopfe seinem Freund auf die Schulter. Ean wusste, dass Hektor wieder einmal seinem skurrilen Hobby nachgegangen war. »Hat ein Wildschwein dein Jagdhaus gestürmt, oder was ist los?«

»Ich war nicht in Fürt, sondern in der Pfalz. Wir sind erst heute Morgen wiedergekommen.«

»In der Pfalz?«, fragte Leyla und sah aus dem Augenwinkel, wie Tim und Simon in den Unterlagen von Herrn Roland wühlten.

Ean war überrascht. »Du fährst doch sonst immer in den Fürter Forst.«

»War auch geplant. Aber das Gelände wurde gerodet, vollständig platt gemacht. Das ganze Dorf ist verschwunden.«

»Oh-oh«, kam es über Eans Lippen. Die Sache schien Hektor wirklich nahezugehen und Ean glaubt zu wissen, warum. Hektor war dort unten im Fürter Forst aufgewachsen, auf einem großen Bauernhof. Er hatte ihnen zwar nur ein einziges Mal davon erzählt, aber das war einprägsam gewesen.

Auf dem Hof hatten nicht nur sie gelebt, sondern noch ein halbes Dutzend andere Familien. Es war ein enges Zusammenleben gewesen. Jeder half jedem, und die Kinder wurden praktisch von allen gemeinsam großgezogen. Hektors Vater war Gärtner gewesen und Hektor selbst ein kleiner Tierliebhaber. Angeblich war er ein sehr glückliches Kind gewesen, er hatte Freude an allem, was diese Welt und besonders der Wald ihm zu bieten gehabt hatten. Doch dann war überraschend Hektors Mutter gestorben. Und das war das Ende der Idylle. Hektors Vater ertrug das Leben auf dem Bauernhof nicht mehr. Alles erinnerte ihn an seine verstorbene Frau. Also beschloss er, fortzuziehen, in den Norden. Für Hektor brach damit zum zweiten Mal eine Welt zusammen.

Sein einziger Trost und letztes Überbleibsel der Kindheit waren seither die gemeinsamen Jagdausflüge mit seinem Vater in genau diesen nun abgeholzten Fürter Wald.

»Der gesamte Wald gerodet? Dürfen die das denn?«, fragte Leyla mit gesenkter Stimme.

»Anscheinend.« Hektor verzog das Gesicht. »Diese Verbrecher haben die komplette Landschaft zerstört! Alle Waldwege, den ganzen Ort ... unser Gehöft.« Hektor starrte vor sich hin. Die Wut schien ihn zu zermürben.

»Verbrecher? Von wem redest du?«, fragte Ean vorsichtig.

»Graukohle AG.«

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Piet hob hilflos die Arme. »Habt ihr das verstanden?«

»Geht so«, brummte Ean.

Sie waren erst seit fünf Tagen wieder in der Schule, doch die Ferien schienen bereits eine Ewigkeit her zu sein. Vor Eans geistigem Auge tanzten die Vektoren. Er besaß einige Stärken, Mathematik gehörte sicherlich nicht zu ihnen. Jede Unterrichtsstunde quälte sich so mühsam vorwärts, dass er die Hälfte der Zeit gedanklich beim Kampfsport war. Bei Youtube hatte er vor der Schule ein Video von einem japanischen Judoka gesehen und dabei einen ihm bis dahin völlig unbekannten Griff kennengelernt. Nicht, dass er schon alles wusste, aber dieser Griff war eine wahre Augenweide gewesen. Er freute sich jetzt schon auf das nächste Training, wo er ihn ausprobieren würde.

»Wieso fängt die Frau gleich so schwer an?«, jammerte Piet, während sie über den Flur Richtung Treppe schlenderten. »Mein Gehirn ist noch nicht so weit.«

Leyla nahm die Vorlage dankbar auf. »Bist du mit den Gedanken noch bei deinem Lala-Klo-Aussetzer?«

Piet war nicht zu Scherzen aufgelegt. »Sorry, dass ich nicht Frau Meyers Lieblingsschülerin bin und meine Noten geschenkt kriege. Ich hatte ausnahmsweise mal alle Hausaufgaben, und du? Nichts. Aber erzählst irgendwas vom Kreuzprodukt, was keiner hören will, und zack, wieder 14 Punkte. Just not fair. Ich muss halt doch mit meinen äußeren Qualitäten überzeugen.«

Im Spiegel an der Flurwand überprüfte Piet sein Aussehen. Duckface. Linke Seite, rechte Seite, Optimierung von Hemd und Kragen, und das Ganze von vorn.

Auf dem Weg zur Mensa kamen sie an einer Fensterreihe vorbei, durch die sie in den Schulhof schauen konnten. Die Ansammlung von mehreren Dutzend Schülerinnen und Schülern erinnerte sie daran, dass heute offensichtlich Freitag war. Demonstrationstag für alle Schulschwänzer. Ihr Erkennungsmerkmal, die Schilder mit den klugen Öko-Sprüchen, trugen die Kids so stolz wie Ean seine Wettkampf-Medaillen. Piet machte sich in traditioneller Piet-Art über die Demonstranten lustig, doch Ean hörte nur mit halbem Ohr hin. Er erkannte in der Menge den Rotschopf seines fünfzehnjährigen Bruders. Das war neu. Er wollte es gerade kommentieren, als er etwas anderes entdeckte.

»Schau dir das an, Hektor, das ist was für dich.«

Er deutete in die Richtung, las die Aufschrift des Schildes: »Achtung! Graukohle AG zerstört!«

»Da gehe ich hin«, entgegnete Hektor prompt.

»Auf die Demo?«

Hektor antwortete nicht, starrte nur unverwandt das Schild an.

»Und als Nächstes haben wir alle Rastalocken und waschen uns nicht mehr«, kam es von Piet. Als niemand auf seinen Scherz einging, legte er nach: »Ich werde sicherlich nicht auf Ökofreak umschulen, nur weil du in einen anderen Wald umziehen musst. Das schafft jeder Ameisenhaufen. Nimm dir ein Beispiel an denen.«

Leyla sagte: »Um es nochmal für dich zu übersetzen, Piet. Hier geht es nicht um Ökofreaks. Dir ist doch bewusst, dass der Wald eine ganz besondere Bedeutung für Hektor hatte.«

Ean pflichtete ihm bei: »Wir sollten mitgehen – für Hektor. Mathe und Physik direkt hintereinander ist sowieso eine Zumutung.«

Die vier brachen Richtung Fußgängerzone auf, ohne sich bei den Lehrern abzumelden. Es war ohnehin klar, wo die Schüler freitagvormittags steckten, wenn sie nicht im Unterricht auftauchten. Vor einigen Wochen hatte die Act-Now-Bewegung in ihrer Stadt Einzug gehalten, seitdem marschierten immer mehr mit Schildern bewaffnete Schülerinnen und Schüler durch die Straßen.

Die Demonstrierenden strömten durch die Fußgängerzone Richtung Marktplatz. Geplauder, Lachen, vereinzelte Protestrufe, eine positive und erwartungsvolle Stimmung. Ean hatte mehr Aggressivität erwartet, und jetzt war er Teil eines bunten Treibens, das mehr mit Party zu tun zu haben schien als mit Politik.

»Dein Bruder ist schlauer, als ich dachte«, sagte Piet nach einer Weile. Ean folgte dem Blick seines amüsierten Freundes. Er sah Rob, der mit einigen seiner Klassenkameraden an einem Tisch im Queenburger saß und Chickenwings verspeiste.

»Dieser Hund«, knurrte Ean und marschierte auf das Fast-Food-Restaurant zu. Er stieß die Eingangstür auf und baute sich vor den Jungs auf.

»Ach, sieht so dein Streik aus?«

Rob blickte zu seinem großen Bruder auf, ohne das Kauen einzustellen.

»Weißt du wie anstrengend es ist, Schilder hochzuhalten?«, sagte er mit vollem Mund. »Da brauch man Energie.« Er wischte mit fettigen Fingern über das Display seines Handys.

Ean nickte in Richtung Marktplatz. »Ihr geht da aber gleich noch hin, oder?«

Rob zuckte mit den schmalen Schultern. Er besaß längst nicht die breite Figur seines drei Jahre älteren Bruders. »Mal sehen. Vielleicht bestell ich mir auch noch was.«

Piet und Leyla waren zu ihnen getreten. Piet nahm eine Pommes von Robs Tablett. »Also, ich feier deinen Bruder.«

»Hey Piet«, sagte Rob. »Weißt du schon, dass ein nettes Video von dir herumgeht?«

Piet tunkte eine zweite Pommes in die Mayonnaise. »Hör ich da Neid mitschwingen, Robi?«

»Nein!«

»Robi, ich wäre mal ganz leise«, entgegnete Piet und griff nun auch nach einem Chickenwing. »Hast du überhaupt schon mal ein Mädchen angefasst?«

Der Rothaarige verzog sein Gesicht, die Frage war ihm peinlich. »Ähh. Na klar.« Er lief rot an. »Nerv mich nicht.«

Um nicht in Vergessenheit zu geraten, beugte Ean sich zu seinem Bruder hinunter: »Ich hab dich was gefragt. Ich will nicht wissen, was Papa dazu sagt.«

»Ean«, bremste Leyla ihren Freund. »Spiel nicht den Moralapostel. Du bist doch auch nur hier wegen Hektor.«

Wie aufs Stichwort stieß dieser die Tür auf: »Können wir langsam mal los? Anscheinend geht da vorne richtig was ab.«

Durch die offene Tür hörte man Lautsprecheransagen und Gejohle.

»Cola ist auch nicht gut für dich«, sagte Piet und nahm sie Rob einfach weg. Dann folgte er Ean und Leyla zur Eingangstür. Er prüfte ein letztes Mal kritisch sein Outfit in der Tür, befand es für gut und trat dann zu den drei Freunden auf den Bürgersteig.

Der Marktplatz quoll über vor Menschen. Auch die Straßen, die von allen Himmelsrichtungen auf den Platz führten, waren gefüllt mit Schülern, und es schienen immer noch mehr zu werden. Überall ragten beschriftete Banner und Schilder aus dem Menschenmeer. Am Rand des Marktplatzes war ein schwarzes Podest errichtet worden, das mit gewaltigen Boxen ausgestattet war. Aus den Lautsprechern drang dröhnende Musik. Die Menschen redeten laut, es wurde gelacht, die ersten Sprechchöre ertönten. Alles zusammen erzeugte eine elektrisierende Geräuschkulisse.

»Okay, anscheinend sind nicht alle bei Queenburger hängengeblieben«, gab Ean zu.

Leyla sah sich lächelnd um. »Unkreativ sind die Ökos auch nicht. Manche Plakate sind ziemlich witzig.« Sie deutete amüsiert auf eines. Dieses Plakat ist genauso schlecht wie unsere Klimapolitik war da betont lieblos auf ein Stück Pappe gekritzelt worden. Und auf einem anderen stand: Ich bin so sauer, ich habe sogar ein Schild gebastelt.

Piet hatte anderes im Blick: »Die Öko-Damen sind auch nicht von schlechten Eltern.«

Ohne auf Leylas empörtes Kopfschütteln zu achten, wandte er sich zwei Mädchen zu. »Na? Beeindruckend das Ganze, oder?«

Die Mädchen lächelten Piet an und schon hatte sich das Aufstehen heute Morgen für ihn gelohnt. »Auf eurem Plakat steht Fuck me and not the planet. Meint ihr das ernst?«

Die beiden Schülerinnen brauchten einen Moment, um zu begreifen, dass sie sich nicht verhört hatten. Ihr Lächeln verschwand und machte einer Grimasse aus Zorn und Ekel Platz.

»Da steht ›fuck you‹! Kannst du nicht lesen? Wichser.«

Erschrocken schaute Piet erneut hin. »Uff, das ist jetzt natürlich peinlich.«

»Noch peinlicher ist, dass du eine Cola von Queenburger in der Hand hast.«

»Ja, nicht wahr? Die habe ich gerade aufgehoben. Das geht ja überhaupt nicht, die einfach in die Botanik zu schmeißen ...«

Piet wollte weiterreden, doch das eine Mädchen hob abweisend die Hand, und die beiden verschwanden in der Menge.

»Bravo, Piet«, kommentierte Leyla. »Wir wäre es, wenn du uns Frauen einfach mal eine Pause gönnst.«

»Mach dich doch lieber an die ran«, schlug Ean vor und deutete auf ein Mädchen, das gerade das Podium betrat. Die Versammlung brach in Jubel aus.

»Sieht genauso anstrengend aus wie diese Maisie Young.« Leyla sah Ean an, dann zurück zum Podium.

»Wie konnte ich das vergessen?! Maise soll heute hier in unserer Stadt sein. Das dort vorne ist Maisie Young.«

»Ernsthaft?«, stieß Ean hervor. Das ist die Maisie Young aus England? Wie konnte ich nicht mitbekommen, dass sie hier ist?«

»Zu viel ›GTA 5‹-Spielen? Zu wenig Nachrichten-Hören?« Leyla lächelte ihn herausfordernd an. »Aber was amüsiere ich mich über dich, ich hatte es ja selbst vergessen.«

Durch die Lautsprecher ertönte ein »Moin« mit englischem Akzent, die Menge antwortete begeistert ebenfalls mit »Moin«.

»Hello Germany!«

Zwei Worte reichten aus, um alle Anwesenden in Jubel ausbrechen zu lassen. Als würde Capital Bra oder Loredana vor ihnen stehen.

»I’m so proud, that so many of you step up for our climate. For far too long the people with power got away with doing nothing against this crisis

Ihre Stimme war kindlich, doch sie trug ihre Worte mit einer solchen Überzeugung und Willenskraft vor, dass niemand darüber nachdachte, dass hier eine Sechzehnjährige zu Tausenden Schülern sprach.

»They refuse to understand that their actions are essential for our future! And we are angry! They just don’t care that it is our future world, which will be destroyed. But we will not accept that! This will end and we will strike until they start to do something! Because we have done our homework and they have not! We will be patient and we will continue until we are satisfied.«

Stürmischer Jubel brach aus. Er verebbte nicht, sondern ging in einen lauten Sprechchor über. »Maisie, Maisie, Maisie«, hallte es über den Platz.

Diese Maisie Young faszinierte Ean. Er hatte sie stets für eine Art Witzfigur gehalten, aber in diesem Moment – auf diesem Platz, als Teil seiner Welt – war etwas anders geworden.

Leyla sah Ean von der Seite an. »Du bist ja ganz hin und weg«, sagte sie spöttisch.

Ean zuckte mit den Schultern, ohne den Blick von dem Podest zu nehmen.

»Ich kenne dich«, fuhr Leyla fort. »Das ist der Blick, mit dem du Kramp angesehen hast, als er zu den Olympischen Spielen fahren durfte und du nicht.« Leyla hielt inne. »Du würdest dich gerne da oben sehen.«

»Was? Nein. Das ist das Letzte, was ich will.« Er schaute in Leylas blaue Augen. »Warum sollte ich vor irgendwelchen Öko-Idioten eine Rede halten wollen?«

»Überleg’s dir«, sagte Leyla.

»Außerdem bewirkst du etwas«, sagte Hektor, der Leylas letzte Worte mitbekommen hatte. »Diese ... Öko-Idioten ... machen nämlich das Richtige. Jedenfalls wollen sie das Richtige. Ihnen fehlen nur noch einige Millionen Mitmachende.«

»Was ist los mit euch?« Ean sah seine Freunde mit großen Augen an. »Wollt ihr jetzt ernsthaft einen auf Maisie machen? Wollt ihr jeden Tag Schilder mit euch rumschleppen? Ihr nehmt diesen Öko-Scheiß wirklich ernst?«

»Hab schon Dümmeres gehört«, sagte Leyla schulterzuckend. »Das Thema geht uns schließlich wirklich alle an.«

Auf dem Rückweg lästerten die Vier über Piets jüngstes Desaster mit der Frauenwelt. Er wurde nicht müde, den Schlamassel mit seinem Lesefehler auf dem Schild erklären zu wollen. Und die anderen wurden nicht müde, ihm dringend eine Flirt- und Sexpause zu empfehlen.

Ean gingen die Reden nicht aus dem Kopf. Die von Maisie, aber auch die von den anderen, die nach ihr ans Mikro getreten waren. Es war nicht nur der Inhalt, der ihn angesprochen hatte. Da war noch mehr. Es war die Stimmung, die Friedlichkeit, der Zusammenhalt. Der Spirit. Und all das ohne Drogen, am helllichten Tag, an einem Freitag, mit Polizisten, die nicht unangenehm auffielen, und mit erwachsenen Zaungästen, die das Treiben der jungen Leute – soweit Ean das beobachten konnte – überwiegend gutzuheißen schienen.

»Leute, sind wir nächsten Freitag wieder dabei? Wer hat schon Lust auf Physik?«

»Bin dabei!«, antwortete Hektor.

Leyla lächelte nur vor sich hin und fummelte in ihrer Handtasche herum.

»Auf jeden!«, stimmte Piet mit blitzenden Augen zu. »Wir lernen aus unseren Fehlern. Nächstes Mal nehme ich eine Mate mit. Am besten zwei oder drei. Die Demos sind voller Frauen und alle wollen politisch korrekt leben. Und lieben.«

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3

Einen Monat später schlenderten die Freunde bereits zum vierten Mal durch die Fußgängerzone. Sie hatten Artikel gelesen, Hektor hatte sich sogar Bücher bestellt, hatten mit Leuten geredet, Schilder hochgehalten und in Sprechchöre eingestimmt. Die Welt hatte nicht darauf reagiert. Es war, als wäre sie taub und blind und immun gegen alles, was auf den Demos gesagt und gefordert wurde. Als würde jede Aktion nur in einer Blase stattfinden. Der Einzige, der sich halbwegs zufrieden zeigte, war Piet. Er beklagte sich hauptsächlich darüber, dass die Öko-Damen zu viel »Busch« hätten. Aber er fand niemanden, der das Thema mit ihm vertiefen wollte.

Hektor sprach endlich aus, was allen auf der Seele lag: »Ist doch alles sinnlos hier. Dein kleiner Bruder sitzt schon wieder drüben bei Queenburger, Marie wird immer noch mit diesem fetten Mercedes abgeholt, und Präsident Duck leugnet weiterhin den Klimawandel.« Die Frustration lag wie ein Schatten auf seinem Gesicht.

»Meine Eltern haben gerade einen Flug nach Mallorca gebucht – für ein Wochenende«, ergänzte Ean und stöhnte verächtlich.

Leyla sah ihre Freunde an. »Hey. Wir sind erst seit einem Monat dabei. Und trotzdem tappt ihr schon in die gleiche Falle wie so viele andere auch.«

»Was für eine Falle?«, fragte Ean.

»Ihr werdet selbstgerecht.« Sie sah Ean eindringlich an. »Du deutest mit dem Finger auf die anderen, aber wie sieht es mit dir selbst aus? Wie oft fliegst du zu deinen Kampfsportevents?«

Ean stutzte. Verdammt, sie hatte recht. In Sachen ökologischer Fußabdruck war sein Leben eine Katastrophe.

Leyla fuhr fort: »Ihr solltet mehr Geduld haben. Es kann Jahre dauern, bis Proteste Wirkungen in der Politik zeigen. Aber ich verstehe natürlich, was ihr sagen wollt. Irgendwie fühlt sich das alles nicht zielführend an.«

»Zielführend! Geht’s nicht noch ein bisschen verquaster?«

Hektor blieb abrupt stehen und packte Ean so fest an der ohnehin schon entzündeten Schulter, dass ein greller Schmerz seinen Arm entlangschoss. Wütend schlug er Hektors Hand zur Seite. Hektor schien das nicht zu stören, er bemerkte es nicht einmal.

Wie zu sich selbst sagte er: »So machen wir das! Wir geben ihnen das, was sie uns gegeben haben. Dann kommt garantiert Bewegung in die Sache.«

»Drück dich so aus, dass man dir folgen kann«, sagte Ean gereizt und massierte dabei seinen Sehnenansatz.

Hektor hob den Kopf und sah die Freunde mit sonderbar entrückter Miene an.

»Die machen unseren Wald platt, wir machen ihre Autos platt. So machen wir das.«

Eine alte Dame, die auf dem Bürgersteig auf sie zukam, machte einen großen Bogen, um heil an dem seltsamen Quartett vorbeizukommen.

»Stimmt was mit deinem Kopf nicht?« Leyla sah Hektor fast verängstigt an.

»Gerechtigkeit!«, brach es aus Hektor heraus. »Diese ewigen Streiks bringen doch nichts. Wie lange geht das jetzt schon? Monate! Aber wen juckt es, ob ein paar tausend Kids zwei Schulstunden schwänzen? In Zeitungen steht nichts mehr, im Fernsehen erst recht nicht. Die Erwachsenen beschweren sich über die Faulheit unserer Generation und dass wir kein Interesse für Politik haben. Aber alle tun hier etwas und wir bekommen gesagt: Ihr habt keine Ahnung, überlasst es den Profis. Das ganze Umweltthema interessiert da oben gar keinen mehr. Wusstet ihr, dass die Graukohle AG vom Staat subventioniert wird? Das können wir nicht weiter zulassen!«

In Hektors ohnehin schon harten Gesichtszügen zeichnete sich eine Entschlossenheit ab, die seine Freunde bei ihm nicht kannten.

Leyla versuchte einzulenken: »Ich verstehe ja, was du meinst. Wir nutzen noch immer Kohle, obwohl sie ganz und gar nicht mehr zukunftswürdig ist. Aber mit Gewalt versuchen, die Dinge zu beschleunigen? Glaubst du wirklich, das ist ein möglicher Weg?« Falten lagen auf ihrer Stirn. Ean trat zu Hektor und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Findest du nicht, dass du dich da in was reinsteigerst?«

Selbst Piet, der sonst an ernsthaften Debatten wenig interessiert war, sagte: »Also, es ist nice, mit euch auf Protesten zu sein, aber so sehr juckt mich die Umwelt jetzt auch wieder nicht.«

Hektor schüttelte Eans Hand ab. »Leute, ihr versteht das nicht. Ihr nehmt das alles auf die leichte Schulter. Keine ungeliebte Physik, Öko-Mädels checken, schön im Chor grölen, sich wie ein besserer Mensch vorkommen, weil man sich ausnahmsweise nicht den Fraß von Queenburger antut. Aber bloß nichts tun, was die Sache wirklich voranbringt!«

Hektors Stimme war laut geworden, hier und da drehten sich verwundert Passanten in der Fußgängerzone um.

Piet schüttelte den Kopf und tat so als gehöre er nicht dazu. »Das ist ja peinlich mit dir, Hektor.« Leyla schaute ihn vorwurfsvoll an. Dann sagte sie zu Hektor: »Wir nehmen das alles ernst. Wir sind doch hier, zusammen mit dir. Oder?«

»Und was haben wir bis jetzt erreicht?« Herausfordernd blickte Hektor einen nach dem anderen an. »Da seht ihr es. Es ist völlig sinnlos! Die Demos sind wie eine wöchentliche Aufführung unserer Theater-AG. Ich bin weg.«

Damit wandte er sich ab und lief in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Den ganzen Tag schrieben die Freunde Nachrichten in ihrer WhatsApp-Gruppe »Dreamteam«, doch von Hektor kam keine Reaktion. Erst am nächsten Tag meldete er sich, und was er schrieb, klang überraschend euphorisch.

»Graukohle ist Geschichte, kommt vorbei, heute ist Samstag, heute wird gefeiert!!!«

Ean las verwundert die Botschaft. Er war nicht scharf auf Feiern. Feiern war ein Synonym für Saufen. Saufen war Gift für einen Sportler. Trotzdem schrieb er. »Bin dabei!«, denn er war erleichtert, dass Hektor sich offensichtlich wieder beruhigt hatte, und er könnte auch wie gewöhnlich einfach um halb eins abhauen. Piet schrieb: »Cool!« Und Leyla ließ es sich nicht nehmen, das Bild einer Toilette mit Daumenhoch-Smiley zu senden.

»Hektor!«, rief Ean freudig, als der Kumpel ihm am Abend die Haustür öffnete. »Gott sei Dank. Ich dachte, du rennst jetzt rum und zerstichst irgendwelche Reifen.«

»Nein«, erwiderte Hektor lächelnd, »ich habe etwas Besseres für euch.«

Ean betrat den geräumigen Flur des Einfamilienhauses. Auf dem Boden erstreckte sich ein brauner Teppich mit geometrischen Linien, zur Linken befand sich ein Spiegel, daneben die Garderobe. Auf dem Nachbargrundstück bellte ein wachsamer Hund. Ean beschlich ein ungutes Gefühl.

»Bitte lass es Freikarten für den Club sein«, sagte Ean hoffnungsvoll. Erst Hektors Ausbruch und sein radikales Abwenden, jetzt die übertrieben gute Laune, die Ean ihm nicht abkaufte. Über die Jahre hatte er Hektors Macken kennengelernt. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

»Leyla und Piet sind schon da, wir haben auf dich gewartet.«

Ean folgte seinem Freund schweigend hinauf ins Obergeschoss, wo sich Hektors Zimmer befand. Wie immer war es tipptopp aufgeräumt. Nichts lag herum, alles war an seinem Platz. Hektor war der einzige Mensch, von dem Ean wusste, der nicht nur sein Bett selbst machte, sondern auch die Ränder der Decke zwischen Matratze und Bettgestell schob, sodass sie vollkommen glatt war.

Auf dem kleinen Zweisitzersofa unter dem Fenster saßen Leyla und Piet dicht nebeneinander. Er bemerkte den grübelnden Blick von Leyla, die sich über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen schien. Ean entging auch nicht, dass sie sich heute ein wenig geschminkt hatte. Piet sah mit einem Grinsen zu Ean auf und schickte ihm einen Kuss zu.

In der Ecke des Raums stand Hektors Jagdgewehr in einer Sicherheits-Vitirine. Ean wunderte sich jedes Mal wieder. Welcher Jugendliche hatte so etwas in seinem Zimmer herumstehen! Wenigstens war Hektor noch nicht auf die Idee gekommen, sich Hirschgeweihe an die Wand zu hängen.

Ean setzt sich auf einen hölzernen Klappstuhl neben den Schreibtisch, und Hektor kam zur Sache: »Haltet euch fest.« Er schaltete seinen PC ein. »Ich habe ein kleines Video für euch.«

»Niemand will wieder Piets Schwanz sehen«, sagte Ean gequält.

»Der Tag wird kommen, an dem es euch langweilig wird«, seufzte Piet. Niemand achtete auf ihn.

Hektor setzte sich an seinen Schreibtisch und loggte sich mit schnellen Fingern bei Facebook ein. Dann drehte er den Bildschirm so, dass alle gut sehen konnten.

»Ist das die Graukohle-Seite?«, fragte Leyla, die sich vorgebeugt hatte, skeptisch. Piet setzte sich aufrechter hin, um besser sehen zu können.

Mit einem geheimnisvollen Lächeln scrollte Hektor zu einem Post, der das eingefrorene Bild eines Videos zeigte. Er drückte auf Play, und es erschien eine schwarzvermummte Gestalt, von der nur die Augen zu sehen waren. Sie waren stechend grün.

»Graukohle AG – dieser Name drückt alles aus, was nicht nur in diesem Land, sondern auf der ganzen Welt falsch läuft«, ließ die Gestalt vernehmen. »Der Name steht für Machtmissbrauch, überheblichen Kapitalismus und Rücksichtslosigkeit. Rücksichtslosigkeit gegenüber den Menschen, den Tieren und allen anderen Lebewesen. Ihr seid dafür verantwortlich, dass sich Brände, die man bekämpfen müsste, immer weiter ausbreiten. Ihr seid dafür verantwortlich, dass immer weiter Geld in politische Parteien fließt, die nur dazu da sind, um eure zerstörerischen Ziele zu verwirklichen. Jeder weiß, dass die Rechten den Klimawandel leugnen, damit sie Menschen wie euch glücklich machen. Ihr verfluchten Verbrecher, ihr wollt ein Feuer legen. Denkt ja nicht, dass wir blind zusehen werden. Denkt ja nicht, dass wir nicht zurückschlagen werden. Graukohle AG wird brennen!«

Das Video war zu Ende, das Bild fror ein.

Hektor drehte sich erwartungsvoll um, doch er sah in ratlose Gesichter.

»Fürs Protokoll«, sagte Leyla schließlich. »Ich habe dich echt lieb, Hektor, aber du bist ein noch größerer Idiot als Piet, und das möchte was heißen.«

»Was? Warum?« Hektor hatte offenbar mit etwas mehr Begeisterung gerechnet.

»Das auf dem Video bist du?«, fragte Leyla.

»Wie kommst du drauf?« Hektor verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hektor! Natürlich bist du das. Jeder Dummkopf erkennt, dass du das bist.«

»Fuck, Hektor, was soll der Scheiß?«, meldete sich Ean zu Worte.

Hektor sprang auf und ging ein paar Schritt im Zimmer auf und ab. »Leute! Die können mich nicht erkennen.«

»Du hast dem internationalen Energiekonzern Graukohle AG auf deren Facebook-Seite gedroht?« Piet begann zu lachen.

»Was heißt gedroht? Ich habe nur gesagt, dass das aufhören muss.«

»Graukohle AG wird brennen ... Nööö, ist keine Drohung«, fuhr Piet fort. Er lachte erneut.

Ean schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wir gehen heute feiern, weil du den Kopf freikriegen willst. Aber offensichtlich ist dein Kopf schon frei. Von den letzten Resten Verstand.«

»Alles gut«, sagte Hektor beschwichtigend, »beruhigt euch. Die wissen nicht, wer das war. Es soll ihnen nur zu denken geben. Das muss ja wohl noch erlaubt sein in einem freien Dingsbums ... Land.« Aber sein Gesicht zeigte, dass ihm dämmerte, eventuell einen Fehler begangen zu haben.

»Warst du wenigstens so schlau, einen sicheren Browser zu verwenden?«, fragte Leyla hoffnungsvoll.

»Ganz normal Chrome.«

»Du bist verloren.« Leyla ließ sich resigniert gegen die Sofalehne sinken. »Es war schön, dich kennengelernt zu haben. Wir werden dich natürlich regelmäßig im Gefängnis besuchen. Wir wechseln uns ab. Einer hat bestimmt immer Zeit, auch wenn wir dann natürlich alle längst an der Universität sind. Universität? Kennst du? Das ist das, wo man lernt, um später einen tollen Job zu kriegen. Natürlich nur, wenn man in Freiheit ist.«

Hektor setzte sich wieder an den Schreibtisch, sah in die Runde. »Immerhin habe ich etwas getan!«, sagte er gereizt. »Ihr könnt weiter auf eure Kindergeburtstage gehen und im Chor singen ...«

»Du hast noch nicht mal deine Stimme verstellt«, fiel Ean ihm ins Wort. »Was stimmt denn bloß nicht mit dir? Das war purer Aktionismus. Purer Aktionismus ist ein anderer Begriff für: dumm, dumm, dumm.«

Leyla wischte seinen Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. »Okay, völlig egal. Gleich stehen BKA, LKA und der Verfassungsschutz vor der Tür. Wenn du Glück hast, klingeln sie. Wenn nicht, braucht ihr hinterher eine neue Haustür. Aber das ist dann ja das Problem deines Vaters und nicht mehr deins ...«

»Okay Leyla«, sagte Ean, »es reicht.«

Leyla setzte sich wieder auf. Sie strich sich das schwarze Haar nach hinten, schloss für einen Moment die Augen und sagte dann zu Hektor: »Okay, möchtest du uns nicht verraten, wie viele Aufrufe deine Solo-Performance hat?«

Hektor zögerte. Offenbar wusste er nicht, ob Leyla es ernst meinte. Als sie ihn weiterhin erwartungsvoll ansah, wandte er sich wieder dem Computer zu. Er aktivierte das Fenster mit dem Video und las die Zahlen ab: »Gut dreißigtausend Aufrufe und etwas über viertausend Kommentare.«

Einen Moment lang war es still im Raum. Schließlich erhob sich Leyla, um Hektors Behauptungen zu überprüfen.

Sie beugte sich vor. Stieß einen leisen Pfiff aus.

Piet grinste. »Digga, das geht ja ab wie ein Waldbrand in Australien. Dreißigtausend Aufrufe in ... ja, in was, in vier Stunden? Auf der Graukohle-Seite?«

»Und die Kommentare ...« Leyla nahm die Maus und scrollte die Posts durch. »Das Drecksunternehmen soll brennen ... Umweltverschmutzer, rodet euch selbst! ... Enough is enough ...«

Leyla scrollte und scrollte.

»Jetzt bin ich wohl kein Idiot mehr«, schnaubte Hektor und richtete sich auf.

»Doch, du bist noch immer ein Idiot«, sagte Leyla, »aber augenscheinlich ein berühmter.«

Schließlich drängten sich alle am Bildschirm. Aus den Kommentaren sprach so viel Zustimmung, so viel Solidarität!

Leyla sagte: »Die Leute beten dein Video an. Als hätten sie nur auf so etwas gewartet ... Umweltverschmutzer wie die sollten legal gejagt werden

»Seht ihr endlich ein, dass es viele bewegt und begeistert, wenn wir wirklich etwas unternehmen?«

In Hektors Augen funkelte Triumph. Er wusste, dass er seine Freunde fast überzeugt hatte.

In diesem Moment hörte man draußen auf der Straße Motorengeräusche. Hektor trat ans Fenster und sah, wie ein dicker Mercedes GLS direkt vor dem Gartentor hielt. »Verdammt ...«, entfuhr es ihm.

Die anderen sprangen auf und starrten ebenfalls hinaus. In der Dämmerung war nicht zu erkennen, wer in dem SUV saß. Eans Fantasie spielte ihm üble Streiche. Er glaubte Männer in schwarzen Anzügen zu sehen, mit Headsets im Ohr, die sich bereit machten, das Haus zu erstürmen, um Hektors Laptop zu beschlagnahmen und sie alle zusammen in Handschellen abzuführen.

Doch als sich schließlich die Vordertüren öffneten, entstiegen dem Wagen keine Beamten, sondern Josephine und Marie.

Ean sah zu Hektor. »Was? Was machen die beiden hier? Hast du die eingeladen?«

Hektor wollte etwas sagen, doch Piet kam ihm zuvor.

»Das war ich.« Er grinste. »Sonst haben wir Männerüberschuss, das mag niemand.«

Ean stieß angestrengt Luft aus und schaute Unterstützung suchend zu Leyla. Die zuckte nur mit den Schultern.

Ean wies auf den Computer. »Kein Wort über das Video. Je weniger sie wissen, desto besser«, ordnete er an, bevor er zur Treppe ging. Die anderen folgten ihm.

»Hallöchen«, begrüßte Marie ihn freudig und winkte, als Ean die Haustür öffnete. Josephine schwenkte eine Sektflasche.

Beide hatten sich aufgestylt. Hohe Schuhe, knappe Kleidung und aufwendig geschminkte Gesichter verwandelten die Schulmädchen in heiße Partygirls. Ean lächelte Marie zu. Er fand sie auch schon attraktiv, wenn sie in den dunklen Morgenstunden noch mit ihrer Jacke bekleidet im Klassenraum saß und ihm ein verschlafenes Lächeln zuwarf. Er freute sich, wenn sie mit ihm die Gruppenarbeit machen wollte, und liebte es, wenn er ab und zu eine WhatsApp-Nachricht von ihr bekam. Aber jetzt konnte er kaum die Augen von ihr lassen und wünschte sich gleichzeitig, Parfüm benutzt zu haben.

Doch wie nicht anders zu erwarten, drängte sich Piet vor. »Hallo Ladys!«

Er lud sie ins Haus ein, als wäre es seins. Geübt spielte er Gastgeber und nahm Marie die Daunenjacke ab, während er Josephine ein Kompliment zu ihrer Frisur machte. Sie hatte ihre blonde Lockenpracht wirklich prima in Szene gesetzt.

Ein langgezogenes »Heeey« kam von Marie, als sie Leyla sah und ihr ein Küsschen links und rechts gab. »Du siehst gut aus, Leyla.« Ean wusste, dass sie nicht ansatzweise so viel Aufwand betrieben hatte wie die anderen beiden. Sie sah gut aus auf ihre eigene, ganz besondere Art. Geübt erwiderte sie das Kompliment.

»Und du erst, Marie. Der Rock steht dir unglaublich gut. Und die Wimpern – wow.«

Marie lächelte freudig. Leyla hatte anscheinend genau den richtigen Nerv getroffen.