Eine Frau wird vermisst. Im Obergeschoss ihres Hauses in Bad Soden entdeckt die Polizei den dementen Vater, verwirrt und dehydriert. Und in der Küche Spuren eines Blutbads. Die Ermittlungen führen Pia Sander und Oliver von Bodenstein zum renommierten Frankfurter Literaturverlag Winterscheid, wo die Vermisste Programmleiterin war. Ihr wurde nach über dreißig Jahren gekündigt, woraufhin sie einen ihrer Autoren wegen Plagiats ans Messer lieferte – ein Skandal und vielleicht ein Mordmotiv?
Als die Leiche der Frau gefunden wird und ein weiterer Mord geschieht, stoßen Pia und Bodenstein auf ein gut gehütetes Geheimnis. Jedes der Opfer wusste davon. Es war ihr Todesurteil. Wer muss als nächstes sterben?
Kriminalroman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2637-5
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Das K11 in Hofheim:
Oliver von Bodenstein, Erster Kriminalhauptkommissar, Leiter des K11
Pia Sander, ehem. Kirchhoff, Kriminalhauptkommissarin, K11
Dr. Nicola Engel, Kriminaldirektorin, Leiterin der RKI Hofheim
Kai Ostermann, Kriminalhauptkommissar, K11
Kathrin Fachinger, Kriminaloberkommissarin, K11
Cem Altunay, Kriminalhauptkommissar, K11
Tariq Omari, Kriminaloberkommissar, K11
Christian Kröger, Kriminalhauptkommissar, Erkennungsdienst
Prof. Dr. Henning Kirchhoff, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt
Dr. Frederick Lemmer, Rechtsmediziner
Ronnie Böhme, Sektionshelfer
Personen in alphabetischer Reihenfolge:
Greta Albrecht, Bodensteins Stieftochter
Karoline Albrecht, Bodensteins Ehefrau
Waldemar Bär, Hausmeister im Winterscheid-Verlag
Cosima von Bodenstein, Bodensteins Ex-Frau
Marie-Louise von Bodenstein, seine Schwägerin
Quentin von Bodenstein, sein Bruder
Sophia von Bodenstein, seine jüngste Tochter
Julia Bremora, Lektorin von Henning Kirchhoff beim Winterscheid-Verlag
Anja Dellamura, Artdirektorin beim Winterscheid-Verlag
Paula Domski, Kulturjournalistin und Ehefrau von Alexander Roth
Hellmuth Englisch, preisgekrönter Schriftsteller
Stefan Fink, Ehemann von Dorothea Winterscheid-Fink und Inhaber der Druckerei Fink
Maria Hauschild, Literaturagentin von Henning Kirchhoff
Josefin Lintner, Eigentümerin der Buchhandlung House of Books im Main-Taunus-Zentrum
Josef Moosbrugger, Literaturagent von Severin Velten
Alexander Roth, Programmleiter Literatur beim Winterscheid-Verlag
Severin Velten, Bestsellerautor
Heike Wersch, ehemalige Programmleiterin des Winterscheid-Verlages und Lektorin von Severin Velten
Carl Winterscheid, Verleger des Winterscheid-Verlages
Dorothea Winterscheid-Fink, Carls Cousine und Vertriebsleiterin des Winterscheid-Verlages
Henri Winterscheid, Dorotheas Vater und ehemaliger Verleger des Winterscheid-Verlages
Margarethe Winterscheid, seine Ehefrau und Dorotheas Mutter
Île de Noirmoutier, 18. Juli 1983
Oh, mein Gott, ich bin verliebt! Verliebt in diese zauberhafte Insel! Es ist hier wirklich genau so, wie John es mir beschrieben hat – einfach magisch! Eine karge Schönheit, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt, dieses flache Stück Land unter einem endlosen Himmel, der seit sechs Tagen wolkenlos blau ist. Allein dieses Licht ist unbeschreiblich. Nicht umsonst wird Noirmoutier auch »l’Île de Lumière« genannt, die Insel des Lichts. Ich liebe die weiß getünchten Häuser mit den hellblauen Fensterläden und den orangefarbenen Dächern, die so hübsche Namen haben wie »Toi et moi«, »Stella Maris«, »Nid d’amour« oder »Luciole«, die schmalen Gassen mit den blühenden Malven, den betörenden Duft der Pinien in der Mittagshitze und – das Meer! Es mag seltsam klingen, aber diese Insel berührt etwas tief in meinem Innern, fast so, als sei ich in einem anderen Leben schon einmal hier gewesen, und ich wünschte, ich könnte für immer bleiben. Ich liebe die Salzgärten mit den glitzernden Salzwasserbecken, in denen das Fleur de Sel gewonnen wird, das man an jeder Ecke kaufen kann.
Das Haus ist der pure Wahnsinn! Zwölf Zimmer, drei Terrassen, und aus dem oberen Stockwerk hat man einen Blick über die Dünen und den weißen Sandstrand aufs Meer! Es gibt auf dem Grundstück noch ein Häuschen, dort wohnen die Haushälterin Finette und ihr Mann, die sich hier um alles kümmern. Es ist ein absoluter Traum, und diese privilegierte, verwöhnte Bande weiß das alles überhaupt nicht zu schätzen! Für die ist das normal. Wenn ich nur höre, wo sie schon überall im Urlaub waren: Bahamas, Sylt, Kalifornien, Mallorca, Portugal! Ich bin das erste Mal überhaupt in meinem Leben am Meer! Aber das sag ich keinem. Müssen die nicht wissen.
Heute haben Götz, Stefan, Mia und ich eine Tour mit dem Méhari zum einzigen Wald der Insel gemacht, dem Bois de la Chaise. Dort gibt es einen Strand, an dem eine Reihe weißer Umkleidehäuschen aus dem 19. Jahrhundert steht, und ich habe mir vorgestellt, wie sich dort früher die feinen Damen mit Sonnenhüten und Reifröcken umgezogen haben. Es gibt wunderschöne Villen aus der Belle Époque, die versteckt an kleinen felsigen Buchten stehen, und auf einem langen Holzsteg standen Angler und hielten geduldig ihre Angeln ins Meer. Anschließend waren wir noch in der Markthalle im Hauptort Noirmoutier-en-l’Île, und spätestens da wußte ich, daß ich wirklich im Paradies bin. Aber wie in jedem Paradies fehlen auch hier die Schlangen nicht. Hätte ich geahnt, wie gräßlich und egoistisch sie sich alle benehmen, wäre ich erst später mit John hergefahren. Das Versprechen, das ich Götz gegeben habe, war leichtfertig, das merke ich von Tag zu Tag mehr. Auch wenn Mia ihre Rolle gut spielt, so müssen die anderen das Theater doch durchschauen! Ich kapiere nicht, warum er Heike, Alex, Josi und Mia überhaupt eingeladen hat. Vielleicht ist es ja auch wegen seiner Eltern. Sie sind wohl schon den vierten oder fünften Sommer hier, es ist mittlerweile eine Art Tradition. Möglicherweise liebt Götz aber auch die Macht, die er über sie hat, und genießt es insgeheim, sie herumzukommandieren und zu schikanieren, auch, wenn er das abstreitet. Es ist unerträglich, wie sie ihn umschwärmen und sich gegenseitig übertrumpfen wollen, nur um gut vor ihm dazustehen. Für ihn ist das wohl alles nur ein Spiel, aber ich halte es für gefährlich, weil er nicht sehen will, wie ernst sie das nehmen, worüber er sich lustig macht. Das ist eine echt schräge Clique. Ich habe immer mehr den Eindruck, daß sie krampfhaft an etwas festhalten, was es nicht mehr gibt. Noch drei Tage, bis John da ist!!!! Ich zähle die Stunden …
P. S.: Heute gibt’s frische Austern, die wir vom Markt mitgebracht haben. Ich wünschte, dieser Sommer ginge nie zu Ende. Trotz der blöden Schlangen.
Montag, 3. September 2018
Seit zehn Tagen, seit sie seine Karriere, ja, sein ganzes Leben zerstört hatte, antwortete sie nicht mehr auf seine Mails und ging auch nicht ans Telefon. Er hatte sich vor dem Sturm der Empörung in seiner Wohnung verkrochen, wie eine ängstliche Maus in ihrem Mauseloch, während draußen Reporter, Fernsehteams und enttäuschte Fans darauf lauerten, dass er den Kopf aus der Tür streckte, um über ihn herzufallen. Zugegeben, er hatte einen großen Fehler gemacht. Ja, er hatte betrogen. Aber sie war es gewesen, die ihn dazu gedrängt, die ihn geradezu genötigt hatte, diesen Betrug zu begehen, und er hatte ihrem Drängen nachgegeben, wider besseres Wissen, in erster Linie aus Eitelkeit und vielleicht auch, weil er das Geld brauchte. Sie hatte ihm versichert, dass es niemand bemerken würde – wer kannte schon das unbedeutende Büchlein eines längst verstorbenen chilenischen Autors? –, aber jetzt, nachdem sie ihn ohne Vorwarnung der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen hatte, ignorierte sie ihn, ihren erfolgreichsten Autor, ihr ›Geschöpf‹, als das sie ihn so gerne bezeichnet hatte. Seine Angst und sein Selbstmitleid hatten sich allmählich in Verärgerung verwandelt, dann war der Zorn gekommen und schließlich ein Hass, wie er ihn noch nie zuvor in seinem Leben empfunden hatte. Er war ruiniert. Sein guter Name beschmutzt. Und er hatte keinen blassen Schimmer, warum sie ihn verraten hatte. Letzte Nacht hatte er beschlossen, sie zur Rede zu stellen. Früher wäre er mit der S-Bahn gefahren, denn er genoss es insgeheim, wenn man ihn erkannte und er so tat, als bemerke er nicht, wie die Leute aufgeregt kichernd die Köpfe zusammensteckten und ihm Blicke zuwarfen. Auch, wenn er in Interviews Bescheidenheit heuchelte und behauptete, diese Aufmerksamkeit sei ihm unangenehm, war er geradezu süchtig danach, wenn ihn Frauen mit glänzenden Augen anhimmelten und schüchtern lächelnd um ein Selfie oder ein Autogramm baten. Allerdings war es jetzt, nachdem sein Betrug aufgeflogen war, eindeutig klüger, solche Begegnungen zu vermeiden. Die Reporter und seine Fans waren des Wartens müde geworden, und so hatte er unbehelligt das Haus verlassen und in sein Auto steigen können. Nun, eine halbe Stunde später, stand er vor dem rot lackierten schmiedeeisernen Tor, und seine Handflächen wurden feucht, als er ihren Namen auf dem verwitterten Klingelschild neben dem Briefkasten las. Ihm sank der Mut, als ihm bewusst wurde, dass das Gespräch, das er seit Tagen im Geiste wieder und wieder geführt hatte, nun kurz bevorstand. Versteckt hinter Rosen- und Rhododendronbüschen, umstanden von mehreren hässlichen Mammutbäumen, lag das Haus. Vorne, zur Straße hin, gab es eine Doppelgarage mit modernem Kunststofftor, aber das Haus selbst mochte aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen. Weiße Sprossenfenster mit Fensterläden in einem ausgebleichten Rotton, ein zierlicher Balkon über dem mittleren Fenster im ersten Stock und zwei bogenförmige Fenster in der Mansarde. Eigentlich ein hübsches Haus, doch neben den gepflegten Häusern in der Nachbarschaft wirkte es ungeliebt und irgendwie schäbig, genau wie seine Eigentümerin, die er bis vor Kurzem für einen Großstadtmenschen gehalten hatte. Wenn sie manchmal bis tief in die Nacht miteinander telefonierten, hatte er sie sich in der eleganten Gründerzeitvilla in Frankfurt am Grüneburgpark vorgestellt, in der er schon häufig zu Gast gewesen war. Seltsam, dass man über einen Menschen, mit dem man zwölf Jahre lang so eng zusammengearbeitet hatte, derart wenig wissen konnte. Nie in diesen zwölf Jahren war er in ihrem Haus gewesen. Nichts wusste er über sie und ihr Leben, aber sie wusste alles von ihm, kannte seine Ängste und Fantasien, seine Vorlieben und Schwächen. Sie war es gewesen, die die Qualität seines ersten Manuskripts bemerkt hatte, für das er von mehr als dreißig Verlagen nur Absagen erhalten hatte. Sie hatte ihn entdeckt und zu einem Winterscheid-Autor gemacht, eine Ehre, die nur den wenigsten und besten Schriftstellern zuteilwurde, und zweifellos hatte sie sich in all diesen Jahren zu seiner wichtigsten Bezugsperson entwickelt, nachdem seine Ehe in die Brüche gegangen war. Häufig hatten sie über seine Figuren diskutiert, fast so, als ob es sich bei ihnen um reale Menschen handeln würde; gemeinsam hatten sie an seinen Texten, an einzelnen Sätzen und Formulierungen gefeilt, bis sie zufrieden waren. Sie hatte ihn angespornt und ermutigt, wenn er mit dem Schreiben nicht weiterkam und immer wieder alles hinwerfen wollte. Sie war es gewesen, die ihn vor nunmehr zwölf Jahren angerufen hatte, um ihm die unglaubliche Mitteilung zu machen, dass sein Debütroman Federzart auf Anhieb in die Bestsellerliste einsteigen würde. Er konnte sich daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen, wie ungläubig und zugleich überglücklich er in seiner winzigen Küche an dem von Wasserringen und Brandlöchern übersäten Tisch gesessen hatte, an dem Federzart entstanden war.
Viel wichtiger als Verkaufszahlen war ihm die Anerkennung gewesen, die sein Buch endlich bekommen hatte. Diesen einen Anruf von ihr würde er nie vergessen, obwohl sie ihm in den darauffolgenden Jahren Dutzende wunderbarer Nachrichten überbracht hatte. Platz 1 der Bestsellerliste. Deutscher Buchpreis. Büchner-Preis. Filmoptionen. Lizenzverkäufe in vierundzwanzig Länder. Begeisterte Kritiken in den Feuilletons. Er hatte unzählige Lesungen absolviert, zunächst in kleinen Buchhandlungen, später in den größten Sälen. Interviews. Talkshows. Auf der Buchmesse in Frankfurt hatte ein überlebensgroßes Plakat mit seinem Konterfei den Stand seines Verlages geziert. Er war zum Star der deutschen Literaturszene avanciert. Innerhalb von zehn Jahren hatte er sich sieben Bücher mit einer Leichtigkeit von der Seele geschrieben, die ihn hatte glauben lassen, es würde immer so weitergehen. Doch nach Links vom Fluss war es vorbei gewesen. Plötzlich hatte völlige Leere in seinem Kopf und seiner Seele geherrscht. Mit wachsender Verzweiflung hatte er monatelang den blinkenden Cursor auf dem weißen Bildschirm angestarrt, hatte zehn, fünfzehn holprige Anfänge geschrieben, nur um sich schließlich eingestehen zu müssen, dass einfach nichts mehr in ihm war, was er erzählen wollte. Er hatte nicht die geringste Idee gehabt, worüber er noch schreiben sollte.
Zunächst waren alle geduldig gewesen. Niemand hatte ihn gedrängt, denn schließlich produzierte kein ernst zu nehmender Literat Bücher am Fließband. Nach wie vor hatte ihm sein Verleger zum Geburtstag und zu Weihnachten Champagner geschickt, man hatte ihn weiterhin zu den legendären Kaminabenden in die Verlegervilla eingeladen und er hatte lukrative Lesereisen gemacht. Aber nachts hatte er nicht mehr schlafen können. Der Traum vom Schriftstellerleben schien ausgeträumt, und als er sah, wie beängstigend schnell sich sein Bankkonto leerte und wie aus Bestsellern Backlisttitel wurden – neulich hatte er sogar zu seinem Entsetzen Exemplare von Federzart und Kopf oder Zahl auf dem Wühltisch im Supermarkt entdeckt –, dann war ihm klar gewesen, dass er sich wohl bald wieder einen Brotjob suchen musste, eine Vorstellung, die ihm Panikattacken bescherte. Was für eine Niederlage! Welch ein Abstieg!
Aber dank der Frau, die in dem Haus mit den roten Fensterläden und den Mammutbäumen im Garten wohnte, war es so schlimm nicht gekommen, denn sie hatte eine Lösung für sein Dilemma gewusst. Sie hatte diese längst vergessene Novelle ausgegraben, und er hatte daraus Der einbeinige Kranich gemacht. Zuerst hatte er sich nicht wohlgefühlt dabei, aber schnell hatte er gemerkt, dass die Geschichte seine unverwechselbare Handschrift trug, auch wenn er sich von dem Werk eines anderen Autors hatte inspirieren lassen. Der Roman war zur Buchmesse in Leipzig im März erschienen und von null auf Platz eins der Bestsellerliste geschossen. Kritiker und Leser liebten ihn gleichermaßen, der Rest des Garantiehonorars war geflossen, die Panikattacken hatten aufgehört. Er hatte sich eine Atempause verschafft, und für ein paar Jahre schien sein Leben als einer der meistgelesenen deutschen Literaten gesichert zu sein. Der Verlag war zufrieden, sein Agent war glücklich, die Buchhändler, Kritiker und Leser freuten sich. Und dann wie aus heiterem Himmel … das!
Hinter einem Fenster im Obergeschoss des Hauses nahm er eine Bewegung wahr. Sie war also zu Hause, die Frau, die er bewundert, ja, geliebt hatte und die er jetzt aus tiefstem Herzen hasste. Er atmete tief durch, nahm all seinen Mut zusammen und drückte auf die Klingel. Nichts geschah. Im Rhododendron zankten sich zwei Amseln. Hin und wieder fuhr unten auf der Hauptstraße ein Auto vorbei. Aus den umliegenden Gärten klangen Stimmen zu ihm herüber, manchmal brandete Gelächter auf und irgendwo grillte offenbar jemand. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spazierte ein Mann mit einem Hund vorbei, aber er beachtete ihn nicht.
Zaudernd stand er vor dem Zaun, spielte kurz mit dem Gedanken, aufzugeben. Aber nein! Er durfte jetzt nicht einfach den Schwanz einziehen und unverrichteter Dinge zurückfahren, schließlich ging es um seine Existenz, seinen guten Ruf, seine Glaubwürdigkeit! Ihretwegen lag sein Leben in Schutt und Asche, und er wollte von ihr hören, warum sie ihn ohne jede Vorwarnung als Plagiator enttarnt und damit alles, was sie gemeinsam erreicht hatten, zerstört hatte. Mit zitternden Knien stieg er an einer Stelle, die von der Straße aus nicht zu sehen war, über den Zaun und ging entschlossen über den vermoosten Rasen auf das Haus zu.