Übungen im Fremdsein

Über Olga Tokarczuk

OLGA TOKARCZUK, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten europäischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast, für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman Der Gesang der Fledermäuse stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zum Schreiben zieht sie sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Endnoten

Jeremy Bentham: Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung. Aus dem Englischen von Irmgard Nash und Richard Seidenkranz, Saldenburg 2013 (Kapitel 17, Abschnitt 4, Anm. 1).

J.M. Coetzee: Das Leben der Tiere. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt am Main 2000, S. 20.

Ebd., S. 18.

Ebd., S. 78f.

Ebd., S. 13.

Ebd., S. 34.

Ebd., S. 79. Hervorhebung im Original.

Ebd., S. 79.

J.M. Coetzee: The Lives of Animals. Hrsg. von Amy Gutmann, Princeton, New Jersey 2016, S. 91. In der deutschen Ausgabe fehlen dieser und andere Kommentare, A.d.Ü.

Ebd., S. 89.

Im Original deutsch, A.d.Ü.

Jan Potocki: Die Handschrift von Saragossa. Aus dem Französischen von Louise Eisler-Fischer, Frankfurt am Main 1975, S. 163.

Homer: Götterhymnen. Aus dem Griechischen von Thassilo von Scheffer, Köln 2006, S. 84.

In deutschsprachigen Märchen hießen sie Hans, A.d.Ü.

Protagonistin in Olga Tokarczuks Roman Gesang der Fledermäuse. Aus dem Polnischen von Doreen Daume, Frankfurt am Main 2011/Zürich 2019, A.d.Ü.

Übersetzt nach der polnischen Fassung, weil die zugänglichen deutschen Übersetzungen deutlich anders lauten, A.d.Ü.

Czesław Miłosz: »Notatnik«, in: ders.: Prywatne obowiązki, Kraków 2011.

Figur in Henryk Sienkiewiczs Roman Mit Feuer und Schwert, die bei der Verteidigung der Stadt ums Leben kommt, A.d.Ü.

Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 5. Der Staat. Aus dem Griechischen von Otto Apelt, Hamburg 2004, S. 427.

Im Original deutsch, A.d.Ü.

Virginia Woolf: »Moderne Romankunst«, in: dies.: Der gewöhnliche Leser, Bd. 1. Aus dem Englischen von Helmut Viebrock, Frankfurt am Main 1997, S. 178.

Vladimir Nabokov: »Die Kunst der Literatur und der Normalverstand«, in: ders.: Vorlesungen über westeuropäische Literatur. Hrsg. von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf, Reinbek bei Hamburg 2014, S. 720721. Hervorhebung: Olga Tokarczuk.

Olga Tokarczuk: Taghaus, Nachthaus. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky, München 2001/Zürich 2019, S. 78.

In der Übersetzung von Wolfgang Josing, in: Brichst du auf gen Ithaka … Köln 2009.

Gedenke, Leib …

Leib, gedenke nicht nur, wie sehr du geliebt worden bist,

nicht nur der Betten, in die du dich legtest,

sondern auch jenes Sehnens nach dir, das

offen in den Augen glänzte

und in der Stimme bebte – und das irgendein

Hindernis aus Zufall hintertrieb.

Heute, da alles längst in der Vergangenheit liegt,

scheint es fast, als habest du dich hingegeben,

auch wo nur jenes Sehnen war – wie glänzte es,

gedenke, in den Augen, die dich angeschaut;

wie bebte es in der Stimme, nach dir, gedenke, Leib.

A.d.Ü.

Im Polnischen werden die Vergangenheitsformen der Verben an das Genus des Subjekts angepasst. So heißt es etwa on był – er war, ona była – sie war, ono było – es war. Ungewöhnlich wirken die Vergangenheitsformen des Neutrums in der ersten und zweiten Person Singular, also etwa byłom – ich war: in der Äußerung eines Neutrums, das von sich selbst spricht, bzw. byłoś – du warst: in der Anrede an ein Neutrum, A.d.Ü.

Ich sah – Neutrum, A.d.Ü.

Ich sah – Neutrum, A.d.Ü.

Ich sah – Femininum, A.d.Ü.

Czesław Miłosz: „Sekretarze“, in: ders.: Hymn o perle, Paris 1982.

Bolesław Prus: Die Puppe. Aus dem Polnischen von Kurt Harrer, Berlin 1954, S. 78. Die Namen lauten eigentlich Węgrowicz und Józio, A.d.Ü.

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, Zürich 2019, S. 31.

Ebd., S. 30.

Der Film Alien (Ridley Scott, 1979) hat den polnischen Titel Obcy – ósmy pasażer Nostromo [Der Fremde – der achte Passagier auf der Nostromo], A.d.Ü.

Mario Vargas Llosa: Geheime Geschichte eines Romans. Aus dem Spanischen von Elke Wehr, Frankfurt am Main 1992, S. 5455.

Der Titel des polnischen Originals lautet Prowadź swój pług przez kości umarłych. Die deutsche Übersetzung von Doreen Daume erschien unter dem Titel Gesang der Fledermäuse, Frankfurt am Main 2011/Zürich 2019, A.d.Ü.

Vladimir Nabokov: »Die Kunst der Literatur und der Normalverstand«, S. 724.

Ebd., S. 725.

Mario Vargas Llosa: Flaubert und »Madame Bovary«. Die ewige Orgie. Aus dem Spanischen von Maralde Meyer-Minnemann, Frankfurt am Main 1996, S. 13.

Aus dem Roman Die Puppe von Bolesław Prus, A.d.Ü.

William Wordsworth: Präludium oder Das Reifen eines Dichtergeistes. Ein autobiographisches Gedicht. Aus dem Englischen von Hermann Fischer, Stuttgart 1974, S. 75, Vers 161168.

In dem Roman geht es um einige rätselhafte Todesfälle, A.d.Ü.

Olga Tokarczuk: Unrast. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky, Frankfurt am Main 2009/Zürich 2019.

Platon: Das Gastmahl, in: ders.: Drei große Dialoge. Phaidon. Das Gastmahl. Phaidros. Aus dem Griechischen von Arthur Hübscher, München 2002, S. 129226, hier: S. 178.

Ebd., S. 181/182. Hervorhebung: Olga Tokarczuk, A.d.Ü.

Ray Bradbury: »Die Verbannten«, in: ders.: Der illustrierte Mann. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Peter Naujock, Zürich 2008, S. 154176, hier: S. 157.

Ebd., S. 163.

Julian Tuwim: »Bewohner«, in: Henryk Bereska, Heinrich Olschowsky (Hrsg.): Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten. Aus dem Polnischen von Heinz Kahlau, Berlin/Weimar 1997, S. 55.

Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie,/Die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagoge.

Der Wanderer

Den Anfang machen möchte ich mit einem Holzstich unbekannter Urheberschaft, den der französische Astronom Camille Flammarion im Jahr 1888 veröffentlichte: Er zeigt einen Wanderer, der an die Grenzen der Welt gelangt ist, der seinen Kopf über die irdische Sphäre hinausstreckt und sich am Anblick eines geordneten und überaus harmonischen Kosmos freut. Seit meiner Kindheit bewundere ich dieses herrlich metaphorische Bild, das mir bei jeder Betrachtung neue Bedeutungen enthüllt. Es definiert das menschliche Wesen vollkommen anders als Leonardo da Vincis weithin bekannte Zeichnung des statischen und triumphalen vitruvianischen Menschen als Maßstab des Universums und seiner selbst.

Bei Flammarion handelt es sich nämlich um einen Menschen in Bewegung, einen Wanderer mit Pilgerstab, Reisemantel und Haube. Und auch wenn wir sein Gesicht nicht sehen, können wir uns doch dessen Ausdruck vorstellen – Faszination wird sich darauf malen, Bewunderung, Staunen über die Harmonie und unfassbare Größe der außerhalb unserer Sichtweite liegenden Welt. Aus unserer Perspektive sind wir lediglich in der Lage, einen Bruchteil der Welt wahrzunehmen, doch jener Wanderer sieht offensichtlich um vieles mehr. Auch haben wir hier

Mir scheint der geheimnisvolle Holzschnitt unbekannter Provenienz eine ausgezeichnete Metapher für ebenjenen Moment zu sein, an den wir nun alle gelangt sind.

Die Welt ist klein

— im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist sie stark geschrumpft.

Wir haben zahlreiche Pfade ausgetreten, haben uns Wälder und Flüsse angeeignet, Ozeane überquert. Viele von uns haben den subjektiven Eindruck einer Endlichkeit der Welt erlangt. Dieses Gefühl hängt gewiss damit zusammen, dass sich dank der Globalisierung die Distanzen verringern und man jeden Ort auf Erden erreichen kann, vorausgesetzt, man hat die Mittel dazu. Und es

Ganz sicher haben wir es hier mit einer neuen historischen Erfahrung des Menschen zu tun – und ich frage mich, wer wohl als Erster dieses Gefühl empfunden hat: dass die Welt im Grunde eher klein und gänzlich erfassbar sei. Vielleicht war es ein Geschäftsmann der neuen Generation, einer derjenigen, die gebakken lucht verkopen, wie die Niederländer sagen – »heiße Luft verkaufen«. Ein Herr Buy-Low-Sell-High, der immer auf Achse ist, der von Kontinent zu Kontinent jettet, einen Pass aus irgendeinem »guten Staat« in der Tasche. Morgens Zürich, abends New York. Und am Wochenende ein Abstecher auf eine warme Insel, wo der Herr ozeanische Träume träumt und seine Sinne mit Kokain schärft. Oder ist es im Gegenteil jemand gewesen, der nie die Grenzen seines Landkreises verlässt und nun seinem Kind Spielzeug aus fernen Landen kauft, gefertigt von Menschen, deren Existenz ihm bis vor Kurzem nicht einmal bekannt war? Das Spielzeug aber wirkt dennoch ganz vertraut und harmlos, es verbirgt seine Exotik hinter einer universalisierten und neutralen Form.

Eine Rolle bei dieser neuen Erfahrung der Kleinheit der Welt spielt gewiss das triste post iterum, die Nachreisetrauer, die uns befällt, wenn wir nach den intensiven Erfahrungen des weiten Reisens nach Hause zurückkehren. Wir meinen, bestimmte Grenzen erreicht oder etwas erlebt zu haben, das uns verwehrt geblieben wäre, wenn wir nicht in ein Zeitalter hineingeboren wären, in dem Reisen mehr bedeutet als Privileg oder Fluch – ein Abenteuer nämlich. Und wenn wir dann unseren Koffer wieder

Wir haben den Louvre besucht und die Mona Lisa mit eigenen Augen gesehen. Haben die Pyramiden der Maya bestiegen und versucht, das Drama der verrinnenden Zeit zu erspüren, die erbarmungslos vernichtet, was im Laufe von Jahrtausenden entstand. Haben in tunesischen oder ägyptischen Badeorten unsere Bäuche von der Sonne bescheinen lassen und einen Einheitsbrei von Ethnofood genossen, der ausnahmslos allen schmeckte. Die Steppen der Mongolei, die überfüllten Städte Indiens, der Blick auf den himmelhohen Himalaya …

Selbst wenn wir den einen oder anderen Ort noch nicht besichtigt haben sollten, so lebten wir doch bis zur Pandemie im Bewusstsein der realen Möglichkeit, dies jederzeit zu tun – Prospekte von Reisebüros verzeichneten die sogenannten Destinationen. Die ganze Welt lag fußläufig vor uns, überall hinzugelangen war möglich, wenn wir nur genügend Geld zusammensparten.

Wohl zum ersten Mal in seiner Geschichte macht der Mensch diese eindringliche Erfahrung der Endlichkeit der Welt. An den Abenden verfolgt er das Leben anderer auf den Bildschirmen und Displays seiner schlauen Geräte, sieht Menschen zu, denen er noch vor hundert Jahren niemals begegnet wäre auf seinem Lebensweg. Und während er sie so von Weitem betrachtet, entdeckt er, dass auch das Repertoire an Rollen und Möglichkeiten endlich ist und dass die Menschen einander stärker ähneln, als unsere Vorfahren es je gedacht hätten. Diese nämlich – wir erinnern uns – ließen ihrer Phantasie freien Lauf und malten sich genüsslich das Erscheinungsbild jener Völker aus, die auf jener anderen Seite der Erdkugel

Heute wissen wir – Fernsehen, Kino und Social Media sei Dank –, dass die Menschen in Übersee weder mehrere Köpfe noch ein einziges Bein mit einem großen Fuß oder aber ihr Gesicht vorn auf der Brust haben. Zwar unterscheiden sich die Menschen tatsächlich in ihrer Hautfarbe, ihrer Körpergröße und in manchen Sitten und Gebräuchen, diese Unterschiede jedoch sind – auch das wissen wir inzwischen – verschwindend gering im Vergleich mit den Ähnlichkeiten. Die anderen Menschen in ihren Städten und Ländern, Sprachen und Kulturen funktionieren ganz ähnlich wie wir. Sie lieben, verspüren Sehnsucht, begehren, sorgen sich um die Zukunft, ringen mit der Erziehung ihrer Kinder. Auf dieser fundamentalen Ähnlichkeit gründet sich die rasante Karriere einer neuen Erfindung – der Streamingportale. Der Reisende sieht, dass es im Grunde überall recht ähnlich ist. Es gibt Hotels, man isst von Geschirr, man wäscht sich mit Wasser, kauft den Daheimgebliebenen Souvenirs und Geschenke, die zwar das regionale Kunsthandwerk imitieren, aber dennoch (fast alle) eines gemeinsam haben: die Aufschrift made in China.

Auch ist bekannt, dass uns von jeder Erdenbürgerin, jedem Erdenbürger nur ungefähr sechs andere Personen trennen (nach dem Prinzip: Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der X kennt usw.) und von den Zeiten Christi gerade einmal siebzig Generationen.

Früher einmal war die Welt riesig und mit der Vorstellungskraft nicht zu erfassen – jetzt ist nicht einmal mehr Vorstellungskraft vonnöten, denn alles ist zum Greifen nah, so nah wie das Smartphone in unserer Hand. Früher

Paradoxerweise lebten wir damals in einer Welt, die offen war für Phantasie, einer Welt mit allenfalls skizzierten Grenzen und voller Ungewissheiten. Diese Welt verlangte nach neuen Geschichten und neuen Formen, sie wandelte sich immerfort, entstand vor unseren Augen stets wieder neu.

Heute passt die Welt in unseren Kalender und in unsere Uhr. Wir können sie uns vorstellen, haben ihr tatsächliches Bild vor Augen. Innerhalb von drei Tagen kann man hingelangen, wohin man nur will (mit wenigen, mäßig interessanten Ausnahmen). Die weißen Flecke auf den Landkarten wurden von Google Maps bis zum Rand ausgefüllt, die Karten bilden mit grausamer Genauigkeit selbst die hintersten Winkel ab. Außerdem gibt es überall nur das Gleiche – die gleichen Dinge, Artefakte, Denkweisen, Währungen, Marken, Logotypen. Das Exotische und das Außergewöhnliche sind Mangelware und lassen sich häufig im Alltag gar nicht mehr finden; sie werden zu reinen Gadgets – wie in jenem Ostseebad, in dem ein direkt aus Thailand importiertes komplettes Thai-Restaurant aufgebaut wurde, oder auf dem flachen Land mitten in Europa, wo sich in einer gigantischen Halle eine imitierte Tropenlandschaft erstreckt.

Mit dem mobilen Endgerät in der Hand oder auf dem

Hinzu kommt der Eindruck von Überfüllung, begrenztem Raum, Enge, der immerwährenden Anwesenheit anderer Menschen – der Eindruck der Endlichkeit unserer erlebten Welt mündet in ein klaustrophobisches Gefühl. Wen wundert’s, dass neuerdings der Traum vom Reisen ins Weltall wieder erwacht, der Traum, das alte wohlbekannte, enge und vollgestopfte Haus einfach zurückzulassen. Der Eindruck einer schrumpfenden und endlichen Welt verstärkt sich noch durch die Anbindung ans Internet und die allgegenwärtige Überwachung. O ja, denn wir leben bereits in einem Panoptikum – immerfort werden wir gesehen, beobachtet und analysiert. Das Gefühl der Endlichkeit banalisiert alles, denn nur das, was sich unserer Erkenntnis entzieht, kann unsere Begeisterung wecken und sich seinen wundersam geheimnisvollen Status bewahren.

Unendlichkeit aber betrachten wir häufig als Chaos, da sie uns nicht gestattet, unsere bewährten Erkenntnismaßstäbe an sie anzulegen, ihr eine Struktur zu geben. Karten der Unendlichkeit gibt es nicht. Auch den Menschen verwirft sie als Maß aller Dinge.

Wünscht jemand wieder Unendlichkeit zu erfahren, so braucht er sich nur ins Internet einzuloggen. Hier lehrt ihn das starke Gefühl eines Zuviel an Welt eine Art resignierter Zurückhaltung – ich gehe meines Weges und lerne, einen Bogen um die überall winkenden Attraktionen zu machen; wie Lot bin ich, der aus dem brennenden Sodom flieht und dessen Wille stark genug ist, dass er sich – im Gegensatz zu seiner neugierigen Frau – nicht noch einmal umdreht.

Heute wird diese fast mit einer Katatonie vergleichbare Art der Erstarrung vor dem Bildschirm auch als Lot’s Wife Syndrome bezeichnet. Dieses Syndrom betrifft Millionen von Jugendlichen und Incels, die, besonders jetzt, in den Zeiten der Pandemie, allen Warnungen zum Trotz auf die brennenden Städte starren und ihren Blick nicht mehr abwenden können. Wenn ich auf der Suche nach Informationen im Internet surfe, habe ich oft das Gefühl, auf einem riesigen Ozean an Daten zu treiben, die sich zudem ständig selbst neu erschaffen und kommentieren. Derjenige, der das Verb »surfen« für die Internetsuche geprägt hat, verdient es, ein Genie genannt zu werden: Das Bild eines Menschen, der sich, einsam und allein, mit einem schmalen Brett auf den Wellenkämmen eines aufgepeitschten Ozeans zu halten versucht, trifft hier den Nagel auf den Kopf. Der Surfer wird von den Elementen fortgetragen, während er selbst seine Strecke nur in

Die neue Unendlichkeit trat in die Welt des homo consumens, als diese Welt einem Sesam zu ähneln begann. Wir befahlen: »Sesam, öffne dich!«, und – es geschah! Der Sesam öffnete sich und überschüttete uns mit einer Fülle an Diensten, Waren, Typen, Mustern, Varianten, Arten, Moden, Trends. Ein jeder von uns hat wohl wenigstens einmal diese märchenhafte Vielfalt an Angeboten erlebt – und den beunruhigenden Verdacht, man bräuchte mehrere Leben, um sie auszukosten.

Und so reduzierte sich unser Leben quasi unbemerkt auf die Konsumption – den Erwerb von Waren, die Buchung von Dienstleistungen aus dem unerschöpflichen Angebot. In einer Erzählung des genialen Philip K. Dick können die von einer durchgedrehten Intelligenz gesteuerten Fabriken ihre Produktion nicht mehr stoppen, sodass für eine unendliche Zahl programmierter Waren der ideale Käufer geschaffen werden muss, ein vom Kosmos an Gütern hypnotisierter Superkonsument, ein Kunde, zu dessen Lebenssinn es werden soll, alle erdenklichen Varianten dieses oder jenes Produkts zu probieren, die Güte verschiedener Marken abzuwägen – von

Diese Version, so futuristisch sie in den sechziger Jahren auch erscheinen mochte, ist schneller eingetreten als gedacht. Heute ist sie eine Beschreibung unseres Hier und Jetzt.

Dasselbe betrifft auch unsere Konsumption intellektueller Güter. Die Bestände virtueller Bibliotheken sind unendlich geworden – sitzt man am Computer, gewinnt man leicht den Eindruck, sich in einem Sesam zu bewegen, dessen Reichtum sich beim besten Willen nicht mehr erfassen lässt – weder die Fülle an Autoren noch an Titeln noch an Schlagwörtern. Ich finde es erschreckend, mir zu vergegenwärtigen, dass in derselben Zeit, in der ich diese Worte niederschreibe, Hunderte, wenn nicht Tausende anderer Artikel, Gedichte, Romane, Essays, Reportagen und Ähnliches entstehen. Die Unendlichkeit reproduziert sich selbst, sie dehnt sich immer weiter aus – und wir mühen uns, sie mit unseren gebrechlichen Suchmaschinen zu durchmessen, um das Gefühl zu wahren, noch immer die Kontrolle zu besitzen.

Meine Generation kommt damit besonders schlecht zurecht – sind wir doch in Zeiten des Mangels aufgewachsen, und viele von uns häufen Vorräte »für eine Krise«, »für eine Inflation« an. Das ist der Grund, warum mein Mann Zeitungen sammelt und Ausschnitte aufbewahrt, und es ist der Grund, warum er im Gefühl einer Mission, vergleichbar mit der göttlichen Weisung an Noah, Holzregale für Papierbücher zimmert. Unsere und die vorangehenden Generationen sind darauf gepolt, JA, JA, JA zur Welt zu sagen. Wir dachten uns: Ich probiere dies und das, fahre hierhin und dann dorthin, erlebe dies und jenes. Ich

Und nun taucht eine Generation an unserer Seite auf, die begreift, dass es in der neuen Situation die menschlich und ethisch wertvollste Entscheidung ist, sich im NEIN, NEIN, NEIN zu üben. Ich gebe dies und jenes auf. Beschränke das hier und das. Dies hier brauche ich nicht. Will ich nicht. Lasse ich lieber …

Mein Name ist Million

Eine der wichtigsten Entdeckungen der letzten Jahre – Entdeckungen, die Einfluss hatten auf die Selbstwahrnehmung des Menschen als Wesen – war ganz sicher die Feststellung, dass der menschliche Organismus, dass Organismen allgemein – also auch die von Tieren und Pflanzen – in ihrer Entwicklung und Funktionsweise mit anderen Organismen zusammenwirken, dass die Organismen somit in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden sind. Aus der biologischen und medizinischen Forschung – hier ist zuallererst Lynn Margulis’ bahnbrechende Erkenntnis zu nennen, dass Symbiose und die Verbindung von Organismen untereinander als Motor für die Evolution und die Entstehung der Arten fungierten – wissen wir, dass wir eher kollektive als individuelle Wesen sind, eher eine Republik vieler verschiedener Organismen als ein Monolith, als eine hierarchisch strukturierte Monarchie. Dein Körper, das bist nicht nur DU – der Mensch hat lediglich 43 Prozent menschlicher Zellen, verkünden die Boulevardzeitungen und wecken so gewiss die Besorgnis manchen Lesers. Egal, wie oft du dich wäschst, Mensch, deinen Körper besiedeln doch weiterhin deine

Ich denke, die Sünde, für die wir aus dem Paradies vertrieben wurden, war nicht Sex, sie war auch nicht Ungehorsam, ja nicht einmal die Entdeckung göttlicher Geheimnisse – unsere Sünde war ebenjene Selbstwahrnehmung als monolithische, vom Rest der Welt getrennte Einzelwesen. Wir haben uns abgesondert, uns aus dem Zusammenspiel der wechselseitigen Verbindungen ausgeklinkt. Das Paradies verließen wir unter dem gestrengen Blick eines

Die traditionelle Wahrnehmung des Wesens Mensch unterliegt heute einem drastischen Wandel – nicht nur aufgrund der Klimakrise, der Epidemie und der Entdeckung, dass die wirtschaftliche Entwicklung ihre Grenzen hat, sondern auch wegen unseres neuen Spiegelbildes: Das Bild des weißen Mannes, des Eroberers mit Anzug oder Tropenhelm, verblasst allmählich und verschwindet; stattdessen sehen wir so etwas wie Giuseppe Arcimboldos gemalte Gesichter – organische, vielfach verschachtelte, hybride Antlitze, bei denen man mehrmals hinschauen muss, die eine Synthese aus biologischen Kontexten, Entlehnungen und Bezügen bilden. Wir sind keine Bionten mehr, wir sind ein Holobiont, also ein Komplex verschiedener, miteinander in Symbiose lebender Organismen. Komplexität, Vielheit, Verschiedenartigkeit, gegenseitige

Diese neue, komplexitätsbasierte Perspektive betrachtet die Welt nicht als hierarchisch aufgebauten Monolithen, sondern als Vielheit und Verschiedenartigkeit, als eine lockere organische Netzstruktur. Das Wichtigste ist aber, dass wir uns selbst innerhalb dieser Perspektive zum ersten Mal als komplexe und vielschichtige Organismen wahrzunehmen beginnen – dahingehend wirkt auch die Entdeckung von Biom und Mikrobiom mit ihrem überwältigenden Einfluss auf unseren Körper und unsere Psyche, auf die Gesamtheit dessen, was wir »Mensch« nennen. Ich vermute, dass die psychologischen Konsequenzen eines solchen Zustands sich als erstaunlich erweisen werden. Vielleicht kehren wir zur Auffassung von der menschlichen Psyche als einem Gefüge vieler Schichten und Strukturen zurück. Vielleicht fangen wir an, Persönlichkeit als Vielheit wahrzunehmen, und scheuen uns nicht mehr, multiple Persönlichkeiten als völlig normal und natürlich anzuerkennen. Im gesellschaftlichen Raum könnten dezentralisierte, netzartig organisierte Strukturen eine Aufwertung erfahren, während der hierarchische, auf dem ausgrenzenden Nationalgedanken gründende Staat zu etwas völlig Anachronistischem wird. Und vielleicht können irgendwann die monotheistischen

Heute ist jene traditionelle, raffinierte Konstruktion eines vom Rest der Welt sich abhebenden Menschen im Zerfall begriffen. Ich stelle mir das so vor, wie wenn ein mächtiger, morscher Baum sich langsam zu Boden neigt. Dieser Baum hört schließlich nicht auf zu existieren – lediglich sein Zustand durchläuft eine Veränderung. Von nun an wird er zum Ort noch intensiveren Lebens: andere Pflanzen beginnen auf ihm zu keimen, Pilze und Saprophyten besiedeln ihn, Insekten und Tiere richten sich Höhlen ein. Und auch der Baum selbst wird wiedergeboren aus seinen eigenen Trieben, Samen, Wurzeln.

Viele Welten an einem Ort

Noch niemals in der Geschichte der Menschheit waren wohl die Abstände zwischen den Generationen so groß wie heute. Damit meine ich die tiefen Gräben, die sich infolge der Entwicklung von künstlicher Intelligenz und der lawinenartigen Veränderungen beim Zugang zu Informationen aufgetan haben. Es sieht ganz danach aus, als hätte sich die menschliche Gesellschaft in Generationenzonen aufgeteilt, die sich in ihrer Sicht auf die Welt, ihrem Wissen, in der Verwendung und Beschaffenheit ihrer Sprache, ihren Fähigkeiten, ihrer Mentalität, ihrer politischen Teilnahme und ihren Lebensentwürfen unterscheiden. Während einerseits die Unterschiede zwischen den Kulturen und Ethnien in unserer Welt, die einen

Der Zerfall der Bevölkerung in verschiedene »Stämme« je nach Generationszugehörigkeit veranschaulicht, wie viele Realitäten sich in ein und demselben Raum befinden. Sie verzahnen, überschneiden, stimulieren sich gegenseitig – und bleiben dennoch strikt getrennt.

Der seltsame Sommer 2020

Die großen Veränderungen traten meist in der Folge von Kataklysmen und Kriegen ein. So sollen die Menschen kurz vor dem Ersten Weltkrieg das Gefühl gehabt haben, es nahe das Ende einer Etappe, einer ganzen Welt. Vielen erschien die Situation unerträglich, wenn sie sich auch dieses Eindrucks nicht vollkommen bewusst waren. Heute können wir den Enthusiasmus nicht mehr verstehen, der jubelnde Menschenmengen auf die Straßen trieb, wo sie mit Vivatrufen die in den Krieg ziehenden jungen Männer verabschiedeten. Ihr munterer Schritt – der wegen der damaligen Filmtechnik zackig wirkt, als marschierten Marionetten – führte die Soldaten irgendwo weit fort, bis hinter den Horizont, wo bereits die Schützengräben von Verdun und die Oktoberrevolution lauerten. Bald sollte die ganze Ordnung ihrer Welt einstürzen. Auf dass wir diesen Fehler nicht wiederholen …

Und wenn wir einen Schritt zur Seite machten? Wenn wir die ausgetretenen Pfade unserer Überlegungen, Gedanken, Diskurse verließen und uns aus den Systemen von Blasen hinausbegäben, die alle um ein gemeinsames Zentrum kreisen? An einen Ort, von dem wir besser und weiter sehen, von dem aus die Konturen des breitesten Kontextes erkennbar sind.

Als Greta Thunberg postulierte: Schließt die Bergwerke,

Im kognitiven Sinn kann der derzeitige Schwarze Schwan einen Wendepunkt darstellen – allerdings nicht, weil er möglicherweise eine Wirtschaftskrise ausgelöst oder den Menschen ihre Vergänglichkeit und Sterblichkeit vor Augen gehalten hätte, denn schließlich gibt es zahlreiche und höchst unterschiedliche Auswirkungen der Pandemie. Die wichtigste davon scheint mir allerdings zu sein, dass das tief verinnerlichte Narrativ vom Menschen als Herrn der Schöpfung, der Kontrolle über die ganze Welt besitzt, einen Bruch erfahren hat. Vielleicht ist dem Menschen als Gattung die Macht zu Kopfe gestiegen, die ihm aufgrund seines Verstandes und seiner Kreativität zufiel, und das wiederum hat ihn zu dem Gedanken verleitet, dass er und seine Interessen immer und

Ich bin überzeugt, dass unser Leben nicht nur eine Summe von Ereignissen ist, sondern ein verschlungenes Sinngefüge – das wir selbst schaffen, indem wir den Ereignissen jeweils einen Sinn zuschreiben. Die einzelnen Sinnhaftigkeiten wiederum ergeben zusammen ein wundersames Geflecht von Geschichten, Begriffen, Ideen, und man könnte es als eines der Elemente bezeichnen, die – wie Luft, Erde, Feuer und Wasser – unsere Existenz physisch bedingen und uns als Organismen formen. Die Geschichte, das Erzählen ist somit das fünfte Element, das uns die Welt auf ebendiese und keine andere Weise sehen lässt, das uns ihre unendliche Vielfalt und Vielschichtigkeit verstehen, unsere Erfahrung einordnen und sie von Generation zu Generation, von einer Existenz zur anderen weitergeben lässt.

Kairos

Der Holzstich aus Flammarions Werk zeigt einen kairotischen Augenblick. Kairos ist eine der niederen Gottheiten, die verglichen mit den Olympischen Göttern nicht

Für mich ist Kairos der Gott der Exzentrik – wenn man unter »Exzentrik« die Aufgabe der »zentrischen« Sichtweise, der ausgetretenen Pfade im Denken und Handeln versteht, das Verlassen wohlbekannten Terrains, das mittels gemeinschaftlicher Denkgewohnheiten, Rituale, verfestigter Weltanschauungen gewissermaßen abgesteckt worden ist. Exzentrik gilt seit jeher als wunderlich und randständig – dabei muss doch alles Schöpferische und Geniale, das die Welt in eine neue Richtung lenkt,

Wir haben das allgemeine Wissen verdrängt und den Sinn für eine ganzheitliche Wahrnehmung irgendwo verloren. Nach und nach gehen die letzten Gelehrten von uns, die großen »Ex-zentriker« – wie etwa Stanisław Lem oder Maria Janion –, die Verbindungen zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Wissensgebieten zu erfassen und aufzugreifen in der Lage sind, die ihren Kopf über den Weltenrand der vereinbarten Ordnung hinausstrecken. Früher haben wir wenigstens versucht, die Welt in einer Ganzheit zusammenzufassen, indem wir kosmogonische und ontologische Visionen entwickelten und Sinnfragen stellten. Doch dann sind wir irgendwo auf unserem Weg proletarisiert worden – auf ähnliche Weise, wie die Handwerker, die noch das vollständige Produkt anfertigen konnten, durch die kapitalistische Fabrikation proletarisiert und zu Arbeitern gemacht wurden, die nur noch die Einzelteile herstellten und sich des Ganzen nicht einmal mehr bewusst waren. Der Vorgang, in dessen Zuge sich die menschliche Gesellschaft in einzelne Blasen unterteilt, ist der Prozess einer unvorstellbaren, totalen Proletarisierung. Wir ziehen uns in unsere Blasen zurück, machen es uns bequem in der abgesonderten Sphäre unserer eigenen Erfahrung, die uns den Zugang zu den Erfahrungen und Gedanken anderer blockiert – und wir wollen es so, es geht uns gut damit, während die anderen, die wirklich anderen,

Der öffentliche Raum existiert natürlich, jedoch eher als Substitut, als Schein, als ein Schauspiel vor stark abgenutzten Kulissen, das die Herrschenden und ihre Rituale sich angeeignet haben. In den ausgetretenen Zentren, den früheren Orten des Gedankenaustauschs, gibt es keine Luft mehr. Die Agora ist nur mehr eine Ansammlung von Strecken und Bahnen, auf denen wir uns mechanisch bewegen. Die Universitäten haben ihre alte Rolle verloren und sind zum grotesken Abklatsch ihrer selbst geworden – statt Wissen zu erzeugen und Plattformen gegenseitiger Verständigung zu schaffen, ziehen sie sich hinter ihre Mauern und Portale zurück, indem sie den Wissenszugang beschränken und Forschungsergebnisse eifersüchtig voreinander geheim halten. Die Forschenden wetteifern blindwütig um Fördermittel und Punkte, haben sich in rivalisierende Lohnarbeiter verwandelt. Da wir das große Ganze nicht sehen, werden wir hin- und hergeworfen von lokalen Verwirbelungen und Strudeln und bleiben abhängig von den einzelnen Teilen des großen Puzzles – der gegebenen Welt und der, die wir darüber errichten.

In meinem Schreiben versuche ich immer, das Augenmerk und die Sensibilität meiner Leser und Leserinnen auf das große Ganze zu lenken. Ich habe mich am allwissenden Erzähler abgearbeitet, habe mit fragmentarischen Formen provoziert, indem ich suggerierte, es gebe Konstellationen, die über die simple Summe von Bestandteilen hinausgehen und einen eigenen Sinn kreieren. Mir scheint, die Literatur als unaufhörlicher Prozess des Erzählens der Welt hat größere Möglichkeiten als irgendetwas sonst,