Angela Meyer-Barg
Switch
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Urheber unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
1. Auflage, März 2021
Copyright © 2021 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG
Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg
www.kjm-buchverlag.de
E-Book ISBN 978-3-96194-154-4
Herstellung und Gestaltung: Eberhard Delius, Berlin
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
Coverfotos von Dennis Williamson und Britta Kunft (Bötel)
Lektorat: Katrin Köhler, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
Mehr zu den Büchern des KJM Buchverlags:
www.kjm-buchverlag.de
SWITCH – Gedanken über eine Idee und ihre Umsetzung
Gabriele von Lutzau – Der Engel mit der Kettensäge
Susanne Bötel – »Einmal frei machen, bitte«
Mareile Preuschhof – Einladung in die Stille
Renata Wendt – Der Stoff, aus dem die Träume sind
Jan Bredack – Spurwechsel
Dagmar Hirche – Ein langes Leben soll Freude sein!
Jens Mecklenburg – Flucht in die Küche
Jan Marquardt – Die Suche nach dem inneren Kompass
Harald Quint – Der Banker und das liebe Vieh
Anja Witt – Von der Freiheit des Meeres
Olaf Meyer-Sievers – Erste Hilfe für die Seele
Sophie Rosentreter – Berührung ist das Zauberwort
Nachwort
Die Autorin
Fotonachweis
Zwölf Menschen, zwölf Lebensentwürfe, und jedes Mal die Frage: »Warum haben Sie Ihrem Leben eine neue Richtung gegeben?« Einige Monate sind für alle Gespräche angesetzt, aber dann wird mitten in den Recherchen unversehens die Pausentaste gedrückt, ausgelöst durch ein Virus, das das Jahr 2020 wohl für immer prägen wird. Corona. Eine Vollbremsung für das öffentliche Leben, vor allem aber für das kreative. Andererseits: Könnte es sein, dass ausgerechnet diese Pandemie meinem Projekt einen zusätzlichen Schub verleiht? Denn in den Monaten des Lockdowns brechen wohl bei jedem Fragen auf: Was muss, was soll sich ändern, sobald der Alltag wieder Fahrt aufgenommen hat? Welche Werte kommen auf den Prüfstand?
Sinnfragen, die die Menschen in diesem Buch für sich bereits beantwortet haben, mit einem »Switch« nämlich, einem Dreh hin zu neuen Ufern. Bei all meinen Begegnungen wird es um Wendepunkte gehen. Letztlich um das Lebensthema: »Was will ich wirklich?«
»Erkenne, was du bist« – so steht es auf dem Apollotempel von Delphi, eingemeißelt vor weit über 2000 Jahren. Eine Aufforderung, die alle Protagonisten auf ihre Art gedeutet haben. Manche wählen den Weg der Kunst, andere eine spirituelle Richtung, wieder andere packen auf ganz handfeste Weise an – ziehen auf ihrem Demeterhof vom Aussterben bedrohte Tierrassen auf oder verfugen Wände mit Lehm, weil sie eine alte Handwerkskunst lebendig halten wollen. Alle möchten etwas in die Welt bringen, wollen neue Wege und andere Sichtweisen eröffnen. Der »Switch« bedeutet dabei nicht, dass jemand von heute auf morgen einen Schalter umlegt und leichthändig sein zweites Leben anknipst. Der Prozess, der die Menschen in diesem Buch auf die Spur brachte, ist oft ein Suchen, Probieren, Herantasten, bis sich herausstellt: Das ist es. Hier kann ich einbringen, was mich ausmacht, meinen inneren Schatz, das Beste in mir. Viele finden ihren ureigenen Weg jenseits der Lebensmitte, wenn sich die Frage stellt, was jetzt noch kommen mag, einige steigen früher aus vertrauten Pfaden aus. Was sie gemeinsam haben, ist die Suche nach der inneren Quelle – werde, was du bist.
Meine erste Begegnung führt mich Ende 2019 in die Hamburger Katharinen-Kirche, wo die Künstlerin Gabriele von Lutzau eine Armada von Skulpturen präsentiert – hoch aufragende Holzstelen, die mit ihren angedeuteten Flügeln an Vögel erinnern. »Seelenvögel« steht im Prospekt. Von Lutzau, geborene Dillmann, ist als »Engel von Mogadischu« eine Person der Zeitgeschichte. 1977 war sie die heldenhafte Stewardess in der von Terroristen entführten Lufthansa-Maschine »Landshut«. Nach der dramatischen Befreiung begann ihr zweites Leben als Bildhauerin. Was sie mit ihren Arbeiten bewegen will, wird sie mir an jenem Novembertag im Hamburger Kirchenschiff und einige Monate später in ihrem Haus im Odenwald erzählen.
Eine Clownin kann ich noch treffen, die in Altersheimen Momente von Freude und Unbeschwertheit auslöst, einen Unternehmer für vegane Lebensmittel, der früher als Topmanager in einem Autokonzern arbeitete, eine Äbtissin und ehemalige Hebamme, einen Biobauern und früheren Banker – dann schlägt Corona zu. Der Rahmen für meine Recherchen wird enger, Abstand ist das Gebot der Stunde.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass meine zwölfte und letzte Reportage zu einer Frau führt, die sich nach ihren Anfängen im glitzernden Model-Business von jeder Art von Glamour abgewandt hat und eine andere Art von Licht, nämlich Zuwendung und Herzenswärme, in Heime mit demenziell Veränderten bringt. Was wird bleiben, wenn irgendwann Bilanz gezogen wird? »Die Begegnungen, die wir hatten, die Beziehungen, die wir gelebt haben«, sagt die Demenzaktivistin Sophie Rosentreter.
Was will ich wirklich? Das Leben ist zu kurz, um in Routinen zu erstarren. Und lang genug, um noch mal Neues zu probieren. Zwölf Beispiele werden in diesem Buch vorgestellt, aber natürlich gäbe es noch viel mehr.
Da ist der einst so erfolgreiche Werber Christian Aeby, der heute in seinem kleinen, feinen Laden in Hamburg-Eppendorf und auf Hamburger Wochenmärkten Brot verkauft. Lange gebacken, mit kerniger Kruste – »sein« Brot. Da ist der Fernsehmoderator Tobias Schlegl, der seine Karriere aufgibt oder zumindest für länger pausieren lässt, um sich zum Rettungssanitäter ausbilden zu lassen. Über seine Erfahrungen hat er das Buch »Schockraum« geschrieben. Oder der frühere HSV-Torwart und Elfmeter-Töter Rudi Kargus, der nach dem Ende seiner Sportlerlaufbahn bei dem berühmten Künstler Markus Lüpertz Unterricht nimmt und heute in seinem Atelier in Quickborn großformatige Bilder im Stil der Jungen Wilden malt. Nicht als Hobby, sondern als Berufung, die seine volle Konzentration erfordert. Oder der Autor, der in der Hamburger U-Bahn-Station Emilienstraße einen leer stehenden Kiosk anmietete, um den vorbeieilenden Passanten ein Gespräch anzubieten. »Das Ohr« nennt Christoph Busch seinen weltlichen Beichtstuhl für alle Konfessionen.
Selbst ein Star wie Ina Müller stellte vor vielen Jahren die Weichen neu: Wer erinnert sich noch daran, dass die Sängerin und Entertainerin mal als pharmazeutisch-technische Assistentin (PTA) in Sylter und Bremer Apotheken arbeitete? Heute füllt sie riesige Hallen und ist Gastgeberin in ihrer Talkshow »Inas Nacht«.
Was kann, was will ich wirklich? Am Ende eines Lebens ist oft von den Spuren von Liebe die Rede, die ein Mensch hinterlassen hat. Wer nach einem gemeinsamen Nenner sucht, der findet ihn genau darin: Alle zwölf Porträtierten versuchen, sinnstiftende Impulse in die Welt zu bringen. Modelle für ein besseres Miteinander, für ein erfülltes Leben – womöglich gar für eine bessere Welt. »Höre auf das, was in dir aufbrechen will«, ermutigt die Äbtissin vom Kloster Wennigsen, die früher Hebamme war. Meine Gesprächspartner haben gut hingehorcht und ihr Lebensschiff neu ausgerichtet. Sie stehen dafür, dass es sich lohnt, sich selbst auf die Spur zu kommen – Kurs Neuland!
Wie die ehemalige »Landshut«-Stewardess
sich nach dem Trauma
der Entführung als Künstlerin neu erfand
SWITCH Dem Bösen Gutes entgegensetzen
Hamburgs Katharinen-Kirche gegenüber der Hafencity ist bekannt für ungewöhnliche Aktionen. Aber so eine Ausstellung habe ich noch nie gesehen: Einen ganzen Wald von Skulpturen hat die Künstlerin Gabriele von Lutzau in das Kirchenschiff gestellt. Holz-Stelen zum Anfassen, »Seelenvögel«. Manche schlagen mit den Flügeln, recken sich trotzig empor, andere warten mit gesenktem Kopf auf das Unabänderliche. Schwarz sind sie, schmal aufragend, aber immerhin nicht allein. Genau 77 Stelen füllen den Seitengang, und diese Zahl ist nicht zufällig gewählt.
Mögen andere Künstler die Interpretation ihres Werkes gern dem Betrachter überlassen oder sich der Öffentlichkeit überhaupt entziehen – diese hier ist anders. In wattierter Daunenjacke und festem Schuhwerk streift die 65-Jährige durch ihren Vogelschwarm, geht beherzt auf Besucher zu und erläutert und erklärt. Schon der erste Telefonkontakt ist wie ein Schritt durch weit geöffnete Türen: Ob man sie interviewen und porträtieren dürfte? »Ja, gern, kommen Sie her!«
Da steht sie also im kühlen Kirchenschiff, eine mittelgroße blonde Frau, der man den hessischen Zungenschlag erst anhört, als sie später im Café sitzt und den Nordlichtern vormacht, wie echtes Babbeln klingt. Gabriele von Lutzau wird in der Kirche als Künstlerin angekündigt. Ausschließlich. Darauf legt sie Wert. Erst die Lokalzeitung wird einige Tage später die Schlagworte drucken, unter denen sie zur Zeitzeugin des RAF-Terrors wurde. »Der Engel von Mogadischu in Hamburg gelandet.« Neben dem Text das Archivfoto einer jungen Frau im Rollstuhl, herzlich begrüßt vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Alles 43 Jahre her. Aber kaum dass man nachhakt, steigen die Erinnerungen auf, als sei alles gestern gewesen.
Von Lutzau, geborene Dillmann, war die einzige deutsche Stewardess in der im Oktober 1977 von einem palästinensischen Terrorkommando entführten Boeing 737 »Landshut«. Sie war diejenige, die in den Momenten der Todesangst einen letzten Hilferuf absetzte, diejenige, die selbst in den bedrohlichsten Momenten der Geiselnahme die Nerven behielt. Losgelassen hat sie das Ereignis nie. Aber sie hat für sich einen Weg gefunden weiterzuleben. Wenn man so will, überwindet die frühere Geisel das Trauma des Ausgeliefertseins mit einer fast brachial erscheinenden Gestaltungswut. Als Bildhauerin gibt sie gefällten Baumstämmen und abgestorbenem Wurzelwerk ein neues Leben. Ihr Werkzeug ist die Kettensäge. Ihre Motive sind angesiedelt zwischen Vogelwesen und Flügeln, wobei sie jeden Anflug von ästhetischer Gefälligkeit streng vermeidet. »Ich kann totes Holz nicht wiederbeleben, aber ich kann ihm ein neues Leben in der Kunst geben.« Die verschiedenen Holzarten erkennt sie mittlerweile am Duft – frische Kirsche riecht nach Marzipan, frische Eibe nach Wiese, und jene Thujasträucher, aus denen sie ihren Stelenwald sägte, duften nach Menthol. Sie lächelt. Heilende Eukalyptussalbe kennt jede Frau, die so wie sie Kinder großgezogen hat.
Wir gehen gemeinsam durch das Kirchenschiff, entlang an ihren Vogelfiguren bis zum Quergang. Hier stehen die »Wächter«, geflügelte Wesen ohne Kopf, die sie aus Zwieseln sägt, geteilten Stämmen. Jeder der Wächter hat seine Geschichte. Gabriele von Lutzau bleibt an einer weiß gegerbten Skulptur stehen, streicht zärtlich über das Holz, als wolle sie es wärmen. »Mein Goldparmänchen.« Kleine Pause, dann folgt die Erklärung: »So heißt eine alte Apfelsorte!«
Die Geschichte vom kleinen Apfelbaum ist so eine, die unbedingt zu ihr passt, weil sie beschreibt, wie die Künstlerin absterbendes Holz verwandeln kann. Stand doch das Bäumchen in Michelstadt unterhalb ihres Grundstücks, innen schon ganz morsch und hohl, und trug Jahr um Jahr tapfer Früchte, bis ein großer Sturm kam, es umzureißen. Das sind so Momente, in denen die Retterin einschreitet: »Schätzchen, ich halte den Moment fest, wo du dich dem Sturm entgegenwirfst!« Gesagt, gesägt. Aus dem gefällten Stamm entsteht eine Wächter-Skulptur.
Irgendwie steckt in der Bildhauerin auch eine resolute Mutter der Kompanie. Sind alles ihre Geschöpfe, diese Skulpturen mit den Vogelköpfen und den weit gespreizten Schwingen. Seelenvögel heißen sie nicht von ungefähr, den meisten gab sie Namen. Ganz vorn der »General«, der die Schwingen zum Victoryzeichen spreizt. Alle sind aus tiefster Seele entstanden, auch die Wächterinnen im hinteren Quergang der Katharinen-Kirche. »Wenn es mir schlecht geht, mache ich Wächter. Fühle ich mich eingesperrt, mache ich Flügel. Dann kriege ich gleich wieder Luft.« Der burschikose Ton, den sie gern anschlägt, sollte dabei nicht täuschen. Sie kennt das Gefühl, wenn in den dunkelsten Stunden jegliche Hoffnung auf Rettung verloren scheint. Sie weiß, wie sich Todesangst anfühlt.
»Wir werden jetzt sterben. Und wir werden tapfer sein«, sendet die damals 23-Jährige in ihrer letzten Nachricht aus der »Landshut«. Kurz zuvor waren die Passagiere mit Alkohol übergossen worden, damit sie besser brennen. Nicht enden wollende Pein hatten sie da schon hinter sich, unterbrochen von Momenten banger Hoffnung, in denen Ultimaten zur Freilassung von inhaftierten RAF-Terroristen gestellt und verschoben wurden. Hilflos ausgeliefert waren die 86 Passagiere – dem Sadismus der Entführer, der Hitze und Atemnot, dem Entsetzen, als der Pilot Jürgen Schumann im Mittelgang erschossen wurde. Fünf Tage und Nächte dauert der Horrortrip der kurz nach dem Start in Mallorca gekaperten »Landshut«, bis die Maschine nach Zwischenstopps in Rom, Larnaka, Dubai und Aden schließlich auf dem Rollfeld der somalischen Hauptstadt Mogadischu endgültig zum Stehen kommt. Dann das Wunder: Wenige Minuten nach Mitternacht stürmen Männer der GSG 9 das Flugzeug und erschießen drei der vier Geiselnehmer, nur eine Terroristin überlebt schwer verletzt. Der Stewardess Dillmann rollt noch eine Handgranate entgegen, die unter einem Vordersitz explodiert und deren Splitter ihre Beine verletzen. Dann endlich, in der Nacht des 18. Oktober 1977, ist der Albtraum vorbei.
Aber kann so ein Erlebnis wirklich jemals vorbei sein? »Wir fühlten uns von Gott und der Welt verlassen«, sagt Gabriele von Lutzau inmitten ihrer Geschöpfe aus hartem Holz. Wie oft sie ihre Geschichte schon erzählt hat? Egal. Jede Wiederholung hilft dabei, zu reflektieren. Außerdem sieht sie sich als Zeitzeugin. Und als Anwältin all jener Opfer, die allzu schnell vergessen sind. Für ihren besonderen Weg der Verarbeitung hat sie ein Bild gefunden: »Das Trauma fühlte sich früher an wie ein Würfel mit rasiermesserscharfen, spitzen Kanten. Der Würfel wird bleiben, aber die Kanten sind nicht mehr so scharfkantig und spitz.«
Ein Jahr nach der Rettung, in dem sie sich fühlt wie auf einer rosaroten Wolke, wird ihr Sohn Jörn Rüdiger geboren. Eine stolze Mutter ist sie, »eine Glucke!«. Und doch: Alles, was seit der Rettung passiert, wird mit der Entführung in Bezug gesetzt. Auch die Geburt eines Kindes. »Überleben und sich dann noch vermehren – mehr kann man Entführern nicht entgegensetzen!«, triumphiert Gabriele von Lutzau, die zehn Jahre darauf noch eine Tochter bekommt. Auch deren Name ein Statement: Felicitas für das Glück, Eva für das ewig Weibliche, Rebecca für Stärke.
Mit der Kettensäge die inneren Dämonen bannen
Fünf Jahre nach der Entführung, mitten in ihrem eingerichteten Leben, regt sich die Sehnsucht nach etwas Neuem. »Ich habe in mich hineingehorcht und war ganz erstaunt, was da noch alles ist!« Von Lutzau startet mit Verve in ihr Leben als Künstlerin. Sie nimmt Unterricht bei einem Bildhauer in Straßburg, arbeitet mit Meißel und Marmor, kratzt und schlägt sich hinein in ihren künstlerischen Weg, der ganz anders ausfallen wird als der ihres Lehrmeisters. »Mein Professor hat Herrscherfiguren gemacht, das wollte ich nicht. Ich wollte damals schon Schutz in die Welt bringen.« Die Überlebende von Mogadischu sucht als Künstlerin ihre eigene Spur. Und als ihr Handgelenk nach einem schweren Unfall verletzt wird und sie nicht mehr mit dem Meißel arbeiten kann, entdeckt sie für sich die Kettensäge. In Michelstadt im Odenwald sieht man sie seitdem in ihrem umgebauten Wintergarten arbeiten, immer mit Ohrenschützern gegen den Lärm gepolstert. »Die Kettensäge ist nicht mein Freund, die ist ein wütendes Tier.« Aber sie hat gelernt, dieses Tier zu zähmen. Zunächst werden aus Baumstämmen die Stelen gesägt, dann entstehen die Vogelköpfe. Aus Baumgabelungen sägt sie die Wächterinnen mit den Flügeln und der angedeuteten Vulva. Auch Flügel, genannt »Fiederungen«, macht sie, die an Vorbilder in der Kunstgeschichte anknüpfen und doch weit entfernt sind von jeder engelhaften Süße. Bei der Arbeit an den Flügeln entwickelte die Künstlerin eine Art der Flämmung, die seitdem ihr Markenzeichen ist. Die Holzstücke werden mit dem Flammenwerfer geschwärzt, dann mit einer Messingbürste geschrubbt und mit einer offenporigen Lasur gefärbt. So wie Kunsthistoriker ihre Vogelmotive in Verbindung setzten mit keltischen Sagen, wo Raben etwa als Sendboten der Toten gelten, so liegt auch bei dieser Brandmarkung der Gedanke an eine tiefere Symbolik nahe. Gabriele von Lutzau bringt den von ihr entwickelten Prozess des Werdens und Vergehens mit wenigen Worten auf den Punkt: »Die ersten Thujas habe ich von Gräbern bekommen, in den Wurzeln noch Erde, teilweise mit kleinen Knochenstücken darin. Da habe ich gedacht: Feuer reinigt. Der Brand steigt auf, ich bürste alles ab, die Asche fällt auf die Erde. Ich habe Himmel und Erde versöhnt und das Stück ist frei – gereinigt und gehärtet.«
Hat die Bildhauerei ihr geholfen, mit dem Trauma der Entführung fertigzuwerden? »Unbedingt. Ich setze dem Bösen Gutes entgegen. Der Angst setze ich meine Wächter entgegen. Dem Tod die Seelenvögel.« Versöhnen, verbinden, heilen: Das ist ihr Credo seit jenen Tagen vor über 40 Jahren, als ihr im Angesicht des Todes ein unbändiger Mut zuwuchs.
Auch der Vogelschwarm in der Katharinen-Kirche, der in seiner langstieligen Zerbrechlichkeit an die Figuren Giacomettis erinnert, trägt den Gedanken der Versöhnung in sich. Die Stelen entstanden in einem künstlerischen Rausch, der sich an dem Verbrechen auf der norwegischen Insel Utøya entzündete. 77 Kinder wurden dort im Sommer 2011 von einem rechtsextremen Attentäter hingerichtet, 77 Stelen hat die Künstlerin gesägt. »Drei Tage bevor im August 2012 das Urteil gesprochen wurde, war ich fertig.« Ein ganzer Wald für die Opfer.
Damit nicht genug: Die Überlebende aus dem Odenwald nimmt an einer Ausschreibung für ein Memorial für die Toten von Utøya teil, reist nach Norwegen, sucht das Gespräch mit Politikern und Entscheidern und bietet an, ihre Figuren auszustellen, entwirft auch noch eine Vision von einer ökumenischen Trauerfeier. Allein: Die Norweger sind nicht interessiert. Andere Künstler wären durch die Zurückweisung womöglich bedrückt. Diese nicht. Die holt tief aus ihrem Inneren jenen Humor, den sie selbst unverwüstlich nennt: »Ich will immer die Welt retten, aber die Welt lässt sich von mir nicht retten.« Könnte gut sein, dass das nicht ganz stimmt.
Denn egal, ob von Lutzau totes Holz verwandelt oder ob sie um die Welt reist, oft nach Israel, immer geht es in ihrem Leben auch darum, den Opfern einen Platz in der Erinnerung zu geben. »Wir haben keine Trauerkultur in diesem Land.« Das will sie ändern, auch dafür steht ihre Kunst.
Es gibt viele Arten, ein Trauma zu verarbeiten. Viele verkapseln den Schmerz. Andere flüchten sich in die Sucht. Der Engel von Mogadischu will hingucken, auch wenn es wehtut. »Ich gehe nicht raus in die Welt und suche das Elend. Aber wenn mir etwas vor die Füße fällt und mich zerreißt, dann packe ich an und versuche, auch mich zu heilen.« Zu den anderen Entführten unterhält sie sporadische Kontakte: »Wir sind und bleiben eine Schicksalsgemeinschaft.« Die Schönheitsköniginnen an Bord hatte sie seinerzeit zu ihrer Verlobung eingeladen. Jürgen Vietor, der in Hamburg lebende Copilot, der die angeschlagene Boeing nach der Ermordung des Piloten allein weiterfliegen musste, kam zur Eröffnung ihrer Hamburger Ausstellung. Von den anderen Überlebenden hört sie nur sehr gelegentlich, oft nichts Gutes. Ehen gingen auseinander, manch ehemalige Geisel verfiel dem Alkohol.
Kunst sei Dank
Heute würde man den Opfern eines solchen Horrors Therapeuten an die Seite stellen, es würden womöglich Entschädigungen gezahlt, 1977 war da nichts. Selbst die Idee, den Geretteten von staatlicher Seite einen Urlaub im Werte von 3000 DM zu spendieren, wurde vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt höchstpersönlich verworfen: »Es hieß damals, im Krieg hätten die Menschen noch ganz anderes durchstehen müssen«, erinnert sich von Lutzau. Dabei war auch der Deutsche Herbst, als die RAF die Bundesrepublik und ihre höchsten Vertreter zu Feinden erklärte, doch eine Art Guerillakrieg. Und wer einen Angriff überlebte, kämpft sein Leben lang mit den Folgen. Die Stewardess von Lutzau, die schon in der Maschine von einer großen inneren Stärke geleitet wurde, findet in ihrem zweiten Leben geradezu schlafwandlerisch ihren Weg. Sie überwindet das Trauma des Ausgeliefertseins in ihrer Bildhauerei, die genau genommen eine Selbstermächtigung ist. Sie ist die Frau, die mit Kettensäge und Flammenwerfer ihre inneren Ängste bannt. Nach der Befreiung träumte sie regelmäßig von explodierenden Flugzeugen. Dieser Alb ist verflogen, der Kunst sei Dank.
Wenige Jahre ist es her, da steigt sie in ein Flugzeug und fliegt nach Brasilien, wo die ausrangierte »Landshut« auf einem Dschungelfriedhof modert. Fast 30 Jahre war die Boeing 737 nach der Entführung noch weitergeflogen, zuletzt als Frachtflugzeug. Nun ist sie dem Verfall preisgegeben: In den Triebwerken nisten Vögel, die Reifen sind platt, Schlingpflanzen sind dabei, das marode Flugzeug zu überwuchern. Lutzau kriecht in den Rumpf und hat ein Flashback. Wieder diese Hitze, diesmal vom Dschungelklima, wieder die Bilder von damals, etwa das von der Jüdin auf dem Nebensitz, die vor Angst zitternd beginnt, das jüdische Totengebet zu singen. »Zeigen Sie mir doch mal Ihren Pass«, sagt die Stewardess Dillmann seinerzeit und sieht mit Schrecken die vielen Einreisestempel nach Israel. Spontan kommt ihr daraufhin die Idee zur Notlüge: »Behaupten Sie einfach, Ihr Bruder sei katholischer Priester in Jerusalem und Sie hätten ihn regelmäßig besucht.«
Sie konfrontiert sich mit dem Vergangenen – so auch in Brasilien, wo endlich eine Tür geöffnet wird und sie auf eine Tragfläche hinaustritt, um zu atmen. Ein und aus. Ein und aus. »Das war, als würde ich ein zweites Mal geboren.«
Und da ist sie auch schon wieder, die Mutter der Kompanie, die am liebsten selbst ein abgewracktes Flugzeug unter ihre Fittiche nehmen würde: »Schätzchen, wir holen dich nach Hause«, verspricht sie damals. »Aus dir machen sie keine Coladosen.« Im September 2017 ist es so weit: Im Bauch zweier Militärmaschinen wird die auseinandergelegte »Landshut« nach Friedrichshafen geflogen. Der damalige Außenminister Siegmar Gabriel hatte sich für die Rückholung eingesetzt, im Dornier-Museum Friedrichshafen soll irgendwann ein Museum des Deutschen Herbstes entstehen. Selbstverständlich steht Gabriele von Lutzau bei der Landung der Transportmaschine am Rollfeld und steigt später für die Fotos der Pressefotografen in die Ladeluke. Ehrensache. Auch diese Maschine, findet sie, muss gewürdigt werden. »Die ist geflogen, die hat durchgehalten, obwohl sie schon Sand im Triebwerk hatte. Nur ein bisschen Pech, und wir wären als Feuerball verglüht.«
Wenn man so will, ist die Künstlerin eine Handlungsreisende in Sachen Trauerkultur, die ihr generell zu kurz kommt. Die Täter stehen lange noch im Licht der Öffentlichkeit, aber wo bleiben die Opfer? Sie hat deren Leid hautnah erlebt, vor allem die Angst der jüdischen Fluggäste. Dass die palästinensischen Entführer die Passagiere nach Juden selektierten, wird sie nie vergessen. »Das war unmenschlich.«
Noch so eine Geschichte, die sie als Retterin und Verwandlerin zeigt: Vor dem KZ Buchenwald, am Rande der Strecke, wo die Todgeweihten sich auf ihrem Todesmarsch dahinschleppten, soll eine Buche gefällt werden. Lutzau erfährt über soziale Netzwerke davon, bekundet Interesse an dem Baum und lässt sich das Holz in ihren Heimatort nach Michelstadt liefern. Sägt einen ihrer Wächter daraus, jene Figuren mit den ausgebreiteten Flügeln. Diese Skulptur steht heute im Archiv von Yad Vashem in Jerusalem, dem großen Erinnerungszentrum an den Holocaust. In der pulsierenden Stadt Tel Aviv würde sie gern ausstellen – »die haben ein modernes Museum, da würden meine Arbeiten gut hineinpassen«.
Mittlerweile sind viele Filme und Dokumentationen über die Entführung gedreht worden. Für das Dokudrama »Todesspiel« von Heinrich Breloer, 1997 produziert, wird sie als Beraterin engagiert. Eine Szene allerdings muss der Regisseur ihr ausreden, nämlich den Heiratsantrag ihres Mannes Rüdiger von Lutzau noch auf dem Rollfeld von Mogadischu. Er war seiner Freundin hinterhergeflogen, er nimmt sie nach der Befreiung als Erster in die Arme. Ein Moment, scheinbar sentimental wie aus einem Kitschroman. »Gabi, das geht nicht, das glaubt uns keiner«, unkt der Regisseur. Gabriele von Lutzau lacht. »Manchmal ist das Leben eben nicht Wim Wenders, sondern Hedwig Courths-Mahler.« Meint: In all dem Schrecken gibt es immer Momente, in denen einfach nur das Gefühl durchbricht, die Dankbarkeit. Als Filmszene mag das überzuckert wirken, auf dem Rollfeld in Afrika war es echt.
Für ihre seelische Widerstandskraft hat sie ein Bild gefunden, das sie so beschreibt: »In mir ist eine riesige rote Sonne.« In ihr ist aber auch ein harter Kern, eine große Unversöhnlichkeit. In einem Dokumentarfilm wird eine ehemalige Passagierin der »Landshut« begleitet, wie sie die einzig überlebende Terroristin in deren jetzigem Wohnort Oslo besucht. Souheila Andrawes, von von Lutzau als besonders grausam beschrieben. Bei der Befreiungsaktion wurde die Palästinenserin schwer verletzt, später verurteilt und vorzeitig freigelassen. In dem Film humpelt Andrawes an Krücken, vergießt Tränen. Irgendwann nehmen sich die ehemalige Geisel und die scheinbar geläuterte Terroristin in den Arm. Eine beklemmende Begegnung, weil die Echtheit dieser für die Kameras gestellten Versöhnung zweifelhaft erscheint.
Täter-Opfer-Ausgleich: Wäre das auch eine Möglichkeit für sie? Die Antwort kommt schnell und sehr entschieden. »Nein. Manche Dinge verzeihe ich nicht. So gesehen bin ich kein guter Christ.«