Das Mädchen mit dem Drachen

Laetitia Colombani

Das Mädchen mit dem Drachen

Roman

Aus dem Französischen
von Claudia Marquardt

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Laetitia Colombani

Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. Ihr erster Roman »Der Zopf« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wird verfilmt. Für ihren zweiten Roman »Das Haus der Frauen« recherchierte Colombani im »Palais de la Femme« in Paris, einem Wohnheim für Frauen in Not. »Das Haus der Frauen« ist der erste Roman über Blanche Peyron, die 1926 unter widrigsten Umständen eines der ersten Frauenhäuser begründete. Die Idee für ihren dritten Roman »Das Mädchen mit dem Drachen« fand Laetitia Colombani in Indien, in einer Schule für Dalits. Laetitia Colombani lebt in Paris.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Eine Schule am Indischen Ozean - ein hoffnungsvoller Ort, der alles verändert

Am Golf von Bengalen will Léna ihr Leben in Frankreich vergessen. Jeden Morgen beobachtet sie das indische Mädchen Lalita, das seinen Drachen fliegen lässt. Als Léna von einer Ozeanwelle fortgerissen wird, holt Lalita Hilfe bei Preeti, der furchtlosen Anführerin einer Selbstverteidigungsgruppe für junge Frauen. Léna überlebt und fasst einen Plan. Als ehemalige Lehrerin will sie Lalita, die für ihre Familie arbeiten muss statt zur Schule zu gehen, lesen und schreiben beibringen. Allen Widerständen zum Trotz gründen Léna und Preeti die erste Dorfschule, die alles verändern wird.

 

Wie schon in ihren Bestsellern »Der Zopf« und »Das Haus der Frauen« erzählt Laetitia Colombani bewegend und mitreißend von mutigen Frauen, die das scheinbar Unmögliche wagen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

›Le Cerf-volant‹ bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris 2021

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Le Cerf-Volant« bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris.

 

© Editions Grasset & Fasquelle, 2021

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114

D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491495-4

Fußnoten

Traditionelles indisches Brot ohne Sauerteig

In ein Tendublatt gerollte Tabakware

Indisches Gewand über einer weiten Hose

Straßenrestaurant

Beliebte Kampfsportart in Indien

Langer traditioneller Schal, der dazu dient, Kopf und Schultern zu verschleiern.

Wörtlich übersetzt: »Kind Gottes«

Geflochtene Bank, die als Sitz und Bett dient

Gedämpfte Küchlein aus Reis und Linsen

Unterkaste der Jäger und Schlangenbeschwörer

Eine Art traditionelle Flöte oder Klarinette

Gefürchtete und zugleich verehrte Transgender-Gemeinschaft

Eine Art indische Laute

Typisches südindisches Gericht, zubereitet mit Linsen und Gewürzen

Curry mit gebratenen Hülsenfrüchten

Fischcurry, zubereitet mit Tamarindensaft, Knoblauch und Chili

Traditioneller indischer Holzofen

Sehr verbreitetes Mannschaftsfangspiel in Indien

Hinduistischer Asket, der allem Materiellen entsagt, um sich ganz dem Spirituellen hinzugeben

Priester oder Geistlicher, der die Trauung übernimmt

Alte indische Kampfkunst, ursprünglich im Süden des Landes verbreitet

Reisgericht mit Fleisch und Gewürzen

Den Kindern in der Wüste Thar

 

Meiner Mutter,

die ihr Leben lang unterrichtet hat

die den Drachen in den Himmel gefolgt ist

Albert Camus

 

»Das Unglück ist groß, doch der Mensch ist größer als das Unglück.«

Rabindranath Tagore

Mahabalipuram,

Distrikt Kanchipuram,

Tamil Nadu, Indien

Léna erwacht mit einem seltsamen Gefühl, als hätte sie Schmetterlinge im Bauch. Gerade geht die Sonne über Mahabalipuram auf. In der Hütte, gleich neben der Schule, ist es bereits drückend warm. Laut Vorhersage soll die Temperatur an diesem Tag auf vierzig Grad steigen. Léna hat es abgelehnt, eine Klimaanlage einbauen zu lassen – keine der Baracken im Viertel hat eine, wieso sollte für ihre Unterkunft eine Ausnahme gemacht werden? Ein einfacher Ventilator durchknetet die stickige Luft im Raum. Vom nahen Meer weht eine schwüle Brise wie übelriechender Atem herüber, der beißende Gestank von vertrocknetem Fisch überlagert den Duft der Gischt. Ein Schulbeginn in brütender Hitze, unter bleiernem Himmel. In diesem Teil der Welt fängt der Unterricht im Juli wieder an.

 

 

 

Wie fern es ihr erscheint, dieses frühere Leben. Während sie ihren Erinnerungen freien Lauf lässt, spürt Léna, dass sie in einen Ozean aus Angst

 

Von ihrem Bett aus hört sie die ersten Schüler sich nähern. Sie sind früh aufgestanden, voller Erwartung – an diesen Tag werden sie sich ihr Leben lang erinnern. Sie drängeln sich schon am Eingang zum Hof. Léna ist zu keiner Bewegung imstande. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie von der Fahne gehen will. Jetzt aufgeben, nachdem sie so lange gekämpft hat … Was für eine Enttäuschung. Die Sache hat Mut, Geduld und Entschlossenheit

 

In einigen Fällen erwies sich die Verhandlung als besonders schwierig. Ich gebe dir eine von beiden, aber die andere bleibt bei mir, sagte eine Mutter und deutete auf ihre Töchter. Welche traurige Realität sich hinter diesen Worten verbarg, hat Léna bald begriffen. Genau wie die größeren Kinder, müssen hierzulande auch die Kleinen arbeiten, sie

 

Den Eltern gegenüber hat Léna sich wacker geschlagen. Sie hat Abmachungen getroffen, die sie kaum für möglich gehalten hätte, geschworen, den Lohn eines jeden Sprösslings in Reis zurückzuzahlen, um den Fehlbetrag der Familie auszugleichen. Die Zukunft eines Kindes gegen einen Sack Reis, ein seltsamer Tauschhandel, auf den sie sich ohne Skrupel eingelassen hat. Jedes Mittel ist recht, hat sie sich gesagt. Im Kampf um Bildung sind alle

 

Besorgt, weil Léna auf dem Hof nicht zu sehen ist, rennt ein Junge hin zu der Hütte mit den zugezogenen Vorhängen – alle wissen, dass sie dort wohnt, in diesem Anhängsel der Schule, das ihr als Schlaf- und Arbeitszimmer dient. Der Knirps muss denken, dass sie noch nicht wach ist, er klopft an die Tür und brüllt eines der wenigen Wörter, die er auf Englisch kennt: »School! School!« Sein unvermitteltes Rufen kommt einem Appell gleich, einer Hymne an das Leben.

 

Léna weiß nur zu gut, was das Wort bedeutet. Zwanzig Jahre ihres Lebens hat sie in seinen Dienst gestellt. Soweit sie zurückdenken kann, wollte sie immer unterrichten. Ich werde später Lehrerin, behauptete sie schon als Kind. Kein außergewöhnlicher Wunsch, würden manche sagen. Doch ihr Weg hat sie fernab der ausgetretenen Pfade bis nach Tamil Nadu geführt, einem Dorf zwischen Chennai und Puducherry, bis in diese Hütte, in der sie nun liegt. Du brennst für deine Sache, hatte ihr ein Professor an der Uni gesagt. Selbst wenn ihre

 

»Die Kinder haben alles, außer das, was man ihnen nimmt«, schrieb Jacques Prévert – dieser Satz hat sie auf ihrer Odyssee wie ein Mantra begleitet. Léna will diejenige sein, die den Kindern zurückgibt, was man ihnen genommen hat. Manchmal stellt sie sich vor, dass sie später studieren, Ingenieure, Chemiker, Mediziner, Lehrer, Buchhalter oder Agronome werden. Wenn sie dieses Territorium, zu dem ihnen der Zutritt so lange verwehrt war, zurückerobert haben, wird Léna allen im Dorf sagen können: Seht nur, eure Kinder, eines Tages werden sie die Welt regieren und sie zu einem besseren Ort machen, einem gerechteren und freieren Ort. In diesem Gedanken steckt eine gewisse Naivität und natürlich Stolz, aber auch Liebe und vor allem der Glaube an ihren Beruf.

 

»School! School!« Der Junge ruft weiter, und dieses Wort klingt wie eine Kampfansage an das Elend, wie ein gewaltiger Fußtritt wirbelt es Indiens tausendjähriges Kastensystem auf, mischt die Karten

 

School. Wie ein Pfeil trifft dieses Wort Léna mitten ins Herz. Es belebt sie wieder, fegt die Ängste der Vergangenheit beiseite, führt sie in die Gegenwart zurück. Aus ihm schöpft sie die Kraft aufzustehen. Sie zieht sich an, und als sie vor die Hütte tritt, bietet sich ihr ein ergreifender Anblick: Der Hof ist voll Schülerinnen und Schüler, die rund um den Banyanbaum spielen. Wie schön sie sind mit ihren schwarzen Augen, ihren strubbligen Haaren und ihrem strahlenden Lachen. Ein Bild, das Léna unbedingt festhalten, für immer im Gedächtnis behalten möchte.

 

Das kleine Mädchen ist auch gekommen. Aufrecht und stolz steht es da, inmitten des lärmenden

 

Léna gibt dem Kind ein Zeichen. Die Kleine geht zur Glocke und bringt sie mit kräftigem Schwung zum Klingen. Eine Geste, in der viel Energie steckt, die aber von Selbstbehauptung zeugt, von einem neuen Vertrauen in die Zukunft. Das Läuten flirrt durch die bereits warme Morgenluft. Abrupt haben die Spiele und der Lärm ein Ende. Die Schüler laufen zu dem Raum mit den weißen Wänden hinüber, setzen sich auf die Matten, nehmen die Bücher und Hefte in Empfang, die Léna verteilt. Sie schauen zu ihr auf, und plötzlich wird es still, so still, dass man ein Insekt surren hören könnte. Die Schmetterlinge in Lénas Bauch flattern aufgeregt durcheinander. Sie atmet tief durch.

 

Und der Unterricht beginnt.

Das kleine Mädchen am Strand