SUSANNE POPP
Der Weg der Teehändlerin
Die Ronnefeldt-Saga
FISCHER E-Books
Susanne Popp, geboren 1967, ist die Tochter von Jugendherbergseltern – Hagebuttentee, serviert in großen Metallkannen, gehört daher zu ihren Kindheitserinnerungen. Heute bevorzugt sie jedoch eine Tasse Darjeeling oder Oolong, und sie liebt es, in die Teeregionen der Welt zu reisen. Mit der Schriftstellerei begann sie als Verfasserin von Privatbiographien. Die Geschichte der Familie Ronnefeldt zu erzählen, war ihr daher ein ganz persönliches Anliegen, denn in diesem Traditionsunternehmen verbindet sich die Sehnsucht nach fernen Ländern mit dem Schicksal einer Familie im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter am Zürichsee in der Schweiz.
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Die große Welt des Tees, die bewegende Geschichte einer Frau, die ihren Weg geht und das Schicksal einer Kaufmannsfamilie – der zweite Band der Ronnefeldt-Saga.
Frankfurt 1853: Die Teehändlerin Friederike Ronnefeldt möchte ihre zunehmend erwachsenen Kinder gut versorgt wissen. Schließlich hängt auch das Familienunternehmen von den Zukunftsplänen der neuen Generation ab. Doch die Geschwister entwickeln – zum Leid Friederikes – ihre eigenen Ideen. Mine lockt das Schauspiel, Elise möchte Lehrerin werden, anstatt zu heiraten und Wilhelm möchte Malerei studieren. Immerhin eines scheint sicher: Der Älteste, Carl, wird die Geschäfte übernehmen – nach dem Abschluss seiner Lehrjahre in Hamburg. Doch ist er der verantwortungsvollen Rolle gewachsen, die einst sein Vater innehatte?
»Eine sinnliche Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Toll recherchiert und liebevoll erzählt. Zum Eintauchen und Wegschmökern.« Miriam Georg, Autorin des Bestsellers »Elbleuchten«
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2022 Susanne Popp
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literaturagentur Hille & Schmidt, Berlin
Für diese Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Redaktion: Silke Reutler
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Richard Jenkins und akg-images, Berlin
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491341-4
Für C.
FRIEDERIKE RONNEFELDT, *1807, Witwe des Kaufmanns TOBIAS RONNEFELDT, *1794 †1845
ELISE, *1832; CARLCHEN (CARL), *1833; WILHELM, *1835; MINCHEN (WILHELMINE), *1836; FRITZ (FRIEDRICH), *1838 – Friederikes Kinder
KÄTHCHEN KLUGE, *1803; MINA KLUGE, *1815; WILHELMINE KLUGE, *1780 – die unverheirateten Schwestern und die Mutter von Friederike
NICOLAUS RONNEFELDT, *1790, Schwager von Friederike, Möbelschreiner
Frankfurt
FRIEDRICH BESTHORN, *1788, Prokurist bei Ronnefeldt **
PAUL BIRKHOLZ, *1807, ein alter Freund von Friederike **
HERBERT DÖBEL, *1816, Brauereibesitzer und Konrad Fritschs Patron **
KARL GEORG ENSLEN, *1792, Reise- und Panoramamaler
KONRAD FRITSCH, *1826, Bierbrauergeselle mit unklarer Herkunft und Geschichte **
PETER KREBS, *1815, Kaufmann und ehemaliger Lehrling von Tobias Ronnefeldt **
LEOPOLD SONNEMANN, *1831, Kaufmann mit politischen Ambitionen
Hamburg
ANTON BERGER, *1833, Kollege und Mitbewohner von Carl **
RICHARD VON MAHLSTEDT, *1830, Volontär im Kontor Overweg **
OTTO WESTPHAL, *1798, Inhaber eines Handelshauses
LUDWIG WESTPHAL, *1830, und CARL-WILHELM WESTPHAL, *1824 – Otto Westphals Söhne
CHARLOTTE VON ZITZEWITZ, *1836, Tochter eines Landgutbesitzers **
Baden-Baden
JOHANN MESSMER, *1780, Besitzer des Maison Messmer in Baden-Baden und ein alter Freund von Tobias Ronnefeldt
EDUARD MESSMER, *1824, Kaufmann mit eigenem Feinkostgeschäft in Baden-Baden
ADÈLE DE PIERRE, *1800, Gast im Maison Messmer
Bonn
CAROLINE MEYER, *1804, Freundin von Käthchen Kluge, verheiratet mit Theodor Meyer, Theologiedozent **
AMBROSIUS MEYER, *1840, Pflegesohn der Meyers **
Die Namen und Lebensdaten der Familie Ronnefeldt und vieler weiterer Personen sind an reale Biographien angelehnt. Fiktive Personen sind mit ** gekennzeichnet
Frankfurt, 14. Februar 1853
»Das Eis bricht. Die Fischer sagen, heute Abend noch bricht das Eis«, rief Friedrich. Die Ladenglocke bimmelte laut, als er die Tür aufriss und sie so heftig hinter sich ins Schloss fallen ließ, dass die Schaufenster klirrten. Friederike, die im Laden hinter der Theke stand und gerade dabei war, die Tageseinnahmen ins Kassenbuch zu übertragen, ließ die Feder sinken.
»Bist du sicher?«, fragte sie ihren Sohn ungläubig. »Vor kurzem sind die Leute doch noch Schlittschuh gelaufen.«
»Ja, aber das sei leichtsinnig gewesen, sagen jetzt alle. Und dass es heute Nachmittag zwölf Grad warm war.«
Das stimmte natürlich, heute war es wirklich außergewöhnlich warm gewesen für einen Tag Mitte Februar. Das regnerische und dabei sehr milde Wetter war auf eine wochenlang andauernde Kälteperiode gefolgt. Der Main war so dick zugefroren wie schon lange nicht mehr – und ein Aufbrechen des Eises konnte durchaus, das wussten die Frankfurter aus leidvoller Erfahrung, Hochwasser mit sich bringen.
Sollte es in diesem Jahr wirklich wieder so weit sein? Friederike hatte es nicht wahrhaben wollen. Sie hatte jeden Gedanken daran weit von sich geschoben, dass ihre Lager im Saalhof unten am Main und im Haus Limpurg am Römer in Gefahr sein könnten, doch nun konnte sie es nicht länger ignorieren. Sie verstaute das Kassenbuch unter der Theke, war aber immer noch ein bisschen zögerlich, und das nicht nur aus Furcht vor dem, was ihnen möglicherweise bevorstand. Es war erst halb fünf, eigentlich zu früh, um den Laden zu schließen.
Ihr Prokurist Herr Besthorn kam gedankenversunken aus dem Kontor nach vorne in den Laden. Er war ziemlich schwerhörig und hatte noch gar nicht bemerkt, dass draußen etwas vor sich ging.
»Fritz sagt, der Main geht auf«, wandte Friederike sich dem Prokuristen zu, wobei sie die Worte betont deutlich aussprach, aber dennoch keine Reaktion bekam.
»Der Main, Herr Besthorn. Die Fischer sagen, heute geht er auf«, rief nun auch Friedrich.
Jetzt hatte Besthorn verstanden, doch er winkte ab. »Ach was, die Fischer reden viel, wenn der Tag lang ist. Die wollen sich nur wichtigmachen.«
»Das glaub ich nicht. Die haben alle große Angst um ihre Boote.«
»Vielleicht sind ja die Boote in Gefahr. Aber uns macht das wenig. Wozu hat man wohl die Ufer höhergelegt? Der Stadtbaumeister hat mir erst vor ein paar Tagen versichert, dass ein Hochwasser sehr unwahrscheinlich ist. Mit dem Abreißen des Fahrtors und dem Aufbau der neuen Befestigungen hat man mindestens fünf Fuß an Höhe gewonnen. Das sollte doch wohl ausreichend sein.«
Aber Friedrich ließ sich davon nicht beeindrucken. »Komm mit, Mama, und schau es dir selbst an«, wandte er sich nun wieder an seine Mutter. »Dieses Knacken und Knirschen und Gurgeln ist gruselig. So was hab ich noch nie gehört.«
Bestürzt betrachtete Friederike ihren vierzehnjährigen Sohn, der mit geröteten Wangen vor ihr stand. Er musste vom Main bis hierherauf gerannt sein, er war noch immer außer Atem. Entschlossen zog sie sich die Schürze aus.
»Du hast recht, Friedrich, ich werde es mir selbst ansehen. Herr Besthorn, behalten Sie bitte den Laden im Blick? Und falls wir unser Lager im Saalhof wirklich ausräumen müssen, darf ich doch gewiss auf Sie zählen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Besthorn. Der Prokurist war jetzt Mitte sechzig und hatte sein schlohweißes Haar auf dem Oberkopf zu einer Art Hahnenkamm frisiert, der sich nun zusammen mit seiner gesamten Figur aufzurichten schien. »Aber ich glaube wirklich nicht, dass das nötig sein wird, Frau Ronnefeldt. Immerhin hat die Aufschüttung und Verbreiterung des Mainufers das Stadtsäckel um Tausende erleichtert. Tausende! Die werden ja wohl nicht umsonst gewesen sein.«
»Das Eis ist in diesem Jahr wirklich außergewöhnlich dick«, erinnerte Friederike ihn. Sie hatte ihren Mantel geholt, schlüpfte hinein und band in aller Eile ihre Schute fest. Friedrich stand in der geöffneten Ladentür. Er sah sich ungeduldig nach ihr um.
Draußen auf der Neuen Kräme war inzwischen eine regelrechte Völkerwanderung in Gange. Trotz des schon wieder einsetzenden Regens strebten zahlreiche Menschen zum Main hinunter, und mindestens ebenso viele eilten in die entgegengesetzte Richtung. Ans Einkaufen dachte offenbar ohnehin niemand mehr.
Friederike fand diese hektische Betriebsamkeit höchst beunruhigend. Und ausgerechnet heute waren ihre zwei Kontorsgehilfen in Darmstadt. Sie hatte ja gleich kein gutes Gefühl dabei gehabt, beide auf einmal fahren zu lassen. Herr Besthorn mit seinen Hüftbeschwerden war nämlich nicht mehr gut zu Fuß. Aber vielleicht konnte er sich ja trotzdem nützlich machen.
»Wollen Sie nicht doch lieber gleich mitkommen, Herr Besthorn? Ich mache mir schon große Sorgen um unser Teegewölbe«, sagte sie.
Besthorn kratzte sich am Kopf. »Also gut, Frau Ronnefeldt. Ich werde nur zuvor meinen angefangenen Brief noch zu Ende bringen. Aber Sie werden sowieso sehen, dass ich recht habe. So arg kommt es nicht.«
»Und du, Friedrich, geh gleich hinauf und gib deinen Geschwistern Bescheid. Elise und Minchen wollten Carlchen beim Packen helfen, und vielleicht ist Wilhelm ja sogar auch da. Sie sollen alle so rasch als möglich hinunter zum Main kommen. Wir treffen uns am Ufer vor dem Saalhof.«
Eine Viertelstunde später war die Familie am Mainufer versammelt. Friederike war erleichtert, auch Wilhelm zu sehen. Ihr zweitältester Sohn, der im Januar achtzehn Jahre alt geworden war, hatte die Angewohnheit, gelegentlich für Stunden zu verschwinden, ohne zu verraten, wohin. Schon oft hatte Friederike sich gefragt, ob sie ihm wohl zu viele Freiheiten zugestanden hatte. Oder ob sie womöglich Carlchen hätte bremsen müssen, der mit seinem Bruder selten einer Meinung war und seinen Kopf durchzusetzen verstand, so dass der eher gutmütige und weit weniger ehrgeizige Wilhelm sich mehr und mehr von der Familie und aus dem Geschäft zurückgezogen hatte. Er ging aus, wie es ihm gefiel, und hatte Bekanntschaften und Freunde, die sie noch nie gesehen hatte.
Doch mit der vielen Freizeit war es nun ohnehin für Wilhelm vorbei. Sie würde auf den jüngeren der beiden Brüder angewiesen sein, jetzt wo Carlchen – oder besser Carl, da er sich neuerdings strengstens verbat, mit der verniedlichenden Form angesprochen zu werden – nach Hamburg ging. Wilhelm würde als dritter Gehilfe im Kontor seinen Platz einnehmen müssen.
Die sechs Ronnefeldts standen nebeneinander auf dem belebten Kai und blickten auf den vereisten Main hinaus. Die untergehende Sonne war hinter trübem Dunst und Regenschleiern verborgen, so dass nicht das kleinste Glitzern oder Funkeln der Eiskristalle den bedrohlichen Eindruck abmildern konnte. Gleich dem Rücken eines schlafenden Drachen bedeckte das Eis schwer und grau den gesamten Fluss und zeigte an manchen Stellen in Ufernähe wulstige Verwerfungen.
Das war bis vor ein paar Tagen noch anders gewesen. Spaziergänge auf der weiten ebenen Eisfläche, mit Schlittschuhen oder ohne, waren zu einem beliebten Freizeitvergnügen avanciert. Die Frankfurter genossen den ungewohnten Blick, den sie von der Mitte des Flusses aus auf die Stadt hatten, auf den Dom mit seiner kappenförmigen Turmspitze und der Laterne obenauf, auf die großen Mietshäuser und die prächtigen Bürgervillen, die das Frankfurter Ufer säumten, oder auf das stattliche Gebäude des Deutschordenshauses auf der Sachsenhäuser Seite. Findige Gastwirte hatten sogar Buden auf dem Eis aufgestellt, wo sie Punsch und heißen Saft verkauften, und nicht nur Familien hatten sich dafür begeistert, sondern auch Vereine und Lesekränzchen aus der Umgebung hatten ihre Ausflüge zu dem Naturschauspiel gemacht. Doch das alles würde nun bald ein Ende haben – und der Preis, der dafür zu zahlen wäre, würde womöglich hoch ausfallen.
Dutzende Schaulustige hatten sich inzwischen auf dem Kai vor dem Saalhof versammelt, und ganz wie Friedrich gesagt hatte, hörte man vom Fluss her ein Knarzen. Gelegentlich ertönten auch hellere Geräusche, deren Echo sich geisterhaft über die Eisfläche hinweg ausbreitete, als würde man ein Dutzend Sägen singen lassen. Friederike hatte den Impuls, fortzulaufen, nur weg vom Fluss. Doch sie war wie erstarrt und hatte keine Kraft mehr in den Beinen. Sie warf einen Blick auf Carlchens ernste Miene. In manchen Momenten sah ihr Ältester seinem Vater so unglaublich ähnlich. Sein Profil, seine Haltung, selbst die Art, wie ihm das Haar in die Stirn fiel, alles erinnerte sie an Tobias.
Elise, die zwischen ihren Brüdern stand, war sehr blass. Vielleicht dachte ja auch sie an jene unglückliche Nacht. Zwölf Jahre alt war ihre Älteste gewesen, und auch wenn sie noch nicht selbst mit angepackt, sondern die Stunden bei ihren Großeltern verbracht hatte, so hatte sie doch die ganze Aufregung mitbekommen. Vor allem hatte sie die schwere Krankheit ihres Vaters bewusst miterlebt, die auf dem Fuße der Ereignisse gefolgt war. Ihr tapferes kleines Mädchen. Elise war ihr in allem eine Stütze gewesen. Und nun war sie eine junge Frau und lebte längst nicht mehr bei ihr, sondern im Haus ihrer Großeltern in der Schnurgasse. Friederike überkam nicht zum ersten Mal das traurige Gefühl, ihre Tochter gar nicht mehr richtig zu kennen.
Friederikes Blick wanderte weiter zu Friedrich. Er hatte immer noch erhitzte Wangen und schien das Geschehen eher zu genießen. Genau wie Minchen blickte er mit leuchtenden Augen aufs Eis. Friederike schluckte beklommen. Ihre beiden Jüngsten waren doch noch richtige Kinder. Nun sehnte sie sich so sehr nach Tobias, dass es schmerzte.
Wieder wandte sie ihre Aufmerksamkeit der bedrohlichen Szenerie zu, die vor ihr lag, das graue Band des zugefrorenen Mains. Acht Jahre waren seit dem Hochwasser von 1845 vergangen, aber obwohl sie die Details zeitweise recht erfolgreich verdrängt hatte, erinnerte sie sich nun wieder lebhaft daran. Sie klammerte sich an die Unterschiede: Damals war es Ende März gewesen und nicht schon Mitte Februar, versuchte sie sich zu beruhigen. Der Winter hatte also wesentlich länger gedauert, über zwölf Wochen hinweg hatte es Minusgrade gegeben. Außerdem – und das war womöglich das Wichtigste – war das vor dem Umbau und der Erhöhung des Kais gewesen. Herr Besthorn vertrat immerhin die Auffassung, dass damit alle Gefahr gebannt war.
Männer, dachte Friederike. Männer gaben sich immer so selbstbewusst. Dabei wusste sie leider nur zu genau, wie oft sie sich irrten. Dieser Gedanke und die Regentropfen, die ihr nun heftiger ins Gesicht sprühten, holten sie in die Wirklichkeit zurück. Es regnete schon seit Tagen, genau wie 1845, und damals wie heute war es sehr plötzlich warm geworden.
Friederike hatte für einen Moment die Augen geschlossen und zwang sich nun, sie wieder zu öffnen. Der Anblick war unverändert – obwohl, war da nicht ein Riss im Eis? Und dort noch einer. Plötzlich glaubte sie, überall Spalte und Risse zu sehen, die vorher nicht da gewesen waren. Jetzt hörte sie auch das Gurgeln und Rauschen von Wasser und dann wieder diesen singenden Ton, sehr fremdartig und darum so bedrohlich. Und dann, mit einem Male, ertönte ein besonders lautes, langgezogenes Knirschen.
Das war eindeutig. Es ergab einfach keinen Sinn, die Gefahr zu leugnen. Die Menschen, die wie sie abwartend am Kai gestanden hatten, schienen das ebenso zu sehen. Bewegung kam in die Menge. Stimmen erhoben sich, die Leute riefen einander etwas zu, aber Friederike war zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie die Worte verstanden hätte. Wieder sah sie zu Carlchen, und ihr Blick blieb am spärlichen Bartwuchs über seiner Oberlippe hängen. So ähnlich er seinem Vater auch sah – er war doch noch schrecklich jung.
»Was meinst du dazu, Carl? Was sollen wir machen?«, fragte sie und hoffte, dass er das Zaghafte in ihrer Stimme nicht hörte. Sie war sich bewusst, dass sie jetzt stark sein musste. Ihren Kindern zuliebe. Dem Geschäft zuliebe. Und Tobias zuliebe.
Ihr Sohn zuckte die Achseln. Sie sah Unsicherheit in seinem Blick, doch dann schien er sich zu besinnen und sagte mit fester Stimme: »Ich bin für Ausräumen. Aber wir brauchen mehr Leute. Ein paar Männer, die uns helfen. Vielleicht weiß ja Onkel Nicolaus Rat.«
Er hatte recht, dachte Friederike. Sie brauchten Hilfe. Sie musste etwas tun. Es war ihre Aufgabe. Ihre Verantwortung. Friederike öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus.
Carl hatte gar nicht bemerkt, dass ihr die Worte fehlten. Er war schon mit der weiteren Planung beschäftigt. »Das Beste wird sein, wenn Minchen und Elise rasch zum Onkel in die Werkstatt laufen und ihn fragen, ob er uns beistehen und von seinen Leuten jemanden entbehren kann.«
»Onkel Nicolaus’ Werkstatt ist bei einem Hochwasser auch gefährdet. Die Fahrgasse liegt kaum höher als der Saalhof«, wandte Elise ein. »Aber wir sollten auf jeden Fall zu ihm gehen, und sei es nur, um ihn zu warnen.«
»Ich? Warum muss ich gehen? Ich will auch sehen, wie das Eis aufgeht«, protestierte Minchen.
»Keiner von uns wird sehen, wie das Eis aufgeht, weil wir damit beschäftigt sein werden, das Teegewölbe auszuräumen«, sagte Carl.
Mein Gott, dachte Friederike, die sich darauf konzentrierte, ruhig zu atmen, und doch nicht verhindern konnte, dass ihr Herz immer schneller schlug. Die Erinnerungen überwältigten sie. Sie hatte Angst. Nicht um ihr eigenes Wohl war ihr bang, aber was, wenn einem ihrer Kinder dasselbe Schicksal widerfuhr wie damals Tobias und sie es nicht beschützen konnte? Plötzlich wurde ihr schwindlig. Blut rauschte in ihren Ohren.
»Gute Idee, Carlchen, aber Minchen soll allein zur Werkstatt laufen. Ich komme mit euch mit und helfe tragen«, hörte sie Elise wie aus weiter Ferne sagen.
»Was denn, willst du etwa Kisten schleppen wie ein Arbeiter?«, maulte Minchen.
»Nicht nur ich. Du auch, wenn du erst wieder zurück bist«, entgegnete Elise ungeduldig. »Nun mach schon, Minchen, wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Friederike hörte die Stimmen ihrer Kinder nur noch gedämpft. Sie hielt sich an dem metallenen Geländer fest, das an dieser Stelle den Kai säumte, und ihre Benommenheit hinderte sie daran, ihre jüngere Tochter aufzuhalten. Am liebsten wollte sie alle ihre Kinder einfach nur in Sicherheit wissen, irgendwo im Warmen und Trockenen, doch daran war natürlich nicht zu denken. Sie würden jede helfende Hand brauchen, da hatte Carlchen schon recht. Minchen setzte sich in Bewegung und war kurz darauf zwischen den Menschen, die den Kai bevölkerten, verschwunden. Wieder knirschte das Eis. Ein Ächzen und Stöhnen wie von einem großen sterbenden Tier. Friederike erholte sich ein wenig, das Schwindelgefühl verging. Sie sah über die Brüstung nach unten. Das Wasser musste gestiegen sein. An manchen Stellen wölbte sich das Eis sogar über die Mauer. War das eben auch schon so gewesen? Womöglich wurde der Fluss von der kalten Masse noch gerade so zurückgehalten.
»Kommst du, Mutter?«, fragte Carl ungeduldig. Friederike löste sich vom beklemmenden Anblick des vereisten Flusses und ging hinter ihren Kindern her, erleichtert darüber, dass ihre Beine ihr wieder gehorchten. Der Regen war stärker geworden, doch sie nahm die Nässe kaum wahr. Vor dem Eingangsportal des Saalhofs standen zwei Fuhrwerke. Andere Kaufleute hatten offenbar bereits damit begonnen, ihre Waren aus den Gewölbekellern nach oben zu tragen. Besthorn allerdings war noch nicht eingetroffen.
Sie eilten durch die Halle und die Treppen hinab. Das Lager der Firma J. T. Ronnefeldt befand sich am Ende eines etwa dreißig Fuß langen Ganges, aber die meisten der Laternen, die sonst an den Wänden zur Verwendung bereithingen, fehlten. Ein einziges Licht konnten sie finden. Friedrich nahm es, zündete es an und beleuchtete die Tür. Friederikes Hände zitterten, und sie brauchte mehrere Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken und herumzudrehen. Sie bemerkte eine Bewegung hinter sich. Carl stand direkt hinter ihnen und atmete ungeduldig aus, doch da hatte sie es geschafft.
Ein warmer Duft nach Tee und Tabak schlug ihnen entgegen. Das Lager, das Tobias einst das »Teegewölbe« getauft hatte, war etwa einhundertfünfzig auf einhundertfünfzig Fuß groß. Friedrich ging hinein und leuchtete umher, so dass man sehen konnte, dass es bis unter die Decke mit Ballen und Kisten gefüllt war. Hier wurden hauptsächlich Tee, Tabak und Kaffee aufbewahrt, aber auch Porzellan, Keramik und Lackarbeiten waren in den Kisten zu finden. »Und wohin bringen wir die ganzen Sachen? Wir haben doch nicht einmal einen Wagen«, sagte Friedrich.
Alle Blicke wandten sich Friederike zu. Ihr Jüngster hatte natürlich recht, wieso hatte sie daran nur nicht gedacht? Es war jetzt auf die Schnelle auch unmöglich, einen Wagen zu besorgen, abgesehen davon würde ein einzelner ohnehin nicht ausreichen. Dann kam ihr glücklicherweise ein Gedanke. »Wie wäre es, wenn wir die Sachen im großen Saal im ersten Stock unterstellen?«
»So machen wir es. So hoch wird das Wasser sicher nicht steigen«, sagte Carl, der dabei war, einige Talglichter zu entzünden, die er in einem Korb in der Ecke gefunden hatte. »Und wenn wir hier fertig sind, müssen wir ins Haus Limpurg. Das Lager dort ist auch nicht sicher.«
Friederike nickte, doch sie sagte nichts und versuchte, möglichst keine Regung zu zeigen, um ihre Kinder nicht noch mehr zu verunsichern. Sie fürchtete sich davor, auch noch in jenen Keller hinabsteigen zu müssen. So sehr sie sich bemühte, Haltung zu bewahren, spürte sie, dass die Lähmung von eben schon wieder drohte von ihr Besitz zu ergreifen. Am liebsten wäre sie sofort geflohen.
»Waren, die den Umsatz für ein ganzes Jahr sichern sollen, könnten zerstört werden«, fuhr Carl fort, das drohende Unglück in den düstersten Farben zu malen. »Selbst wenn Minchen noch jemanden mitbringen kann, wird das kaum reichen. Der Weg bis hinauf in den Saal ist weit. Wilhelm, warum schaffst du uns nicht ein paar von deinen Freunden her, die sonst immer deine kostbare Zeit beanspruchen?«
Es war ein unpassender Moment für einen solch bissigen Seitenhieb. Normalerweise waren Bemerkungen dieser Art ein sicherer Anlass für Streit zwischen den Brüdern, aber zum Glück ließ Wilhelm sich nicht provozieren. Er stemmte die Hände in die Seiten und schüttelte den Kopf. »Das habe ich auch schon überlegt, aber die wohnen ja alle in Bornheim oder in Sachsenhausen.« Dann erhellte sich sein Gesicht. Offenbar war ihm doch noch jemand eingefallen. Er schickte sich an, hinauszueilen.
»Was ist, wo willst du hin, Wilhelm?«, rief Friederike ihm hinterher. Er drehte sich noch einmal zu ihr um.
»Du hast Carlchen doch gehört«, sagte er, doch dann bemerkte er ihr entsetztes Gesicht, kam zurück, umfasste ihre Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange: »Keine Sorge, Mama, gemeinsam schaffen wir das. Ich bin bald wieder da.«
Besorgt sah Friederike ihm nach. Jetzt waren ihr nur noch Carlchen, Friedrich und Elise geblieben, aber es half nichts, sie mussten sich an die Arbeit machen. Sie ging hinauf, den Portier zu suchen, und stellte fest, dass die Türen zum Saal bereits weit offen standen. Andere Kaufleute hatten augenscheinlich denselben Einfall gehabt wie sie, aber der Platz sollte reichen, um alles unterzustellen. Zum Glück erschien kurz darauf doch noch Herr Besthorn, und auch Wilhelm hielt sein Versprechen. Schon bald stieß er mit drei Helfern wieder zu ihnen. Zwei von ihnen waren junge Männer in Arbeitskluft, der dritte, auch er noch jung, kaum älter als Carl, hatte gelocktes dunkles Haar und steckte in einem schwarzen, für seine schmale Figur etwas zu weiten Anzug. Er war eine auffällige Erscheinung, und Friederike kannte ihn vom Sehen, denn er war der Sohn eines Kaufmanns. Doch sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Wilhelm mit ihm befreundet war.
»Das ist Herr Sonnemann, Mama. Er wird uns helfen«, rief Wilhelm ihr entgegen, als sie sich auf der Treppe begegneten.
»Frau Ronnefeldt«, sagte der junge Mann mit einer kleinen Verbeugung.
»Sehr erfreut, Herr Sonnemann. Es ist sehr großzügig, dass Sie uns Ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen wollen«, brachte Friederike heraus.
»Es ist mir eine Ehre. Ich bin froh, dass ich endlich die Gelegenheit bekomme, Ihrem Sohn zu danken und meine Schuld abzutragen.«
Seine Schuld? Friederike hatte keine Ahnung, welche Schuld das sein sollte. Wilhelm hatte Sonnemann nie erwähnt. »Das sind Konrad und Max«, stellte Sonnemann nun auch seine Begleiter vor. Der größere der beiden, ein intelligent aussehender Mann mit offenem Gesicht, grüßte höflich, während er schon dabei war, seine Jacke auszuziehen, um sich besser bewegen zu können. Der andere drehte seine Mütze verlegen in den Händen und nickte knapp.
Wilhelm schob sichtlich zufrieden die Ärmel hoch und griff sich eine Kiste, die auf dem Boden stand – und zehn Minuten später stieß auch Minchen wieder zu ihnen. Allerdings hatte sie nur einen einzigen Mann mitgebracht. Wie von Elise befürchtet, musste Nicolaus sein eigenes Inventar in Sicherheit bringen.
Draußen wurde es mittlerweile dunkel. Friedrich, der noch einmal hinunter zum Mainufer gelaufen war, überbrachte die Nachricht, dass die Kälte trotz der einbrechenden Nacht nicht anzog – und dass man inzwischen allgemein mit einem Eisbruch noch vor Mitternacht rechnete.
In den nächsten zwei Stunden kam die Helferschar kaum zum Verschnaufen. Selbst Minchen ließ sich vom allgemeinen Eifer anstecken. Friederikes Töchter steckten die oberen Röcke an der Taille fest und liefen mit den Männern die Treppenstufen hinauf und hinunter. Es ging zu wie in einem Ameisenbau. Besthorn konnte nicht so gut Treppen steigen und blieb im Keller, und sie selbst übernahm die Aufgabe, im großen Saal für Ordnung zu sorgen, wo der Portier ihnen eine bestimmte Fläche zugewiesen hatte. Alle arbeiteten hoch konzentriert. Vor allem jedoch erwies sich der Mann, der ihnen als Konrad vorgestellt worden war, als große Hilfe. Er machte nach einer Weile den Vorschlag, eine Kette zu bilden und die Kisten und Gegenstände vom einen zum anderen weiterzureichen, wobei Elise und Minchen zu zweit arbeiten sollten, da sie weniger schwer heben konnten. Dies erwies sich als sehr effektiv, weil sie sich nun weniger gegenseitig behinderten.
Friederike, die aus den Fenstern im ersten Stock immer wieder einen Blick hinaus in die Dunkelheit warf, wo sich in einiger Entfernung die unheimliche Eisfläche abzeichnete, hätte erleichtert sein müssen, dass alles so gut und zügig lief, doch dafür war sie viel zu verstört. Sie hatte gehofft, dass die Arbeit sie ablenken würde, aber statt an Mut zu gewinnen, wurde sie immer verzagter. Die Erinnerung an Tobias’ Ende ließ sie einfach nicht los. Er war schon länger nicht ganz gesund gewesen, doch er hatte sich mit seiner Krankheit arrangiert. Gewiss hätte er noch viele gute Jahre haben können. Letztlich war es jene Hochwassernacht gewesen, die ihm zum Verhängnis geworden war. Am folgenden Tag war er krank geworden, und sein Überlebenskampf war schrecklich gewesen. Das zähe pfeifende Geräusch, das seine Lungen machten, wenn er nach Luft rang, und die Furcht in seinem Blick verfolgten Friederike seitdem in ihren Albträumen. Drei Wochen nach dem Hochwasser war Tobias an einer schweren Lungenentzündung gestorben. Die Erinnerungen strömten nun ungehindert auf sie ein. Friederike hatte Angst. Einzig die Erkenntnis, dass sie sich in diesem Augenblick keine Schwäche erlauben durfte, hielt sie aufrecht.
Endlich war es geschafft. Das Teegewölbe war ausgeräumt. Carlchen trieb zur Eile an. Als sie am Mainufer vorüberkamen, sahen sie, dass Teile des Kais bereits überflutet waren. An immer mehr Stellen quoll dunkles Wasser an die Oberfläche.
Im Haus Limpurg am Römer war die Lage wesentlich schwieriger als im Saalhof. Nicht nur die schmaleren Treppen waren ein Problem, sie hatten auch Mühe, in den oberen Stockwerken überhaupt Platz für ihre Waren zu finden, da andere Kaufleute schon alles belegt hatten. Trotzdem begannen die jüngeren Leute sofort damit, Ballen und Kisten hinaufzuschaffen. Carl, Wilhelm und Friedrich und sogar ihre Töchter, die die schwere Arbeit doch so wenig gewöhnt waren, wirkten energiegeladen, als treibe die Gefahr sie zur Höchstform an. Friederike selbst hingegen hatte das Gefühl, sich kaum mehr auf den Beinen halten zu können.
Doch als sie mit dem Räumen kaum begonnen hatten, waren von draußen Rufe und Geschrei zu hören:
»Das Eis bricht! Das Eiiiis briiiicht!«
Ein paar Sekunden verharrten sie alle wie gebannt, als habe eine übergeordnete Macht ihnen befohlen, still zu stehen. Friederike blickte vom Treppenabsatz im ersten Stock in die matt von einer einzelnen Laterne beleuchtete Eingangshalle hinunter. Draußen vor der geöffneten Tür rannten in beide Richtungen Menschen vorbei, und die Hektik unterstrich die gespenstische Ruhe, die in dem Gebäude eingekehrt war. Etwa zweihundert Schritt waren sie hier vom Main entfernt, und trotzdem hörte man das Bersten des Eises. Friederike glaubte sogar, die Vibration unter ihren Füßen zu spüren. Sobald das Eis an den ersten Stellen gebrochen war und die Schollen in Bewegung gerieten, setzte sich eine Kettenreaktion in Gang, und nichts hielt mehr die Wucht des fließenden Wassers zurück. Die treibenden Eisschollen würden auf die Uferanlagen prallen, Brücken und Schiffen rammen und verheerende Schäden reißen. Für die Stadt und ihre Bewohner bedeutete jedoch das flutende Wasser die größte Gefahr. So wie damals. So wie 1845.
Friederikes schlimmste Albträume waren wahr geworden. Immerhin gelang es ihr, sich im Angesicht der Gefahr endlich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Sie wusste, es würde höchstens fünf oder zehn Minuten dauern, bis das Wasser sie erreicht hatte. Alles war wieder wie in jener Nacht. Wie sehr hatte sie Tobias angefleht, sich in Sicherheit zu bringen. »Lass es bleiben, das ist es nicht wert. Komm mit mir, Tobias«, hatte sie gebettelt.
Aber er hatte sich geweigert und sie fortgeschickt. »Geh zu deinen Eltern und warte dort mit den Kindern auf mich. Ich komme zu euch, sobald ich hier fertig bin. Mach dir keine Sorgen um mich. Alles wird gut.«
Widerstrebend hatte Friederike sich gefügt, und als er zwei Stunden später bei ihnen aufgetaucht war, völlig durchnässt und durchfroren, war er immer noch der Überzeugung gewesen, richtig gehandelt zu haben. Die Bewegung habe ihn warm gehalten, hatte er behauptet, und sich mit klappernden Zähnen aus den eiskalten Kleidungsstücken helfen lassen. Immer wieder unterbrochen von heftigen Hustenanfällen, hatte er ihr erzählt, wie er ein ums andere Mal in die schmutzigen Fluten gestiegen war, um weitere Kisten zu retten. Zwei Drittel des Lagers, hatte er stolz berichtet, seien nun im Trockenen. Später war ihr klargeworden, dass diese Verbissenheit sein Todesurteil besiegelt hatte. Noch in der derselben Nacht hatte er Fieber bekommen. Auf gar keinen Fall würde Friederike zulassen, dass sich das alles noch einmal wiederholte. Sie würde kein zweites Mal einen geliebten Menschen auf diese Weise verlieren.
Entschlossen schob Friederike ihre Erinnerungen beiseite und lief, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter. »Halt! Hört auf. Lasst alles stehen und liegen. Wir müssen von hier fort«, rief sie ins Halbdunkel des Kellers hinein.
»Kommt gar nicht in Frage, Mama«, gab Carl zur Antwort. »Wir machen weiter, solange es geht.«
»Nein. Es ist zu gefährlich«, beharrte Friederike. »Das Wasser kommt. Und ich lasse nicht zu, dass irgendwem etwas passiert.«
»Dann nimm die Mädchen mit und geh. Wilhelm, Fritz und ich bleiben und machen weiter.«
»Nein, Carl. Ich verbiete es. Es ist zu gefährlich.«
»Nur keine Sorge, Mama. Das Wasser ist doch noch gar nicht hier.«
»Aber sobald es da ist, wird es zu spät sein.«
»Mama hat recht, Carlchen«, mischte sich nun auch Elise ein. »Hast du denn ganz vergessen, wie es mit Papa gewesen ist?«
Friederike warf Elise einen dankbaren Blick zu, froh über die Unterstützung. Carl schüttelte jedoch immer noch unwillig den Kopf.
»Ich verbiete dir, hierzubleiben, Carl«, sagte Friederike, der Verzweiflung nahe.
Carl griff stur nach der nächsten Kiste – aber da hörten sie von oben eine Männerstimme rufen: »Noch jemand unten? Wir schließen die Tür. Wir dichten jetzt alles ab.«
»Da hörst du es.« Friederike atmete erleichtert auf. Das musste ihren Sohn doch zur Vernunft bringen. In dem Moment kamen auch ihre übrigen Helfer herbei.
»Es hat keinen Sinn mehr, wir müssen abbrechen«, sagte Herr Besthorn. Er atmete schwer. Der Abend hatte ihm das Äußerste abverlangt.
»Also gut.« Carlchen gab nach, war aber sichtlich verärgert. Unsanft setzte er die Kiste wieder ab, die er in den Händen hielt.
Als sie nach oben kamen und vor die Tür traten, wären sie beinahe von den Menschen umgerissen worden, die an ihnen vorbei in Richtung Liebfrauenberg rannten. »Das Wasser kooommmt«, rief jemand. »Das Wasser koooommmt«, echoten andere.
Und sämtliche Kirchenglocken der Stadt begannen zu läuten.
Frankfurt, 18. Juni 1853
Friederike ließ Carls Brief sinken und sah aus dem Fenster. Es war ein Samstagnachmittag, von der Straße drangen die Stimmen von Passanten und gelegentlich das Geräusch eines Wagens herauf ins Wohnzimmer.
»Was ist, warum liest du nicht weiter vor?«, fragte Käthchen, die ihrer Schwester gegenübersaß, wie immer eine Handarbeit vor sich.
»Was ist eigentlich mit Elise? Sie macht sich so rar, ich dachte, sie würde heute mit dir herkommen.«
»Sie wollte noch eine Besorgung machen. Sie kommt nach.«
»Schön«, sagte Friederike, doch ihre bedrückte Stimmung ließ sich nicht abschütteln. Es war still bei ihr geworden, seitdem die Kinder kaum noch zu Hause waren. Elise war schon vor Jahren zu ihren Tanten und zur Großmutter in die Schnurgasse gezogen. Fritz ging zwar noch zur Schule, verbrachte aber die Nachmittage meistens bei seinem Onkel Nicolaus in der Werkstatt. Und Wilhelm ließ sich ohnehin nur noch zu den Mahlzeiten blicken. Sie stand auf, schenkte sich und ihrer älteren Schwester Tee ein und gab Milch dazu.
»Einen oder zwei Löffel Zucker?«, fragte sie.
»Zwei«, sagte Käthchen, die gerade an der Hülle für ein Zierkissen stickte, die sie in einen Holzrahmen eingespannt hatte. Dabei stieß sie beinahe mit der Nase gegen den Stoff.
»Hast du deine Brille vergessen?«, fragte Friederike, während sie sich wieder hinsetzte.
»Die Brille taugt nichts«, sagte Käthchen und stichelte weiter. »Ohne komme ich besser zurecht.«
»Sieht aber nicht so aus.«
»Jetzt lies schon weiter«, Käthchen blickte kurz hoch und deutete mit dem Kinn zum Brief, den Friederike auf das Teetischchen gelegt hatte.
»Warte, ich muss rasch die richtige Stelle wiederfinden«, sagte Friederike, nahm einen Schluck Tee, den sie lieber ohne Zucker trank, rückte ihre Brille auf der Nase zurecht und nahm sich Carls Brief wieder vor. Sie plagte, was ihn betraf, das schlechte Gewissen. Ihr Ältester war erst im Mai nach Hamburg gereist, um dort seine Stelle anzutreten, beinahe drei Monate später als ursprünglich geplant – und es war ihre Schuld. Sie war nämlich nach dem Hochwasser krank geworden und hatte wochenlang mit hohem Fieber im Bett gelegen. Carl hatte sie vertreten müssen und war aus dem Kontor gar nicht mehr herausgekommen. Als es ihr endlich ein wenig besser gegangen war, hatte sie ihn mit seinem Arbeitseifer sogar gegenüber Wilhelm verteidigen müssen. Dem jüngeren Bruder hatte es nämlich gar nicht gefallen, dass Carl sich so wenig Zeit für seine kranke Mutter genommen hatte. Sie hatte ihren Ältesten nur morgens und abends kurz zu Gesicht bekommen, während Wilhelm kaum von ihrer Seite gewichen war. Von allen fünf Kindern hatte er die meiste Zeit mit ihr verbracht, sogar mehr als Elise und sowieso mehr als Minchen oder Fritz.
»Was ist nun mit dem Brief?«, fragte Käthchen.
Friederike überflog noch einmal die Zeilen, in denen Carl über seine neue Stelle schrieb. Ursprünglich war er davon ausgegangen, beim Teehandelskontor G. W. A. Westphal eine ordentliche Stelle als Junior-Kommis antreten zu können. Immerhin hatte er ja schon bei Herrn Besthorn zwei Jahre gelernt, und Herr Westphal hatte sich, was die Verzögerung seiner Ankunft betraf, sehr verständnisvoll gezeigt. Doch am Ende war die Stelle bereits besetzt gewesen – und nun war Carl nicht Kommis bei Westphal, wie gedacht, sondern Volontär im Handelskontor eines Herrn Overweg.
»Also, die Stellung ist ganz in Ordnung, schreibt er, und dass er im Hinterhaus mit einem gewissen Anton Berger zusammenwohnt. Die meisten Angestellten haben wohl dort ihre Wohnungen.«
»Wie praktisch. Dass das überhaupt geht! Das muss ja ein riesiges Haus sein«, sagte Käthchen kopfschüttelnd.
»Und hier steht noch etwas über die Familie Overweg.«
»Wolltest du mir etwa das Spannendste vorenthalten?«
»Natürlich nicht. Also hör zu:
Overweg ist, soweit ich das beurteilen kann, ein rechtschaffener Kaufmann und ein ordentlicher Patron. Dabei ist er gar nicht alt, vielleicht Anfang dreißig. Er ist allerdings nicht oft im Kontor, sondern meistens auswärts unterwegs und übrigens ledig. Den Haushalt führen seine beiden Schwestern, die Fräuleins Henriette und Therese Overweg. Sie sind Waisen. Das jüngere Fräulein (Therese) hat die Eltern wohl nie kennengelernt, die Mutter starb bei der Geburt. Das muss ungefähr fünfzehn Jahre her sein.«
»Ob er Interesse an ihnen hat?«, unterbrach Käthchen Friederikes Lektüre.
»Das glaube ich kaum.« Friederike sah ihre Schwester über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Carl hat doch auch hier in Frankfurt kaum nach den Mädchen geschaut. Er hat anderes im Kopf.«
»Aber er ist doch ein junger Mann. Und immerhin erwähnt er diese Mädchen in seinem Brief.«
»Die Schwestern seines Patrons? So dumm ist Carl nicht. Das gibt doch nur Ärger.«
»Du und dein Carl«, sagte Käthchen kopfschüttelnd.
Friederike tat so, als hätte sie den Einwurf gar nicht gehört, und fuhr fort:
»Alles, was ich wissen muss, bekomme ich von Anton erklärt, der sich sehr gut auskennt und überhaupt ein gutes Verhältnis zu jedermann zu haben scheint. Jeden Freitag essen alle gemeinsam oben im Speisezimmer. Ich war bis jetzt zwei Mal dabei. Die Wohnung ist mindestens so groß wie die von Westphals, ebenso prächtig und befindet sich im zweiten Stock. Es gibt ein riesiges Entree mit lauter Türen, von denen ich gar nicht weiß, wo sie alle hinführen, und ein Speisezimmer wie ein Tanzsaal, aber sonst würden auch gar nicht alle hineinpassen, das Kontor hat nämlich neun Angestellte. Also wenn man nur die kaufmännischen zählt. Die anderen, die Auflader und so weiter, sind natürlich nicht eingerechnet und auch nicht bei den Essen dabei. Es ist schick eingerichtet mit schönen Möbeln, Bildern an den Wänden und so weiter. Es gibt auch ein paar chinesische Stücke – Wilhelm hätte seine Freude.
Aber von außen ahnt man das gar nicht, da ist alles ganz schlicht. Es gibt den großen Hof, auf dem immer irgendein Fuhrwerk steht. Das ganze Erdgeschoss ist Lager, im ersten Stock sind die Kontorräume, im dritten und vierten wieder Lager. Und dann gibt es auch noch das Hinterhaus mit Wohnungen und Zimmern für die Angestellten, da wohne ich mit Anton oben unterm Dach. Die anderen haben zum Teil richtige Wohnungen.
So, genug für heute. Heute Abend ist geselliges Beisammensein bei Herrn Wiese, das ist einer der Kommis, da will ich nicht fehlen. Grüße Onkel Nicolaus und die Tanten von mir …
… und die Schwestern und so weiter und so fort.« Friederike faltete die Briefbögen zusammen, steckte sie ineinander und dann zurück in den Umschlag. »Mit Carlchen hat er unterschrieben, nicht mit Carl«, sagte sie lächelnd und nahm die Brille ab. »Ich glaube, er hat Heimweh.«
»Sicher besser so. Besser als wenn ihm die ganze Pracht zu Kopf steigt. Nicht dass er die Frankfurter Verhältnisse aus dem Blick verliert.«
»Carlchen doch nicht. Er wäre am liebsten gleich ganz hiergeblieben. Er macht sich solche Sorgen um das Geschäft und um alles. Ich wünschte, er hätte es einfacher.«
»Und ich wünschte, du hättest es einfacher«, sagte ihre Schwester.
»Was meinst du damit?«
»Ich habe den Eindruck, Herr Besthorn ist noch schwerhöriger geworden. Man muss ihn ja regelrecht anschreien, damit er einen versteht.«
»Da ist was dran«, gab Friederike seufzend zu.
»Vielleicht wäre es sogar besser für dich, wenn er in Rente ginge.«
»Besthorn denkt ganz bestimmt nicht daran.«
Käthchen sah kurz auf und musterte sie nachdenklich. »Entlassen kannst du ihn jedenfalls kaum. Nach allem, was er für dich und das Geschäft getan hat.«
Friederike nickte stumm. Käthchen schaffte es immer wieder, den Finger in Wunden zu legen, an die sie nicht gerne erinnert wurde. Der alte Prokurist war tatsächlich ein Problem, doch heute wollte sie sich nicht damit beschäftigen, ihr war etwas anderes wichtiger. Schon lange hatte sie ihre Schwester etwas fragen wollen und es immer wieder aufgeschoben. Doch irgendwann musste es sein. Jetzt schien ihr der richtige Zeitpunkt gekommen.
»Noch mal zu Carl. Er macht sich so seine Gedanken um seine Schwestern. Vor allem um Elise. Du und Mina, ihr seht sie ja inzwischen häufiger als ich. Hat sie eigentlich einen Verehrer?«
»Ob sie einen …? Ach, darum geht es.« Käthchen lachte. »Nein, nicht das ich wüsste. Mir kommt es eher so vor, als ob sie gar nicht heiraten möchte.«
Friederike nickte. »So kommt es mir auch vor.«
»Eher könntest du sie dafür gewinnen, mit in euer Geschäft einzusteigen. Frag sie doch mal, ob sie die Buchhaltung machen will. Wahrscheinlich würde sie nicht ablehnen.«
Es klang spitz.
»Nicht dass ich es befürworten würde«, fuhr Käthchen fort. »Aber sie könnte es. Elise ist im Rechnen genauso gut wie du oder ich. Außerdem kann sie Französisch, und auch ihr Englisch ist ausgezeichnet.«
»Ich weiß. Clotilde Kochs Konversationskurs zeitigt eindeutige Erfolge. Die Grammatik hat sie sich selbst beigebracht.«
»Sie liest ja sogar englische Literatur im Original. Es wundert mich nicht, wenn ihr das zu Kopf steigt.«
»Willst du damit sagen, dass es ihre Sprachkenntnisse sind, die sie vom Heiraten abhalten?«, fragte Friederike, die den kritischen Unterton in Käthchens Stimme nicht länger ignorieren konnte.
Käthchen zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es ihr nichts nützt. Außer sie heiratet einen Engländer. Oder einen Amerikaner.«
»Oder einen Kaufmann mit einem Importgeschäft«, ergänzte Friederike. »Womit wir wieder beim Thema wären. Also, einen Verehrer gibt es deiner Meinung nach nicht? Es ist mir ja fatal, dass ich dich so etwas fragen muss, aber seitdem ich wieder gesund bin, macht sich Elise ziemlich rar bei mir. Carl will sie jedenfalls verheiratet sehen, lieber heute als morgen.«
»Carl.« Käthchen schüttelte missbilligend den Kopf. »Wieso ist es an ihm, das zu entscheiden? Familienoberhaupt bist ja wohl immer noch du.«
»Ich habe lange darüber nachgedacht, aber in dieser Sache muss ich ihm zustimmen. Du hast doch vorhin die Frankfurter Verhältnisse angesprochen.« Friederike sah auf den Briefumschlag, den sie noch immer in der Hand hielt. »Der Verlust, den wir durch das Hochwasser erlitten haben, ist erheblich.« Sie zögerte. Das Teegewölbe im Saalhof hatten sie zwar rechtzeitig ausräumen können, das zweite Lager, jenes im Haus Limpurg, war jedoch voll Wasser gelaufen.
»Wie hoch ist euer Verlust eigentlich? Das hast du nie gesagt«, fragte Käthchen, als sie nicht weitersprach.
»Siebentausend Gulden.«
»Siebentausend? Mein Gott.« Überrascht ließ Käthchen ihre Handarbeit sinken.
»Ich muss die Ersparnisse angreifen, um das Loch zu stopfen.«
»Du könntest einen Kredit aufnehmen. Das Hochwasser ist schließlich nicht euer eigenes Verschulden. Das machen andere doch gewiss auch so.«
»Ein Kredit wäre wieder eine weitere langfristige Belastung, und wenn irgend möglich, will ich das vermeiden. Zum Glück ist unser Tee vom Hochwasser weitgehend verschont geblieben, und der wirft inzwischen die größten Gewinne ab. Ich habe einiges gespart, aber seitdem Vater tot ist …«
Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Das war auch nicht nötig, denn Käthchen wusste selbst, dass Friederike die alte Mutter finanziell unterstützte, damit diese weiterhin so gut leben konnte wie bisher. Käthchen und Mina, beide ohne Ehemann, konnten nämlich nicht viel dazu beitragen. Eigentlich überhaupt nichts. Im Gegenteil, sie waren selbst auf Unterstützung angewiesen.
Käthchens Wangen röteten sich.
»Und eben darum frage ich. Elise ist einundzwanzig«, fuhr Friederike fort. »Wenn sie heiraten würde, wäre sie versorgt. Die Mitgift wird unter den gegebenen Umständen ja nicht allzu üppig und