Identitätspolitik zwischen Vernunft und Exzess
Wer gendert, das Z-Wort meidet und im Schlaf aufsagen kann, wofür die Buchstabenwürmer LGBTQIA* und BIPoC stehen, gilt in seinen Kreisen als »woke«. Die Mehrheitsgesellschaft dagegen fragt: Haben wir keine anderen Sorgen?
Petra Gerster und Christian Nürnberger führen durch das Minenfeld, das die deutsche Sprache durch identitätspolitische Forderungen geworden ist. Sie bauen eine Brücke zwischen denen, die nicht mehr wissen, was sie noch sagen dürfen, und denen, die schon längst Teil unserer multikulturellen, multiethnischen, multireligiösen und multigeschlechtlichen Gesellschaft sind. Und fragen: Wie können wir einen gemeinsamen Weg zu einem guten Leben in pluraler Vielfalt finden?
Petra Gerster und Christian Nürnberger sind seit 36 Jahren miteinander verheiratet, haben zwei Kinder und wohnen in Mainz.
Petra Gerster ist Journalistin, erfolgreiche Buchautorin und war bis 2021 Moderatorin der ZDF-Hauptnachrichten-Sendung »heute«. Sie wurde mit einigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus und die Goldene Kamera.
Christian Nürnberger, Absolvent der Hamburger Henri-Nannen-Schule, war Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und ist seit 1990 Publizist und freier Autor. Für »Mutige Menschen. Widerstand im Dritten Reich« wurde er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Petra Gerster
Christian Nürnberger
Vermintes Gelände
Wie der Krieg um Wörter
unsere Gesellschaft verändert
Die Folgen der Identitätspolitik
Wilhelm Heyne Verlag
München
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Originalausgabe 11/2021
Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Kerstin Lücker
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-28565-4
V001
www.heyne.de
Inhalt
Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel
1 Ich, die Gender-Terroristin
2 Wird den »Zwangsgebührenzahler*innen« das Gendern »zwangsweise verabreicht«?
3 Kampf um Wörter, Zeichen, Bilder und ein unaufhörlicher Reigen von Entschuldigungen
Zeichen der Zeit – aus der Nähe betrachtet
4 »Was wir gerade erleben, ist Aufklärung!«
5 Darf man heute noch »Mohrenkopf« und »Zigeunersoße« sagen?
6 Rassistisch? Wir doch nicht!
7 Warum soll man denn gewisse Wörter nicht mehr sagen dürfen?
8 Es kracht, ein Politiker lernt mühsam, zwei Fußballspieler lernen schnell
9 Führt mehr Gerechtigkeit in der Sprache zu mehr Gerechtigkeit in der Realität?
10 Dürfen Texte von Schwarzen jetzt nur noch von Schwarzen übersetzt werden?
11 Darf eine Weiße ein Buch über Flüchtlinge schreiben
12 Warum ist denn auch die Frage »Wo kommst du her« verboten?
13 Ist BIPoC jetzt die Lösung?
14 PoC, BIPoC, MemiMi, SOJARIME – Deutschland sucht das Superwort
15 Warum es überhaupt nicht egal ist, wie wir uns und andere benennen
16 Amerikas Versuch, Rassismus mit Rassismus zu bekämpfen
Genderer – Nervensägen, Rebell*innen oder Terrorisierende?
17 Und jetzt: die Queer-Community mit ihrem LGBTQIA*-Bandwurm
18 Adieu, sehr geehrte Damen und Herren
19 Ein Allerheiligstes namens »generisches Maskulinum«
20 Gott schütze uns vor der Dudin
21 Lord Voldemort und der Ruin der Verständlichkeit und Lesbarkeit
22 Warum Gendern, wenn doch die Mehrheit dagegen ist und die Wissenschaft auch?
23 Sie, der Schriftsteller
24 Krämers Waffenladen
25 Audi ist jetzt auch Genderterrorist
26 Bevor Sie weiterlesen
»Denn alles, was nicht ins Bewusstsein steigt, kommt als Schicksal zurück.« (Christian Kracht)
27 Warum das alles, und warum gerade jetzt?
28 Der lange zähe Abschied des alten weißen Mannes aus der Weltgeschichte
Dank
Eine Auswahl der verwendeten Literatur
Quellen
Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel
1
Ich, die Gender-Terroristin
Zuerst hagelte es Beschwerden am Telefon. Dann kamen böse Mails, danach beleidigte Briefe mit der Post, und es hörte nicht auf. Wut, Enttäuschung, Frust schlugen mir entgegen, manchmal sogar Hass. Von alten und sehr alten Doktoren, Professoren und Adligen wurde ich streng belehrt, nicht selten heruntergeputzt wie ein Schulmädchen und ultimativ aufgefordert, endlich aufzuhören mit dem Terror.
Zuletzt erhielt ich auch noch Päckchen. Nein, nichts Ekliges oder Gefährliches drin. Nur Bücher. Bücher, die ich allein oder zusammen mit meinem Mann geschrieben hatte. Die aber mussten sich in den Regalen ihrer Besitzerinnen über Nacht in etwas Gefährliches oder Ekliges verwandelt haben. Darum mussten sie raus, zurück an mich.
Was war passiert? Nicht viel. Eigentlich fast nichts. Wenn ich in den Nachrichten von bestimmten Gruppen sprach, sagte ich nicht mehr, wie ganz früher: Lehrer, Schüler, Sportler, Hörer, Leser, Zuschauer. Auch nicht, wie früher und gelegentlich noch heute: Lehrer und Lehrerinnen, Leser und Leserinnen …
Sondern jetzt: Lehrer*innen, Leser*innen, Zuschauer*innen. Weil die Zeiten, in denen Männer draußen in der Welt ihrem Beruf nachgingen, während drinnen im Hause die züchtige Hausfrau waltete, schon sehr lange vorbei sind. Und weil die binäre Geschlechterordnung – entweder Mann oder Frau – nicht der Realität entspricht. Es gibt in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen, die sich weder mit dem Attribut weiblich noch männlich identifizieren.1 Sie bezeichnen sich selbst als »non-binär«, »divers« oder »Trans-Personen« und sagen, dass sie sich nicht angesprochen fühlen von »meine Damen und Herren« oder »Zuschauer und Zuschauerinnen«, von Zuschauer*innen aber schon.
Der Genderstern ist also ein Inklusionssymbol und Platzhalter. Wo immer er steht, steht er für Männer, Frauen und Diverse.
Deshalb »gendere« ich jetzt. Das ist ein Wort, das viele bis vor Kurzem noch nicht einmal in ihrem aktiven Wortschatz hatten. Nun aber sprechen sie schon routiniert von »Gender-Gaga«, »Sprachpolizei« und »Gedankenkontrolle«. Und ich bin jetzt so etwas wie eine Gender-Terroristin. Dagegen klingt die »feministische Zimtzicke«, wie ich früher einmal von einem berühmten, viel älteren Kollegen genannt worden war, schon fast wie eine Schmeichelei.
Nun also Terroristin. Wegen des Terror-Sternchens im geschriebenen Wort. Und wegen der Terror-Zehntelsekunde im gesprochenen Wort. So lange oder so kurz dauert schätzungsweise die kaum wahrnehmbare Sprechpause zwischen »Lehrer-« und »-innen«. Die gleiche Pause machen wir auch im Wort Bäcker-Innung und in vielen anderen deutschen Wörtern. Sie ist also im Grunde nichts Neues. Neu daran ist nur, dass diese kaum wahrnehmbare Pause jetzt halt auch gemacht wird, um inklusiv zu sprechen. Es ist ein Akt der Höflichkeit und des Respekts, weiter nichts.
Trotzdem muss ich mich unentwegt fragen lassen, ob ich Wörter wie »Pflegekräft*innen«, »Papierkörb*in«, »Mitglieder*innen«, »Christ*innenheit« oder »Bürger*innenmeister*innen« wirklich toll finde. Oder ob Mannheim jetzt in Mann*frauheim und der Herr Neumann in Neumann*frau umbenannt werden müsse? Ob ich Student*innen auch Student*innenfutter verabreichen wolle. Nein, will ich nicht, fordere ich nicht, fordert auch sonst niemand, soweit ich weiß. Und ich erkenne sie als das, was sie sind: Parade-Beispielwörter, die extra zu dem Zweck erfunden wurden, das geschlechtergerechte Sprechen lächerlich zu machen.
Das Problem vieler Gender-Gegner*innen ist, dass sie sich lieber absurde Beispiele ausdenken, als sich ernsthaft der Frage zu stellen, ob sie sich tatsächlich noch auf der Höhe ihrer Zeit befinden, wenn sie Lehrkräfte einfach weiter »Lehrer« nennen, auch wenn 75 Prozent von ihnen Frauen und einige auch Transpersonen sind. Und sie weichen der Frage aus, warum man denen, die um ein bisschen Anstand, Höflichkeit und Solidarität bitten, diese Solidarität und dieses bisschen Höflichkeit verweigern soll.
Die als »Terror« empfundene Zehntelsekunde zwischen »Lehrer-« und »-innen« ist weniger als ein Hauch, eigentlich ein Nichts. Dieses Nichts hatte ich meinem Publikum in den »heute«-Nachrichten des ZDF nur selten mehr als zweimal pro Sendung zugemutet. Aber es verursachte geradezu »körperliche Qualen«, wie mir ein befreundeter Professor schrieb, und bei vielen anderen Abscheu und Aggressivität und den Drang, mir per Wut-Post meine Bücher zurückzuschicken.
Weil ich mit diesem Sternchen die deutsche Sprache verhunze. Weil ich »eigenmächtig« und »willkürlich« das »Kulturgut Deutsche Sprache« beschädige. Weil ich »unsere Sprache vergewaltige und damit unser Gemeinwesen zerstöre«. Weil ich das Lesen, die Verständlichkeit und das Erlernen der deutschen Sprache erschwere. Weil ich meinen wehrlosen Zuschauer*innen mit meinem »Sprachterrorismus« meine Meinung aufzwinge. Weil ich mich durch mein Gendern als »moralisch besser« darstellen und alle anderen »erziehen« will. Weil ich damit meinen Job als Nachrichtenmoderatorin missbrauche. Und weil ich im Verein mit Claus Kleber, Anne Will und dem ganzen öffentlich-rechtlichen System meinem Publikum das Gendern »zwangsweise verabreiche«.2
»Was haben Petra Gerster, Claus Kleber und Anne Will gemeinsam?«, fragte der Mainzer Historiker Andreas Rödder in der Zeitung.3 Nun ja, sie gendern, lautete seine Antwort und brauchte dann nur vier Absätze, um aufzuzeigen, wohin das führt: über die »fluide Geschlechtlichkeit« der US-Philosophin Judith Butler zum Transgender-Verband Iglyo (International Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer & Intersex Youth and Student Organisation), der Geschlechtsumwandlungen von Jugendlichen erleichtern will. Und das erinnere ihn »an die sorglose Verharmlosung von Sex mit Minderjährigen in den achtziger Jahren«.4
Es sind schwere Geschütze, mit denen da auf Menschen geschossen wird, die sich einfach nur höflich und respektvoll ausdrücken möchten. Walter Krämer, im Hauptberuf Statistikprofessor an der TU Dortmund, im Nebenberuf Vorsitzender der Stiftung Deutsche Sprache und des Vereins Deutsche Sprache, beteiligt sich lustvoll an diesem Schützenfest, mit Wortgranaten wie »wahre Pest« und »Krebsgeschwür«.5
Und ist damit nicht allein. Seinen im Januar 2021 initiierten Aufruf Rettet die deutsche Sprache vor dem Duden haben mittlerweile Zehntausende unterschrieben.6 Die Zahl der Unterschriften zu dem im März 2021 vom selben Verein veröffentlichten Aufruf Schluss mit dem Gender-Unfug nähert sich der 100.000er-Grenze. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten haben unterschrieben: Peter Hahne, Didi Hallervorden, Katja Lange-Müller, Sibylle Lewitscharoff, Hans-Georg Maaßen, Dieter Nuhr, Rüdiger Safranski, Bastian Sick, Peter Sloterdijk, Cora Stephan, Uwe Tellkamp, Wolfgang Thierse und viele andere. Es ist eine seltsam anmutende Gruppierung, deren politische Bandbreite von sozialdemokratisch bis weit ins rechte Milieu reicht.7
Das tägliche Beleidigungs- und Protestbriefpaket – so kurz vorm Ende meiner aktiven Zeit im ZDF – hat mich zermürbt. Es hat Kraft und Zeit gekostet, die vielen Mails zu beantworten. Nicht alle hatten ja in so unflätigem Ton geschrieben, dass sich eine Antwort erübrigte. Viele waren höflich oder zwar polemisch, aber mit ernsthaften Argumenten versehen.
Vor allem ihretwegen habe ich mich natürlich gefragt: War es ein Fehler, in den Nachrichten zu gendern? Sollte ich besser wieder damit aufhören, wenn so viele Zuschauer*innen, die ja das ZDF finanzieren, dagegen Sturm laufen? Habe ich das Recht, gegen den Widerstand der Gebührenzahler*innen, der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung meinen Sprachgebrauch so zu ändern, wie ich ihn für richtig halte? Oder habe ich sogar die Pflicht dazu?
Meine Entscheidung, im Fernsehen »eigenmächtig« zu gendern, wird von vielen als eine private Willkürmaßnahme, als Regelverstoß, ja fast schon als Gesetzesverstoß empfunden. Oder als ideologische Verirrung. Aber haben sich die Genderkritiker*innen schon einmal gefragt, wie ihre Entscheidung, nicht zu gendern, von vielen Frauen und Trans-Personen empfunden wird? Zählen deren Empfindungen nichts? Sollen die sich gefälligst an die seit Jahrhunderten geltenden Gepflogenheiten halten und nicht so ein Gewese um ihr Anderssein machen? Wer kann von mir mit welchem Recht verlangen, den immer nur Mitgemeinten das generische Maskulinum »zwangsweise zu verabreichen«?
Ein paar Wochen lang waren die Reaktionen auf mein Gendern tägliches Thema beim Abendessen mit meinem Mann. Bis er schließlich sagte: »Wenn das die Leute dermaßen aufwühlt, dann musst du ihnen begründen, warum du tust, was du tust. Das Thema birgt Stoff für ein ganzes Buch. Also schreib es. Wirst ja bald Zeit haben dafür.«
Und dann verblüffte er mich. In meine gedrückte Stimmung hinein brummte er voller Trotz: »Ab sofort werde ich jetzt auch gendern.« Ich lachte und antwortete: »Na, also aus Solidarität mit mir musst du das jetzt nicht tun. Du hast doch erst kürzlich wieder diesen ›Genderquatsch‹ in Grund und Boden verdammt.«
Er, weiter brummend: »Ja, habe ich. Aber jetzt eben nicht mehr. Dieses nicht enden wollende Gezeter um ein harmloses Sternchen geht mir noch mehr auf die Nerven als die Genderei selbst. Außerdem hast du recht. Warum soll man unhöflich sprechen, wenn man auch höflich sprechen kann?«
Dann drehte er auf: »Weißt du, worum es da eigentlich geht? Nicht um Sprache. Sondern um Politik. Der Genderstern ist ein Geschenk des Himmels für all jene, die seit Jahren besinnungs- und orientierungslos durch die Gegend taumeln und nicht mehr wissen, was liberal, konservativ, rechts oder reaktionär ist. Jetzt wissen sie es wieder. Konservativ ist, gegen das Gendern zu sein. Der Stern ist die Fahne, um die sich die Leute von Mitte-rechts bis ganz rechts scharen, um wieder Orientierung zu finden. Dein Gendersternchen ist deren Fixsternchen.«
Schließlich sagte er: »Auch du hast dich doch lange Zeit gegen den Genderstern gewehrt.«
Stimmt. Aber dann bekam ich diesen Preis des Journalistinnenbundes, die Hedwig-Dohm-Urkunde für »mein frauenpolitisches Engagement« – obwohl ich noch gar nicht mit Sternchen genderte, sondern bei meinen Moderationen einfach immer nur darauf geachtet hatte, die Frauen nicht zu vergessen. Nun aber fing ich an, gründlicher darüber nachzudenken und mich zu fragen, was eigentlich gegen das Gendern spricht. Als ich bei Claus Kleber erstmals beobachtete, wie beiläufig und normal sich das anhörte, merkte ich: Es geht. Es tut nicht weh, erfüllt seinen Zweck und spart Zeit. Also begann auch ich mit dem Gendern in den Nachrichten.
Dann kam der Shitstorm. Nicht sofort, sondern erst, nachdem ich der taz ein Interview gegeben hatte. Es verbreitete sich in Windeseile über die sozialen Medien und landete auch in einschlägigen Foren aus dem Dunstkreis der AfD. Weshalb ich vermute: Vor allem von dort kamen die eifernde Empörung, aggressive Gereiztheit und Kübel von Hass, von Leuten, die kaum ZDF gucken, also gar nicht »mein« Publikum waren.
Für diese Vermutung spricht auch, was danach geschah. Es kam meine letzte »heute«-Sendung im ZDF. Norbert Lehmann verabschiedete mich mit einem Blumenstrauß. Danach begann ein sich über Tage hinziehender Lovestorm, gefühlt hundertmal größer als der Shitstorm zuvor. Da sprachen meine Zuschauer*innen. Und die Kolleg*innen. Den Rest erledigte die »heute-show«.
Von ihr erhielt ich eine Vorladung, um mich dort vor einem Tribunal namens Oliver Welke für mein Gendern zu rechtfertigen. Welke machte es gnädig. Ich kam kaum zu Wort. Alles, was ich mir zurechtgelegt hatte, sagte er selber. Zuletzt überreichte er mir ein Buch, auf dessen Umschlag mein Name und mein Gesicht prangten. Dazu der Titel: »Warum es keine Strafe für mich ist, wenn man mir meine Bücher zurückschickt, weil man hat sie ja schon bezahlt.«
Mein Mann veröffentlichte das Cover auf Facebook. Es meldeten sich die Sprachkritiker und monierten das falsche Deutsch.
2
Wird den »Zwangsgebührenzahler*innen« das Gendern »zwangsweise verabreicht«?8
Ich bin nicht »von oben« zum Gendern gezwungen worden.
Die Verantwortung dafür lag allein bei mir, und dafür, dass mir diese Freiheit gewährt wurde, bin ich den Verantwortlichen des ZDF dankbar; den Kolleg*innen, die mich bestärkten, aber auch den anderen, die mir freimütig sagten, dass sie mein Gendern blöd fänden und mich dafür milde, aber liebevoll bespöttelten. Die gegenseitige Sympathie und die Kollegialität haben darunter nicht gelitten. Auch dafür bin ich dankbar. Und lernte im ZDF: Man kann den Streit ums Gendern ganz gelassen und in freundschaftlicher Atmosphäre führen. Das Fernsehen bildet, ganz seinem Auftrag entsprechend, plurale Wirklichkeit ab: Die einen gendern, die anderen nicht, und alle haben ihre Gründe dafür.
Dann aber wurde doch noch Druck ausgeübt. Von außen. Und zwar von jenem schon erwähnten Statistikprofessor Walter Krämer. Er intervenierte im Namen der Stiftung Deutsche Sprache bei zahlreichen Mitgliedern der Aufsichtsgremien von ARD, ZDF und Deutschlandradio gegen das Gendern. ZDF-Intendant Thomas Bellut antwortete ihm: Man habe sich in der Geschäftsleitung zu dem Thema beraten und sich darauf geeinigt, »für die schriftliche Kommunikation ab sofort den Genderstern (Asterisk) zu verwenden«.
Für journalistische Beiträge jedoch gebe es »keine Vorgaben der Geschäftsleitung«. Den Redaktionen des Hauses sei empfohlen worden zu diskutieren, wie eine Ansprache aller Zuschauer*innen gelingen kann. Für die jungen Mitarbeitenden von »funk« sei das Gendern von Anfang an selbstverständlich gewesen, genauso wie für die Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen. »Hier wird deutlich, dass Sprache einem Wandel unterliegt und nicht festgeschrieben werden kann und auch nicht sollte. Es macht aber auch den Spagat deutlich, den wir als Sender leisten müssen, wenn wir alle Menschen mitnehmen wollen.«9
Die einzelnen Redaktionen, Moderator*innen, Redakteur*innen, Sprecher*innen haben also im ZDF die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob sie in ihren Sendungen gendern oder nicht. Anders beim WDR: Die Mitglieder des Programmausschusses votierten nach kontroverser Diskussion mehrheitlich dafür, dass vor allem in Nachrichtensendungen des WDR diese Sprechweise – gemeint ist das Gendern – »nicht eingeführt werden dürfe«. Es wurde jedoch eine Arbeitsgruppe gegründet, die klären soll, welche sprachlichen Möglichkeiten es gebe, um der Geschlechtervielfalt gerechter zu werden.10
Das beweist: Die Unzufriedenheit mit der alten Sprechweise wächst. Nicht bei allen, aber doch bei einer wachsenden Schar von Menschen, vor allem bei Jüngeren, Frauen und nicht-binären Menschen. Das sah ich auch an den Zuschriften, die mich erreichten. Nicht alle waren negativ, es gab auch positive, allerdings fast alle von jüngeren Frauen. Die bedankten sich für mein Gendern.
Positive und negative Reaktionen bekomme ich auch jetzt noch, nach meinem Abschied vom ZDF. Das Thema beschäftigt die Menschen. Ich selbst wollte es eigentlich abhaken, hatte den Wunsch, erst mal ein bisschen auszuspannen. Muße wollte ich haben, reisen, über einen Hund nachdenken. Und: bloß kein Buch jetzt.
Als ich schon dachte, »mein Buch« sei noch einmal an mir vorbeigegangen, kam mein Mann wieder damit an. Nun sprach er aber plötzlich von »unserem nächsten Buch«. In dem es zwar auch ums Gendern gehen sollte, insgesamt aber um etwas Größeres.
Die Wutbriefe und Hassmails, die ich ihm täglich aus dem ZDF mit nach Hause gebracht hatte, hatten ihn zuletzt fast mehr beschäftigt als mich. »Da rumort etwas in den Köpfen«, sagte er. Von diesem Rumoren wird unser Buch handeln.
Daher verlassen wir im nächsten großen Abschnitt das Thema Gendern und weiten den Blick auf das Ganze dessen, was gegenwärtig unter dem Begriff Identitätspolitik verhandelt wird. Erst zum Schluss greifen wir das Gender-Thema wieder auf und gehen auf die Argumente der Gender-Gegner*innen ein.