Inhalt

Wie es begann

Schmerzliche Verluste

Was ist ein Flietscherl?

Kriegszeit

Es weht ein anderer Wind

Meine neue Familie

Mein erster Almsommer

Stallmagd

Almleben

Hohes Glück – tiefes Leid

Ende des Almlebens

Ein neuer Lebensabschnitt

Nachlese von Roswitha Gruber

Wie es begann

Seit wir in Reit im Winkl wohnen, unternehmen mein Mann und ich immer wieder mal größere Wanderungen in den Bergen, natürlich nur im Sommer. Dabei trifft man auf die eine oder andere bewirtschaftete Hütte, wo man seinen Durst und seinen Hunger stillen kann. Dazwischen sieht man aber auch aufgegebene Senn-Hütten, vor denen man auf der Hausbank in der Mittagssonne sitzen kann und zudem eine wunderschöne Aussicht hat.

Nähern wir uns einer solchen Hütte, vergewissern wir uns vorher, ob sie wirklich verlassen ist. Erst dann setzen wir uns auf die Bank und ruhen uns aus, genießen die Sonne und die Aussicht, ehe wir unsere Wanderung fortsetzen.

Im Sommer 2014 nun kamen wir an eine Hütte, auf deren Bank wir schon öfters Rast gemacht hatten. Schon von Weitem sahen wir, dass »unser« Platz besetzt war. Beim Näherkommen erkannten wir, dass es eine alte Frau war, die verträumt in die Berge blickte. Sie schien uns nicht zu bemerken. Wir wollten auf unsere Rast verzichten und diskret an der Hütte vorbeigehen. In dem Moment erblickte sie uns. Wir grüßten freundlich und wollten weiterwandern.

Da sprach sie uns an: »Lauft’s doch net weg. Auf dem Bankerl ist Platz für uns alle.«

Schon rückte sie ein wenig zur Seite. Das Angebot nahmen wir gerne an. Neugierig wie mein Mann ist, fragte er sie zunächst nach ihrem Alter. »Ja, was meinst, wie alt darf ich sein?«, kokettierte sie ein wenig. Ab 1000 Meter Meereshöhe duzt man jeden, ob man ihn kennt oder nicht.

»Also, achtzig darfst schon sein«, meinte er. Sie lachte: »Da hab ich ein bisserl mehr auf dem Buckel. 88 bin ich.«

»Donnerwetter, dafür hast dich aber gut gehalten. Du bist gewiss die Besitzerin der Alm?«

»Naa, naa, die Besitzerin bin i net«, gab sie bescheiden zu.

»Dann bist du auch eine Bergwanderin, die hier eine Rast eingelegt hat?«, setzte mein Mann das Gespräch fort.

»Wie man’s nimmt. Eine Bergwanderin bin ich schon. Aber ich gehe immer denselben Weg. Jedes Mal treibt es mich zu dieser Hütt’n.«

»Wieso das?«

»Weil ich zu der Alm eine ganz besondere Beziehung habe.«

Diese Aussage machte uns noch neugieriger. »In welcher Beziehung stehst du denn zu der Hütte?«, wollte mein Mann wissen.

»Über dreißig Jahre lang war ich Sennerin hier heroben.«

Nun schaltete ich mich in das Gespräch ein: »Sennerin? Würdest du mir ein bisschen davon erzählen?«

»Freilich, wenn es dich interessiert.«

»Das interessiert mich sogar sehr.«

Schon begann sie zu erzählen, zunächst über ihre Kindheit. Das fand ich so spannend, dass ich sagte: »Darüber könnte man glatt ein Buch schreiben.« Für meine Bücher bin ich nämlich immer auf der Suche nach guten Geschichten.

Sie lachte: »Ein Buch? Über mich? Eine so interessante Person bin ich doch gar nicht.«

»Sag das nicht. Das, was du mir bis jetzt erzählt hast, ist schon ungewöhnlich, und ich bin mir sicher, da kommt noch mehr, das meine Leser interessieren wird.«

»Ja, wenn du meinst, an mir soll es nicht liegen.«

Nun lässt sich ein ganzes langes Menschenleben nicht in einer halben Stunde auf einer Hüttenbank im Sonnenschein erzählen. Außerdem begann die Sonne langsam von uns wegzuwandern. Also fragte ich sie, ob ich sie daheim besuchen dürfe, und bat um ihre Adresse. Diese gab sie mir bereitwillig. »Mein Name ist Franziska, aber alle Welt nennt mich Fanni.«

Im folgenden Winter, als der Schnee in den Bergen unsere Wanderfreude bremste, besuchte ich Fanni immer wieder mal in ihrem kleinen Dachstübchen. Was sie in ihrer lebhaften Art erzählte, nahm ich mit meinem Kassetten-Rekorder auf.

Nicht nur ich hatte einen Gewinn von ihrem Bericht, sondern sie selbst auch. Nach der letzten »Sitzung« seufzte sie: »Schade, dass wir schon fertig sind. Es hat mich richtig gefreut, dass ich mein Leben mal jemandem erzählen durfte.«

Das liegt alles schon einige Jahre zurück. Nun endlich bin ich dazu gekommen, aus Fannis Erzählungen ein Buch zu schreiben. Beim Lesen ihrer Lebensgeschichte wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung.

Roswitha Gruber

Nun lasse ich die ehemalige Sennerin zu Wort kommen.

Schmerzliche Verluste

Wenn ich ganz weit zurückdenke, sehe ich zwei kleine Mädchen, die auf Omas Bauernhof vor dem Haus mit der Katze spielen. Auf einmal geht die Haustür auf. Unsere Mutter tritt heraus in ihrem dunklen Mantel mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf. In einer Hand trägt sie eine Reisetasche, in der anderen ihre Handtasche. Wir laufen auf sie zu. »Mama, wo willst du hin?«, frage ich verwundert.

»Mama, willst du hin?«, echot meine kleine Schwester.

Mama antwortet: »Ich fahre in die Stadt.«

»Wann kommst du wieder?«, will ich wissen.

»Tommst du wieder?«, hängt meine kleine Schwester ihre Frage an.

»Das kann ich nicht sagen.«

Obwohl ich keine Ahnung habe, was eine Stadt ist, bettele ich: »Nimm uns mit.«

»Das geht nicht.«

Doch so schnell lasse ich mich nicht abwimmeln: »Warum nicht?«

»Das kann ich euch nicht erklären, das versteht ihr doch nicht.«

Ungerührt schreitet sie davon. Da sie die Hände nicht frei hat, hängen wir uns an ihre Taschen. Sie schüttelt uns ab wie lästige Insekten und setzt ihren Weg fort. Als wir ihr noch ein Stück nachlaufen, schimpft sie: »Was fällt euch ein? Kehrt sofort um! In der Stadt kann ich euch nicht brauchen. Seid brav und macht der Oma keine Scherereien.«

Wie geprügelte Hunde kehrten wir zum Haus zurück. Wir fassten uns an den Händen und liefen in die Küche. Die Oma schloss uns in die Arme. Schluchzend fragte ich: »Warum ist die Mama weggegangen?«

»Sie will nach Rosenheim.«

»Was macht sie da?«

»Sie will dort arbeiten.«

»Arbeiten kann sie auch hier.«

»Das stimmt. Aber sie will Geld verdienen. Sie will ein besseres Leben haben.«

Darunter konnte ich mir zwar nichts vorstellen, doch ich wiederholte den Satz meiner Großmutter: »Ich will auch ein besseres Leben haben.«

»Auch besseres Leben haben«, kam es von Klein-Anni.

»Ah geh, ihr Tschaperl! Was wollt ihr denn? Ihr habt doch ein gutes Leben. Ihr dürft bei der Oma sein und es fehlt euch an nichts.«

Dieses für uns Kinder erschütternde Ereignis hatte sich im Mai 1930 abgespielt. Ich erinnere mich deshalb so genau an den Zeitraum, weil wir kurz zuvor meinen vierten Geburtstag gefeiert hatten, nämlich am 30. April, und einige Tage später, am 4. Mai, war meine Schwester Anni drei geworden.

Minuten später wurden wir von unserer Trauer abgelenkt. Im Treppenhaus hörten wir nämlich ein Poltern. Das mussten Vroni und Toni sein, die fünfjährigen Zwillinge von Tante Heidi, die mit ihrer Familie im ersten Stock wohnte. Anni und ich waren Frühaufsteher, die Zwillinge dagegen waren Langschläfer. Wir gesellten uns zu ihnen und marschierten gemeinsam Richtung Wald, der nur zehn Minuten von unserem Hof entfernt lag.

Der Schnee war weitgehend verschwunden, nur einige Schneehaufen erinnerten daran, dass der Winter noch nicht wirklich vorbei war. Die hohen Berge rundum trugen noch ihre dicken weißen Hauben. Das war gut, dass sie nur ganz langsam abschmolzen, versorgte doch einer von ihnen unseren Brunnen, der mitten im Hof stand, das ganze Jahr über mit Wasser. Das hatte mir der Opa erklärt. Dieser Brunnen war ein Ziehbrunnen. Mit einer Winde, auf der ein dickes, langes Seil aufgerollt war, ließ man einen leeren Eimer hinab und zog ihn voll wieder herauf. Neugierig wie Kinder sind, interessierte uns dieser Vorgang sehr. Deshalb deckte man den Brunnen nach jedem Wasserschöpfen sorgfältig mit zwei schweren halbrunden Brettern ab, damit nur ja keines von uns hineinfiel.

An diesem Tag schien die Sonne warm vom Himmel, deshalb gingen wir unserer Lieblingsbeschäftigung nach. Im Wald sammelten wir kleine Stöckchen, die wir am Wegrand ordentlich aufeinanderlegten. Dann suchten wir Tannenzapfen. Toni stopfte seine Hosentaschen randvoll, und wir Mädchen gaben sie in unsere Schürzen, bis sie fast überquollen. Mit einer Hand musste man die Schürze hochhalten, mit der anderen nahm man so viele Stöckchen auf, wie die kleinen Hände umfassen konnten. Toni, der beide Hände frei hatte, konnte wesentlich mehr Stöckchen aufnehmen als wir. Dafür befanden sich in unseren Schürzen vermutlich mehr Zapfen. Mit unserer Beute kehrten wir glücklich auf den Hof zurück, wo unser eigentliches Spiel begann. Ich kann es nicht als Lieblingsspiel bezeichnen, denn es waren ja die einzigen Spielsachen, die wir hatten. Wir beschäftigten uns mit Hingabe an jedem sonnigen Tag damit und spielten »Bauernhof«. Manchmal bauten wir alle zusammen einen großen Hof aus unseren Stöckchen, mit vielen Ställen und vielen Tieren. Manchmal legten zwei von uns gemeinsam einen Hof an. Meist baute aber jeder seinen eigenen Hof. Jeder Bauernhof, ob groß oder klein, hatte immer eine ähnliche Einteilung: Es gab den großen Kuhstall, den kleineren Schweinestall und einen Schafstall. Der Hühnerstall war noch kleiner und der Rossstall war der kleinste. Denn darin stand nur ein Ross, genau wie auf dem Hof der Großeltern.

Waren alle Ställe fertig, wurden die Tiere hineingesetzt. Die großen Zapfen bildeten unsere Kühe und der größte das Pferd. Kleinere Zapfen waren die Schweine und die Schafe. Als Hühner nahmen wir kleine Steine. Danach war unsere wichtigste Beschäftigung, alle Tiere hinaus auf die Wiese zu lassen, damit sie fressen konnten. Waren sie satt, brachten wir sie wieder in die Ställe. Meist waren wir so vertieft in unser Spiel, dass wir rundum alles vergaßen, bis wir die Freudenschreie der beiden Großen bei ihrer Heimkehr vernahmen. Das waren Gregor, sieben Jahre alt, und Karl, sechs Jahre alt, die Brüder der Zwillinge, die bereits die Schule besuchten. Dann drängten wir alle zum Mittagessen ins Haus. Anni und ich aßen bei unserer Oma im Erdgeschoss, die vier Kinder der Tante dagegen stürmten nach oben und aßen mit ihren Eltern, die sie Mami und Dati nannten. Deshalb nannten Anni und ich sie meist auch so. In Wirklichkeit war Heidi unsere Tante, eine Schwester unserer Mutter. Ihr Mann war unser Onkel Sepp.

Nach dem Mittagessen spielten wir Kleinen weiterhin Bauernhof, und wenn die großen Brüder mit ihren Hausaufgaben fertig waren, spielten sie mit. Bald wurde ihnen das zu langweilig und sie spielten, was sie inzwischen auf dem Pausenhof gelernt hatten: Fangermandl oder Blindekuh. Dabei durften wir mitspielen.

Am Abend brachte uns die Oma einen Korb heraus, in den wir unsere Ställe und Tiere legten, bis auf die Hühner, die ja kleine Steine waren. Die Zapfen und Stöckchen bildeten für unsere Großmutter ein willkommenes Material zum Feuermachen. Es tat uns nicht weh, dass wir alles abbauen mussten. Am nächsten Tag zogen wir ja wieder los, um neues »Spielzeug« zu suchen. Dieses Suchen und Sammeln war ein wichtiger Bestandteil unseres Spiels und machte riesigen Spaß.

Ende Mai waren wir nach dem Mittagessen wieder einmal in unser Bauernhofspiel vertieft – jeder hatte seinen eigenen Hof –, während die Großen noch ihre Hausaufgaben erledigten. Deshalb bemerkten wir nicht gleich, dass Toni nicht mehr bei uns war. Erst als die Großen kamen und Gregor den Vorschlag machte, wir könnten Fangermandl spielen, fiel uns auf, dass Toni fehlte.

Wir riefen laut nach ihm und suchten überall. Aber es war keine Spur von ihm zu entdecken. »Vielleicht ist er wieder in den Wald gegangen, um mehr Kühe zu holen«, vermutete seine Zwillingsschwester. Bevor wir aber in den Wald zogen, um nach ihm zu suchen, fragten wir bei der Oma und bei seinen Eltern nach. Vielleicht hatte er sich ja dahin zurückgezogen. Unsere Nachfrage stürzte Mami und Dati in tiefe Besorgnis. Mit ihren beiden großen Buben zogen sie los, um nach Toni zu suchen. Uns drei Mädchen verdonnerten sie dazu, bei der Oma zu bleiben und den Hof nicht zu verlassen. Mit dem Fangenspiel wurde es nun nichts mehr. Also spielten wir mit unseren Bauernhöfen weiter, wenn auch lustlos. Unsere Gedanken weilten bei Toni. Obwohl wir noch so klein waren, machten wir uns Sorgen. Wo mochte er nur sein? Hätte er nur Zapfen suchen wollen, würde er längst zurück sein. Oma und Opa wirkten auch sehr besorgt und riefen uns schließlich ins Haus. Da schnappte ich von Opa auf: »Er wird doch nicht zum Bach gelaufen sein.«

»Mein Gott, ja«, antwortete die Oma. »Das ist ihm zuzutrauen.«

Den Bach kannten wir alle sehr gut. Von unserem Haus aus ging man etwa 15 Minuten, bis man ihn erreichte. Im Hochsommer war er ein schmales Rinnsal, das lustig vor sich hin plätscherte. Wenn es uns zu heiß wurde, streckten wir die Zehen ins Wasser, barfuß war man im Sommer ja eh. Blitzschnell zogen wir sie wieder heraus, denn der Bach war eiskalt. Er wurde schließlich vom Schneewasser gespeist. Etwas mutiger geworden, streckten wir dann einen ganzen Fuß hinein und wateten schließlich mit beiden Füßen ins Wasser, das uns bis zur halben Wadenhöhe reichte.

Im Sommer war der Bach, wie gesagt, nur ein harmloses Bächlein. Zur Zeit der Frühjahrsschneeschmelze aber verwandelte er sich in ein reißendes Ungeheuer.

Nach einigen Stunden kam die Mami mit ihren großen Buben zurück. Sie alle wirkten völlig verstört. Der Dati habe sich auf den Weg ins Dorf gemacht, erklärte Heidi ihren Eltern, um den Arzt, die Polizei und den Totengräber zu bestellen.

Wir waren zwar noch klein, dennoch begriffen wir, was das zu bedeuten hatte, und brachen in Tränen aus. Dann fingen auch die Erwachsenen und die Buben an zu weinen.

Es dauerte einige Zeit, bis Mami in der Lage war, zu erzählen: »Nachdem wir den ganzen Wald abgesucht hatten, kam Gregor auf die Idee, Toni könnte zum Bach gegangen sein. Er führte uns zu dem Platz, wo sie im Sommer immer gespielt hatten. Und richtig, als wir uns der Stelle näherten, sahen wir seine Strümpfe und Schuhe dort liegen. In dem Moment dachte ich, mir bleibe das Herz stehen. Wahrscheinlich hatte er, sich nichts Böses dabei denkend, nur seine Füße eintauchen wollen, als ihn ein Schwall mitriss. Wir liefen am Bach entlang talwärts. Das war gar nicht so einfach. An manchen Stellen versperrten uns Gestrüpp und überhängende Zweige den Weg. Obwohl der Bach wild schäumte und rauschte, hatten wir die unrealistische Hoffnung, dass wir Toni lebend wiederfinden würden. Vielleicht hatte er sich an einen Zweig klammern und sich aus dem Bachbett ziehen können. Durch Gestrüpp und Dornen hasteten wir weiter, schon völlig zerkratzt. Wir waren mittlerweile sehr weit nach unten gekommen, dahin, wo der Bach eine scharfe Biegung macht. Da entdeckten wir ihn. Sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Im Bachbett muss es ihn immer wieder gegen dicke Steine geschleudert haben. Ihr könnt mir glauben, es war ein entsetzlicher Anblick! Wir haben ihn nur an der Kleidung wiedererkannt.«

Warum der Totengräber bestellt worden war, begriffen sogar wir Kinder, bis auf Anni vielleicht. Dann stellte Vroni eine Frage, deren Antwort uns alle interessierte: »Warum bestellt der Dati denn den Doktor, wenn der Toni schon tot ist?«

»Das ist Vorschrift«, antwortete der Opa anstelle seiner Tochter. »Der Arzt muss den Tod feststellen.«

»Und wozu bestellt der Dati die Polizei?«, schaltete sich nun auch Gregor ein. Diesmal antwortete die Oma: »Die Polizei muss untersuchen, ob nicht ein Verbrechen vorliegt.«

Auf diese Weise lernte ich schon als Vierjährige, wie der Ablauf nach einem Unglücksfall ist.

Den toten Toni durften wir nicht mehr anschauen. Aber wir durften alle hinter seinem kleinen weißen Sarg hergehen. Wir schluchzten entsetzlich, als der Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Danach haben wir tagelang nicht mehr unser Bauernhofspiel machen mögen. Und im Sommer sind wir auch nicht zum Bach gegangen zum Plantschen. Wie üblich sind die großen Buben am Morgen zur Schule marschiert und haben am Nachmittag mit uns Fangermandl oder Verstecken gespielt. So waren wir wenigstens am Nachmittag ein bisserl von unserem Schmerz abgelenkt. Die Oma konnte es aber bald nicht mehr mit ansehen, wie traurig wir kleinen Mädchen am Vormittag auf der Hausbank hockten und nichts mit uns anzufangen wussten. Deshalb suchte sie aus ihrem Flickkorb drei alte Wollsocken mit Löchern heraus. Auf die Löcher setzte sie bunte Flicken. Dann füllte sie die Spitzen mit Sägemehl und band sie so ab, dass Köpfe daraus entstanden. Sie nähte Knöpfe als Augen an und stickte Nase und Mund darauf. Den Sockenteil unterhalb des Kopfes füllte sie ebenfalls mit Sägemehl und formte den Leib der Puppe mit zwei Beinen. So waren drei wunderschöne Puppen entstanden, denen nichts fehlte außer Haaren und Armen. Vorerst kam die Großmutter gar nicht dazu, die fehlenden Teile zu ergänzen. Wir rissen ihr nämlich die unfertigen Puppen regelrecht aus den Händen, weil wir es nicht abwarten konnten, mit ihnen zu spielen. Vroni nannte ihre Strumpfpuppe Toni. Deshalb nannten wir die unseren ebenfalls so. Eine ganze Weile trugen wir unsere Tonis liebevoll herum. Bevor wir zum Mittagessen hineingerufen wurden, »bauten« wir Bettchen aus Gras und legten unsere Püppchen da hinein zum Mittagsschlaf. Am Abend nahm jede ihren Toni mit ins Bett. Manchmal setzten wir unsere drei Puppen nebeneinander auf die Hausbank und hielten ihnen einen Vortrag darüber, dass man nicht weglaufen darf, dass man nicht an den Bach gehen und vor allem, dass man nicht hineinsteigen darf. Wir schilderten unseren Tonis in den schlimmsten Farben, welch schreckliche Folgen das haben würde. Auf diese Weise verarbeiteten wir unsere Trauer. Und schon bald waren wir wieder die lebensfrohen kleinen Mädchen, die gerne Bauernhof spielten. Irgendwie wurden unsere Puppen mit in die Höfe eingebunden.

Im Herbst spielten wir mit bunten Blättern, die wir im Obstgarten fanden. Manchmal brachten uns die Buben Kastanien und Blätter von Kastanienbäumen aus dem Dorf mit. Damit ließ es sich ebenfalls herrlich spielen. Und ehe man sich versah, war wieder Advent. Diese Zeit liebten wir besonders. Vom ersten Tag an roch es im ganzen Haus nach Bratäpfeln, die bei Oma im Backrohr schmorten. Während jedes von uns einen Bratapfel verzehrte, erzählte Oma uns Märchen.

Noch schöner aber war es, wenn endlich der Nikolaustag kam. Vorher waren wir natürlich besonders brav, damit wir uns nicht vor der Rute des Krampus zu fürchten brauchten. Trotzdem zitterten wir, wenn der heilige Mann mit seinem Begleiter die Stube betrat. Noch heute sehe ich ihn deutlich vor mir. Er war gekleidet wie ein Bischof. Über einem weißen, schmalen Gewand, das mit einer weißen Kordel umgürtet war, trug er einen weiten, roten Umhang. Auf dem Kopf hatte er eine rote Mitra, die mit Goldrändern eingefasst war. Sein Gesicht war halb verdeckt von einem wallenden Bart. Hinter ihm schlurfte knurrend der furchterregende Krampus herein, mit schwarzem Gesicht, mit Hörnern auf dem Kopf und einem Sack über der Schulter. Der Heilige verwies ihn mit strengen Worten unter den Tisch: »Gib a Ruah, Krampus. Hier wohnen nur brave Kinder.«

In der Hand hielt Sankt Nikolaus ein großes, dickes Buch, in dem alle unsere Schandtaten, aber auch unsere guten Taten aufgeführt waren. Diese las er mit dunkler Stimme vor. Während wir leise vor uns hin bibberten und ergriffen lauschten, krähte Anni auf einmal dazwischen: »Kathi, Kathi!«

Die Erwachsenen traf fast der Schlag, und der »heilige Mann« hatte Mühe, Haltung zu bewahren. Zwar hatten die großen Buben von ihren Mitschülern längst erfahren, dass nicht der echte Nikolaus vom Himmel heruntersteigt, um den Kindern Äpfel und Nüsse zu bringen, dennoch zeigten sie großen Respekt. Wenn der heilige Mann bei uns in der Stube ihre Sünden vorlas, lauschten sie andächtig. Gewiss, seit ein, zwei Jahren hatten sie schon gerätselt, wer sich wohl unter der Verkleidung verbergen möge. Dass aber unsere Nachbarin Kathi im Gewand des Heiligen steckte, darauf waren sie nicht gekommen. Meinen Cousins war es sichtlich peinlich, dass nicht sie, sondern die kleine Anni die Nachbarin an der Stimme erkannt hatte. Dabei kannten sie die Kathi doch schon wesentlich länger. Auf ihrem Schulweg gingen sie ja täglich an deren Hof vorbei, und immer hatte diese freundliche Worte für sie übrig. Wir anderen kannten die Nachbarin natürlich auch. Wenn sie auf dem Weg zu ihrem Wald war, machte sie meist bei uns auf dem Hof eine kurze Rast, um mit Oma zu ratschen. Dabei schenkte sie schon mal jedem von uns einen Apfel, eine Birne oder ein paar Zwetschgen.

Nach dem Nikolausabend ging es mit Riesenschritten auf Weihnachten zu. Zumindest sahen das die Erwachsenen so. Uns Kindern dagegen ging es viel zu langsam. Jeden Abend fragten wir: »Wie oft müssen wir noch schlafen?«

Einige Tage vor Weihnachten waren plötzlich unsere Strumpfpuppen verschwunden. Als wir suchend durchs Haus irrten, erklärte unsere Großmutter: »Das Christkind hat die Puppen abgeholt, weil es gesehen hat, dass ihnen noch etwas fehlt. An Weihnachten bringt es sie wieder.«

Über diese Aussicht zeigten wir uns hocherfreut. Am Tag vor dem Heiligen Abend roch es im ganzen Haus nach Zimt und Honigkuchen. Auf unsere Frage erklärte uns die Oma: »Im Himmel hat das Christkind gar nicht so viel Platz, dass es für alle Kinder Platzerl backen kann. Deshalb schickt es kurz vor Weihnachten in jedes Haus einen Engel, der dort für die braven Kinder backt.«

Am Nachmittag des Heiligen Abends durften wir Kinder alle mit in den Stall zum Helfen. Das taten wir mit Begeisterung, damit Mami und Dati schneller fertig wurden, denn umso eher würde die Bescherung sein. Außerdem konnte das Christkind dann ungestört in der Stube alles für uns vorbereiten. Insgeheim hofften wir auch, dass die Gaben für uns reichlicher ausfallen würden, wenn wir recht fleißig wären. Zunächst hatte der Onkel ausgemistet und den Tieren frische Streu untergelegt. Dann stiegen die Buben auf den Heuboden und warfen durch ein quadratisches Loch Heu herab. Wir Dirndln nahmen davon so viel zwischen beide Arme, wie wir tragen konnten. Wir brachten es dem Dati, der es den Kühen in den Barn (Raufe) stopfte, während die Mami molk. Als die Buben fertig waren, stellten sie sich an die Stalltür, deren obere Hälfte geöffnet war, und schauten aufmerksam hinaus, während wir Mädchen noch mit Heutragen beschäftigt waren. Plötzlich rief Gregor ganz aufgeregt: »Da, da, schaut, da fliegt das Christkind!«

Wie auf Kommando ließen wir unser Heu fallen und sausten zur Tür. Wir waren noch zu klein, um über die Türhälfte schauen zu können. »Schnell, schnell, mach auf!«, rief Vroni ungeduldig. »Wir wollen das Christkind auch sehen.«

Die Buben kamen der Aufforderung sofort nach. Es war aber bereits zu spät. Vom Christkind war nichts mehr zu sehen. Wir erblickten nur den wolkenverhangenen Himmel. »Gerade ist es in den Wolken verschwunden«, erklärte Karl. Angespannt starrten wir nach oben, ob wir nicht vielleicht doch noch einen Zipfel seines Gewandes erspähen könnten. Weil wir es nicht selbst gesehen hatten, wollten wir von den beiden »Augenzeugen« wenigstens eine Beschreibung haben: »Was hatte es an? Wie hat es ausgesehen? Wie groß war es?«

Mit großen Augen und Ohren lauschten wir der Beschreibung der beiden Brüder, die sie abwechselnd von sich gaben: »Es war ungefähr so klein wie die Anni.« »Es hatte ein langes, weißes Gewand an.« »Es hatte silberne Flügel.« »Es hatte goldene Haare.«

Inzwischen waren Onkel und Tante mit der Arbeit fertig und tauschten ihre Stallkleidung gegen die normale Hauskleidung. Sie steuerten auf Omas Stube zu, und wir marschierten wie Orgelpfeifen hinterdrein. Uns strahlte ein Weihnachtsbaum entgegen, mit Kerzen und Lametta. Darunter stand ein Teller mit Lebkuchen und Platzerln. Ehe wir uns auf diese stürzten, stießen wir Jubelschreie aus. Unter dem Baum hatten wir unsere Puppen entdeckt. Alle drei saßen brav nebeneinander, sie sahen jedoch völlig verändert aus. Nur an den unterschiedlichen Knopfaugen waren sie noch zu erkennen. Die meine hatte Haare aus brauner Wolle, die von Vroni aus schwarzer Wolle und die von Anni aus heller Naturschafwolle. Und Arme hatten sie auch alle. Ja, sie waren sogar angezogen. Jeder Toni trug eine gestrickte Hose und eine gestrickte Weste, der eine in Blau, der andere in Rot und der dritte in Grün. Jetzt liebten wir unsere Puppenkinder noch mehr als zuvor. Dies war das schönste Weihnachtsfest, an das ich mich erinnern kann.

Erst Ende März, als der Schnee so langsam von Wiesen und Wegen verschwand, begannen wir wieder mit unserem Bauernhofspiel.

Im Jahr darauf an einem Vormittag – es muss im Juni gewesen sein, die Heuernte hatte nämlich noch nicht begonnen – geschah etwas Unerwartetes. Während ich mit Anni im Hof spielte – Vroni besuchte seit dem letzten Sommer ebenfalls die Schule –, tauchte plötzlich ein wildfremder Mann bei uns auf. Er wollte wissen, wo die Großmutter sei. Wir führten ihn in die Küche. Von der langen Unterhaltung, die er mit der Oma führte, bekamen wir leider nichts mit, denn sie hatte uns hinausgeschickt und die Tür zugemacht. Durch die offene Haustür konnten wir aber sehen, dass die Großmutter nach einer Weile in unserer Kammer verschwand und nach kurzer Zeit mit einem Bündel wieder herauskam. Dann rief sie die Anni zu sich, und neugierig wie ich war, blieb ich an ihrer Seite. Sie forderte Anni auf, ihre Schuhe anzuziehen. »Warum, Oma? Es regnet doch nicht.«

»Du hast eine weite Wanderung vor dir über einen steinigen Weg, da ist es besser, du hast Schuhe an.«

»Wieso das?«, wollte sie wissen, während sie brav in ihre Schuhe schlüpfte. Zugleich erklärte Oma dem erstaunten Kind: »Das ist dein Papa. Ab jetzt wirst du bei ihm wohnen.«

»Bei dem will ich aber nicht wohnen. Den kenne ich ja gar nicht.« Trotzig stampfte sie mit dem Fuß auf. »Ich will bei dir bleiben und bei der Fanni.«

»Jetzt red’ net lang ’rum«, mischte sich nun der Fremde ein, nahm der Oma das Bündel ab und packte meine Schwester mit der anderen Hand. Diese riss sich jedoch los, stürzte auf mich zu und klammerte sich an mir fest. Schützend legte ich beide Arme um meine kleine Schwester und versuchte sie festzuhalten. Doch was konnten zwei kleine Mädchen schon gegen zwei Erwachsene ausrichten? Die Oma hielt mich zurück, der Mann zerrte Anni von mir weg und verschwand mit ihr durch die Tür. Da halfen kein Strampeln und kein Schreien. Weinend rannte ich hinterher, aber der Eindringling war im Nu vom Hof verschwunden.

»Warum, Oma?«, schluchzte ich. »Warum hat der Mann die Anni mitgenommen?«

»Er hat das Recht dazu«, erklärte sie sachlich, aber ich sah, dass auch bei ihr Tränen in den Augen standen.

»Wieso hat er das Recht?«

»Er ist ihr Vater. Deine Mutter hat ihm schriftlich die Erlaubnis gegeben, dass er das Dirndl zu sich nehmen darf.«

Als die drei Großen von der Schule heimkamen, berichtete ich ihnen von der Ungeheuerlichkeit. Die Buben zuckten nur die Schultern. Vroni aber weinte auch, und wir trösteten uns gegenseitig. Von der Zeit an wurde unser Verhältnis noch enger. Da ihr klar war, dass ich nun an den Vormittagen allein war, überließ sie mir für die Morgenstunden großzügig ihren »Toni«. Nun hatte ich zwei »Kinder« zu betreuen und fühlte mich weniger einsam. Das half mir in der ersten Zeit wirklich über meine Traurigkeit hinweg. Bevor es zum Mittagessen ging, steckte ich beide Puppen in ein Doppelbett aus Gras, damit sie ihren Mittagsschlaf halten konnten. Wenn meine Cousine ihre Hausaufgaben erledigt hatte, weckten wir die Puppen auf und spielten Vater- Mutter-Kind. Mal war sie der Vater, mal ich.

Bald kam die Heuernte. Am Morgen ging ich schon mit aufs Feld, wo ich mithelfen durfte – oder musste? Die Kinder der Tante saßen während dieser Zeit ja in der Schule. Man drückte mir einen kleinen Rechen in die Hand, mit dem ich eifrig das Heu wendete und zusammenrechte.

Und dann rückte der Tag meiner Einschulung immer näher, darauf freute ich mich sehr. Die Oma war mit mir ins Dorf gewandert und hatte mir im Kramerladen einen Ranzen gekauft sowie eine Tafel, eine Griffeldose mit Inhalt und eine Fibel. Diese schaute ich mir immer wieder mal an. Es waren so schöne bunte Bilder darin und so komische Zeichen, die man Buchstaben nannte. Der erste war ein i, wie mir die Vroni verriet. Da ich immer wieder bettelte, nannte sie mir nach und nach auch die Namen der anderen. Daher kannte ich, bis ich in die Schule kam, alle Buchstaben. Da staunte die Lehrerin nur so. Doch noch mehr staunte sie, als wir die erste Singstunde hatten. Von vorne ging sie die ganze Reihe entlang, bis sie neben mir stehen blieb. »Ja, Fanni, du singst ja wie ein Engel! Du wirst bestimmt mal eine Sängerin.«

Das Wort Sängerin kannte ich aber nicht. Deshalb verstand ich »Sennerin« und antwortete: »Freilich, das werde ich ganz gewiss.« Meine Mutter war ja Sennerin gewesen, meine Großmutter ebenfalls und vermutlich auch schon die Urgroßmutter. Da war es doch logisch, dass ich auch Sennerin wurde. Und dass es für eine Sennerin von Vorteil war, wenn sie gut singen konnte, war mir auch klar. Die Oma hatte mir nämlich erzählt, dass sich die Sennerinnen von den umliegenden Almen immer wieder zu geselligen Abenden getroffen hatten, bei denen eifrig gesungen wurde.

Unsere Schule war eine zweiklassige. Es befanden sich also immer vier Jahrgänge in einem Klassenraum. Damit Vroni und ihre Brüder pünktlich um 8 Uhr in der Schule sein konnten, mussten sie bereits um 7 Uhr lostraben, im Winter meist noch etwas früher, weil sie sich durch den Schnee kämpfen mussten. Für die Erstklässler begann der Unterricht erst um neun, deshalb reichte es, wenn ich mich um kurz vor acht auf den Weg machte.

Meine Großmutter hielt etwa 25 Hühner, und da kam eine ansehnliche Menge an Eiern zusammen. Zwar gab es bei uns im Haus relativ häufig Eierspeisen, dennoch blieben viele Eier übrig. Davon packte meine Oma jede Woche zwei Dutzend in einen Korb, brachte sie ins Dorf und verkaufte sie an eine Gastwirtin. Dadurch verdiente sie sich ein paar Mark. Nachdem ich bereits einige Tage die Schule besucht hatte, meinte die Oma, ich könne doch auf meinem Schulweg die Eier bei der Wirtin abgeben, dann erspare sie sich den mühsamen Weg. Das Gehen fiel ihr nämlich zusehends schwerer. Die Aufgabe des Eierlieferanten übernahm ich gern. Weil meine Großmutter so viel für mich tat, war ich froh, auch mal was für sie tun zu können. Beim ersten Mal begleitete sie mich mit dem Eierkorb bis zum Gasthaus. Sie stellte mich der Wirtin vor und erklärte, dass ich künftig die Eier zu ihr bringen werde und dass sie mir unbesorgt das Geld mitgeben könne, denn ich sei nicht nur gescheit, sondern auch gewissenhaft.

Das mit der Eierlieferung klappte prima. Zu den zwei Dutzend Eiern legte die Oma meist noch vier oder fünf kleine Eier als Dreingabe. Darüber freute sich die Wirtin und schenkte mir manchmal ein Fünferl. Dieses Geld wanderte in meine Spardose.

Ende Oktober hatte es zwei Tage lang geregnet, sodass sich auf der Straße Pfützen gebildet hatten. Auch in unserem Hof gab es eine große Pfütze. In der Nacht vom Samstag auf Sonntag kam überraschend ein Kälteeinbruch, weshalb sich auf allen Pfützen eine feste Eisschicht bildete. Nun hatten wir unser Sonntagsvergnügen. Mit Begeisterung und Schwung schlitterten die Buben auf der Eisfläche. Das beeindruckte uns Mädchen derart, dass wir es ihnen gleichtun wollten. Anfangs landeten wir mehrmals unsanft auf unseren Sitzflächen. Doch bald hatten wir den Dreh raus.