Für Antonio und Vittorio,
meine Söhne, meine schönsten Geschichten
Why I should pity man more than he pities me?
Warum sollte ich mehr Mitleid mit den Menschen haben als sie mit mir?
Frankenstein oder Der moderne Prometheus
Mary Shelley, 1818
Es ist im Haus!
Frankenstein – Film von James Whale, 1931
Bei der Leuchtreklame oben auf dem Dach fehlen ein paar Buchstaben, andere sind schief und krumm. Auch wenn er erst fünf Jahre alt ist und noch nicht zur Schule geht, kennt er schon das G und das H. Und er weiß, dass der Buchstabe O die Form eines Kreises hat, so wie gerade sein staunender Mund.
»Grand Hotel« liest Vera ihm im Näherkommen vor und zeigt auf das hohe verschlafene Gebäude vor ihnen. Die Fenster sehen aus wie blinde Augen. Lange bröckelnde Risse, wie Spuren getrockneter Tränen, ziehen sich über die Fassade. Die bunten Werbeschilder lassen das Haus wie einen gedemütigten Riesen erscheinen, statt heitere Betriebsamkeit auszustrahlen. Die Eingangstür erinnert an ein kaputtes Drehkarussell und ist mit Holzbalken verrammelt. Auf dem Vorplatz ragen Unkrautbüschel wie die Finger eines Skeletts, das seiner Gruft entfliehen will, zwischen den Steinplatten hervor.
Abgesehen vom Chor der Zikaden ist nur das Klappern von Veras Holzschuhen zu hören. Und das Schlurfen des kleinen Jungen. Er trägt ein ärmelloses T-Shirt, blaue Shorts und Plastiksandalen und kann kaum Schritt halten mit Vera, die in ihren Pantoletten mit den glänzenden Schnallen grazil wie ein Flamingo voranstrebt.
Die Sonne blendet. Doch der Junge kann seinen Blick nicht von der Frau lösen, während er hinter ihr herstolpert. Vera trägt ihre dunkle Katzenaugenbrille, und die drei dicken Armreifen rutschen ihr fast über den Ellbogen, da sie ihren Strohhut mit dem rosa Band festhalten muss. Der Junge mag den Hut, sie haben ihn zusammen in einem Souvenirgeschäft gestohlen. Er hat sie gebeten, ihn aufzusetzen, bevor sie am Morgen das Haus verlassen haben, und sie hat ihm den Gefallen getan. Unter ihren Shorts und der leichten Bluse trägt Vera einen Bikini mit grünen und gelben Blumen. Wie ein Filmstar. Ihr dichtes hellblondes Haar glänzt in der Morgensonne. Ihre Haut ist weich und glatt und mit winzigen Sommersprossen übersät, die man nur sieht, wenn man ganz nah vor ihr steht.
Der Junge schaut sie an und wird traurig. Manchmal denkt er, dass er so eine hübsche Mama nicht verdient hat. Dick und plump, wie er ist. Und sie so perfekt.
»Los, komm, wir sind fast da«, treibt Vera ihn an.
Der Junge ist außer Atem, am liebsten würde er sie bitten, langsamer zu gehen, doch er hat Angst, dass sie dann seine Hand loslässt. Sie haben so selten Körperkontakt, der Junge kann kaum glauben, dass sie sich noch nicht von seiner verschwitzten Hand befreit hat.
Doch heute ist ein besonderer Tag.
Über Veras Schulter hängt eine große Tasche, in die sie Badetücher und Proviant gestopft hat: zwei Brötchen und ein paar Flaschen Cola. Es riecht nach Mortadella, und die Flaschen stoßen mit leisem Klirren gegeneinander.
Heute ist der Tag ihres »großen Abenteuers«.
Seit Wochen sprechen sie davon. Es war ihre Idee, und allein das ist schon außergewöhnlich genug. Der Junge hatte gedacht, sie würde es vergessen, wie sonst auch. Aber nein, sie hat ihm etwas versprochen, und offensichtlich hält sie sich daran.
Dass der Schauplatz des großen Abenteuers anders aussieht, als er sich vorgestellt hat, macht ihm nichts aus. Wenigstens sind keine »Schmeißfliegen« da. Auf der Straße drehen sie sich immer nach Vera um, sie umzingeln sie mit ihren tausend Blicken und ihrem unflätigen Brummen. Sie scheint es als Einzige nicht zu bemerken. Manchmal schafft es einer der Brummer, sie zum Lachen zu bringen, und dann lässt Vera ihn in ihr Leben eindringen, ohne den Jungen zu fragen, ob er damit einverstanden ist. Doch heute ist es anders. Heute wird niemand seine Mutter zum Lachen bringen, sodass sie ihr Kind vergisst.
Heute gehört sie nur ihm allein.
Immerhin hat er inzwischen gelernt, dass die Schmeißfliegen kommen und gehen. Niemand bleibt. Entweder hat Vera irgendwann genug oder andersherum. Normalerweise kümmern sie sich nicht um ihn, was dem Jungen nur recht ist. Manchmal bemerkt ihn aber doch einer und versucht, den Vater zu spielen, der er nicht ist, und ihn zu erziehen. Vom letzten Erziehungsversuch hat er noch ein Brandmal unter der Achsel übrigbehalten, der Kuss einer glühenden Zigarettenspitze.
Der Junge weiß nicht, wer sein Vater ist. Er hat Vera nie danach gefragt. Wahrscheinlich eine von den Schmeißfliegen auf der Durchreise. Ein besonders dickes, hässliches Exemplar, das noch schnell seine ganze Widerwärtigkeit in Veras Bauch zurückgelassen hat, bevor es wieder verschwunden ist. Das Resultat ist er. Vielleicht hat Vera ihm deshalb verboten, »Mama« zu ihr zu sagen. Er nennt sie nur in Gedanken so. Auch das Wort »Familie« gibt es bei ihnen nicht. Aber sogar Vera weiß, dass man dem Kind, das man in die Welt gesetzt hat, bestimmte Dinge erklären muss. Und zwar so, dass es sie begreift. Also haben sie vor ein paar Wochen zusammen einen Film über eine Familie angeschaut, die einen Ausflug ans Meer gemacht hat. Da war ein Junge, so wie er. Sein Vater hat ihm eine Taucherbrille geschenkt und ihm gezeigt, wie man sie benutzt.
Das große Abenteuer besteht darin, dass Vera versprochen hat, ihm heute das Schwimmen beizubringen.
Er hat allerdings keine Badehose, worauf er sie vor dem Weggehen aufmerksam gemacht hat. Aber Vera hat nur gesagt: »Du brauchst keine Badehose, deine Unterhose reicht vollkommen.«
Inzwischen ist es ihm egal, es wird auch so gehen. Mit klopfendem Herzen bahnt er sich zusammen mit ihr den Weg durchs Gestrüpp, über Bauschutt und Glasscherben hinweg. Sie gehen einmal um das Grand Hotel herum, bis sie auf der Rückseite angelangt sind.
»Was habe ich dir gesagt?«, ruft Vera begeistert und zeigt auf das Becken vor ihnen, das wie eine Bohne geformt ist.
Ohne es zu merken, löst der Junge seine Hand aus der der Mutter und bleibt wie angewurzelt stehen. Obwohl er erst fünf Jahre alt ist, weiß er schon, wie schmerzhaft es sein kann, wenn man sich zu sehr auf seine Fantasie verlässt. Vor allem, wenn Vera etwas anderes im Kopf hat. Doch diesmal ist es schlimmer. Die Wirklichkeit schnürt ihm die Kehle zu.
Das Wasser ist schwarz und glänzend wie eine Filmrolle. Dicht über der Oberfläche schwirren Insekten und ein paar Libellen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragt Vera genervt.
»Nichts«, erwidert der Junge, doch ihm ist klar, dass sie ihm seine Enttäuschung anmerkt.
»Sag schon, was ist?«
Er kann einfach keine Begeisterung heucheln.
»Wir können auch wieder nach Hause fahren«, sagt Vera drohend.
»Nein, nein!«, beeilt er sich, sie von dem Gedanken abzubringen. Er hat Angst, alles kaputtgemacht zu haben. »Lass uns bleiben«, sagt er fast flehentlich.
Für einen Moment schaut Vera ihm ins Gesicht, eine Augenbraue hebt sich über die dunklen Brillengläser. Dann blickt sie sich um.
»Suchen wir uns einen Platz, wo wir uns hinlegen können«, beschließt sie und holt ein Badetuch aus ihrer Tasche.
Sie entscheiden sich für ein freies Stück Betonboden zwischen ein paar durchgesessenen Liegestühlen. Vera zieht Shorts und Bluse aus und legt sich auf das Badetuch.
»Ziehst du dich nicht aus?«, fragt sie. »Komm schon, nur nicht so schüchtern!«
Der Junge beginnt mit der Hose, dann ist das T-Shirt an der Reihe. Seine Mutter lässt ihn nicht aus den Augen. Er schämt sich. Er wartet darauf, dass Vera einen ihrer üblichen Scherze macht, ihn »Dickerchen« oder »Moppel« nennt. Aber diesmal passiert es nicht.
»Warum gehst du nicht ins Wasser?«, schlägt sie vor.
Er dreht sich zu dem Becken um, schweigt.
Vera lacht, als sie seine Reaktion bemerkt. Aber es ist ein gutmütiges Lachen. Sie fängt an, in ihrer Tasche zu wühlen.
»Ich habe dir was mitgebracht«, sagt sie.
Eine Überraschung? Normalerweise sind die Überraschungen seiner Mutter mit Vorsicht zu genießen. Wie bei dem einen Mal, als sie gesagt hat, sie geht ihm ein Geburtstagsgeschenk kaufen, und er drei Tage lang allein zu Hause war.
Aber jetzt zieht sie ein Paar Schwimmflügel aus der Tasche.
»Für den Anfang nimmst du die«, erklärt sie und beginnt, sie aufzublasen. »Damit lernst du ganz schnell schwimmen.«
Ein Geschenk – er kann es nicht glauben. Vera hat höchstens mal etwas für ihn gestohlen, wenn sie zusammen in einem Geschäft oder im Supermarkt waren. Meistens Schuhe oder Kleidung. Alles, was er besitzt, seine wenigen Spielsachen inbegriffen, ist geklaut oder hat früher jemand anderem gehört, der es nicht mehr haben wollte.
Als seine Mutter fertig ist mit Aufblasen, hilft sie ihm, die Schwimmflügel überzustreifen. Zufrieden blickt er auf die dicken orangefarbenen Ringe um seine Oberarme. Jetzt muss er nur noch den Mut aufbringen, in dieses Wasser zu gehen.
»Jetzt bist du bereit«, ermutigt sie ihn.
Tapfer nähert sich der Junge dem Becken, doch auf halber Strecke bleibt er stehen. Er sieht den Schatten seiner Mutter nicht mehr neben sich. Also dreht er sich um: Vera sitzt noch immer auf ihrem Badetuch, sie zündet sich eine Zigarette an.
»Kommst du nicht?«, fragt er.
»Ich rauche die noch zu Ende, dann komme ich«, verspricht sie. »Geh schon mal rein.«
Lieber würde der Junge auf sie warten. Sie errät seinen Gedanken sofort.
»Was ist … hast du Angst?«
Der Junge mag diesen Tonfall nicht. Aber Vera spricht oft so mit ihm. Manchmal auch, wenn eine von den Schmeißfliegen dabei ist. Dann machen sie sich zusammen über ihn lustig.
»Ich habe keine Angst«, sagt er.
Er will die Stimmung nicht verderben und gibt sich mutiger, als er ist. Am Beckenrand angekommen, taucht er den großen Zeh ins Wasser. Er muss an Brombeergelee denken, so dunkel und glibberig ist es. Er weiß, dass Vera ihn beobachtet, er fühlt ihre Blicke zwischen den Schulterblättern. Er beschließt, nicht länger zu zaudern, und setzt sich hin, um erst mal die Beine einzutauchen, bis zum Knie. Er sieht, wie sie von der dunklen Flüssigkeit verschluckt werden. Ein kalter Schauer rieselt ihm über den nassgeschwitzten Rücken. Er ist nur noch Oberkörper, nur noch Rumpf. Sein Atem wird schneller.
»Die Schwimmflügel halten dich über Wasser«, ruft Vera von ihrem Sonnenplatz aus. »Und ich habe dich im Blick.«
Der Junge versucht, all seinen Mut zusammenzunehmen, um in diese schwarze Brühe einzutauchen. Er weiß, dass er nicht viel Zeit hat. Die Zeit ist die Verbündete der Angst – das hat er gelernt, als Vera einmal, als sie unglücklich war und zu viel getrunken hatte, einen schweren Glasaschenbecher nach ihm geworfen hat. Eine Angstsekunde zu viel, und er hatte eine tiefe Platzwunde hinter dem Ohr.
»Wenn du nicht freiwillig gehst, schubse ich dich rein«, sagt seine Mutter finster und stößt eine Rauchwolke aus.
Der Junge schließt die Augen, lässt sich hineingleiten.
Im ersten Moment sinkt er in die Tiefe, doch dann wird er wieder nach oben gezogen. Zum Glück halten ihn die Schwimmflügel über Wasser. Dafür scheint das Becken zum Leben erwacht zu sein. Ein unangenehmes Gefühl. Er beginnt, hektisch mit den Beinen zu strampeln, nicht, weil er schwimmen will, sondern, um die Flucht zu ergreifen.
»Na, siehst du jetzt, wie einfach es ist?« Veras Stimme klingt vorwurfsvoll. »Jetzt versuch mal, Kreise zu ziehen.«
Kreise ziehen, was soll das heißen? Er weiß nicht mal, wie man seine Schwimmrichtung ändert. Aber er will sie nicht enttäuschen. Er versucht sein Bestes, bewegt jetzt auch die Arme, und irgendwie kommt er vorwärts. Stolz erfüllt ihn, als er es fast bis zur Mitte des Beckens geschafft hat. Doch das Gefühl ist nicht von langer Dauer.
Da ist etwas, direkt unter ihm, er kann es spüren. Etwas, das ihn festhalten will. Eine Berührung am Knöchel.
Was ist das, eine Hand?
Er fürchtet, in die Tiefe gezogen zu werden. Ruckartig weicht er zurück, um sich zu befreien. Er stößt einen schrillen Schrei aus, »wie ein Mädchen«, wie Vera sagen würde.
Sein Fuß stößt an einen Fremdkörper, der kurz neben ihm auftaucht und sofort wieder versinkt. Ein knotiger, trockener Ast. Er hört das ferne Lachen seiner Mutter.
Doch sofort wird seine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt. Ein Luftzug, direkt neben seiner Wange. Woher kommt er? Er dreht den Kopf zu seinem rechten Schwimmflügel.
Da ist ein winziges Loch in dem orangefarbenen Plastik.
Dieses Löchlein genügt, um die Luft komplett entweichen zu lassen. Der Schwimmflügel wird immer schlaffer, sein Arm immer schwerer.
Er nimmt seine ganze Kraft zusammen. Nur zwei, drei Schwimmzüge, schätzt er, und er ist zurück am Beckenrand. Doch in dem Moment bemerkt er, dass auch der linke Schwimmflügel an Volumen verliert.
Seine einzigen beiden Helfer, die ihn vor dem Abgrund bewahren, sie verlassen ihn.
Er dreht und windet sich, fest davon überzeugt, dass der Tümpel ihn nicht freigeben wird. Mit dem Kinn taucht er immer wieder unter Wasser, die schwarze Suppe schwappt gegen seine Lippen. Das Becken will ihn nicht gehen lassen.
Vera muss ihm helfen, denkt er. Es gelingt ihm, den Kopf in ihre Richtung zu drehen, er versucht, nach ihr zu rufen, fast bringt er ihren Namen hervor. Die Szene, die vor ihm aufscheint, dauert nur einen Augenblick und verstört ihn zutiefst.
Vera hat das Badetuch vom Boden aufgehoben und in ihrer großen Tasche verstaut.
Panik ergreift ihn. Sein Körper wird steif, sinkt wie ein Stein nach unten. Er kämpft, schlägt um sich und schafft es, wieder hochzukommen. Erneut schaut er zum Beckenrand. Vera hat sich den Strohhut aufgesetzt und die Katzenaugenbrille, sie hat ihm den Rücken zugewandt, ihre Hüften schwingen, als sie auf ihren Holzpantinen mit den glänzenden Schnallen ruhig davongeht.
Sein Kinderherz versucht ihm einzureden, dass das nicht wahr ist, nicht wirklich passiert. Er möchte schreien, sie zurückrufen. Doch auf diese Weise schluckt er nur noch mehr von dem moderigen Wasser, das ihm den Atem nimmt. Um sie mit dem Blick zu suchen, legt er den Kopf in den Nacken. Er sieht sie nicht. Sie ist gegangen, sie ist weg.
Seine Mutter ist nicht mehr da!
Die Schwimmflügel sind bloß noch schlappe Anhängsel. Er weint und rudert mit den Armen. Aus der Tiefe steigen Abfälle empor, treiben um ihn herum: Plastikflaschen, Getränkedosen, rostige Kanister, Müllbeutel. In seiner Not greift er danach, will sich festhalten. Vergeblich. Er hört seine eigenen erstickten Hilferufe, spürt die Tränen über seine nassen Wangen laufen. Angst und Entsetzen explodieren in seinem Bauch.
Der Beckenrand ist nah und doch so fern. Immer wieder gerät er mit dem Kopf unter Wasser, aber noch schafft er es jedes Mal, sich an die Oberfläche zurückzukämpfen. Wie lange wird er durchhalten? Sein nächster Atemzug kann der letzte sein, er weiß es. Wie ein Berserker schlägt und tritt er auf das Wasser ein, er will nicht aufgeben. Ein Fisch in einem riesigen Spülbecken, der sich gegen den Sog des Abflusses wehrt. Der Beckenrand ist nah. Aber nicht nah genug.
Nicht nah genug!
Er merkt, wie seine Kräfte nachlassen. Er hat einen Krampf in beiden Beinen, kann sie nicht mehr bewegen. Auch seine Arme erlahmen, er spürt sie kaum noch. »Das Dickerchen ertrinkt, das Dickerchen säuft ab«, sagt er zu sich selbst, wieder und wieder, mit der gleichen mitleidlosen Stimme wie Vera, wenn sie gegen ihn stichelt.
Doch genau in dem Moment entdeckt er etwas, mit dem er niemals gerechnet hätte. Ein stilles Geheimnis, das in seinem Inneren schlummert, wer weiß, wie lange schon, vielleicht von Anfang an, gut versteckt unter den vielen Speckrollen.
Eine unbekannte Kraft.
Die Arme, die er für nutzlos gehalten hat, strecken sich von alleine in die Länge und schlagen mit aller Macht auf die Wasseroberfläche ein; in die Füße und Beine kommt wieder Leben, kraftvoll geben sie ihm Auftrieb. Er weiß nicht, woher dieser plötzliche Energieschub kommt. Es ist, als hätte jemand anders die Kontrolle über seinen ungelenken Körper übernommen. Sein Kopf hebt sich aus dem Wasser, er bekommt wieder Luft. Seine Lungen füllen sich mit Leben. Noch ein Zug. Und noch einer. Bis er gegen die Beckenwand stößt und sich an dem glitschigen Rand festhalten kann. Für eine Weile verharrt er so, zitternd. Seine kalkweißen Finger krallen sich um die gekachelte Wölbung. Er wird von Krämpfen geschüttelt, kann nichts dagegen tun. Die Sekunden vergehen. Die Minuten.
Um ihn herum nur der gleichmütige Gesang der Zikaden.
An den Beckenrand geklammert, arbeitet er sich bis zu einer rostigen Leiter vor, der mehrere Sprossen fehlen. Mühsam hangelt er sich hinauf und klettert aus dem dunklen Tümpel. Die Luft ist warm, doch ihm ist kalt. Urin rinnt an seinen Beinen herunter, er merkt es nicht einmal. Er hört nur das Wummern seines Herzens.
»Mama …«, ruft er mit erstickter Stimme. »Mama …«
Es kümmert ihn nicht, dass sie ihn wegen seines Schluchzens bestimmt heruntermachen wird.
Er weiß nicht, was er tun, wohin er gehen soll. Er hat nur zwei Gewissheiten.
Seine Mutter hat ihn im Stich gelassen. Und er kann jetzt schwimmen.
Der stillste Ort auf Erden.
Das hatte der Müllmann in einer Zeitung gelesen, die jemand vor langer Zeit einmal auf einem Sitz im Bus hatte liegen lassen.
Die Titelzeile bezog sich auf den Comer See.
In dem Artikel ging es eigentlich um Häuser, nicht um Menschen. Leerstehende Häuser, optimale Gelegenheiten, um zu investieren. Zumindest hatte er es so verstanden. Das Lesen fiel ihm nicht besonders leicht, oft verstand er den Sinn eines Satzes nicht ganz. Aber diese Worte hatten ihn beeindruckt, daher hatte er beschlossen, ein Zeichen in ihnen zu sehen.
Auch an jenem Morgen im Spätfrühling musste er wieder an diese Überschrift denken, als er seine Runde in einem Wohnviertel mit Einfamilienhäusern und viel Grün begann.
Das Zifferblatt der Quarzuhr, die den Takt seines Lebens vorgab, zeigte genau zehn vor fünf an. Es war noch dunkel. Am Horizont war der See zu erkennen, eine lange Linie aus Graphit, schwarzsilbrig. Auf der Straße, die sich den Hügel hinaufwand, war niemand zu sehen. Außer ihm selbst natürlich. Am Steuer des orange-grünen Kleintransporters der Städtischen Müllabfuhr, das Fenster gerade so weit geöffnet, dass die prickelnde Luft hereinwehen konnte, ihm aber das korrekt frisierte mahagonibraune Haar mit dem Seitenscheitel nicht durcheinanderwirbelte.
Der Müllmann betrachtete die Häuser und stellte sich vor, wie ruhig es in ihnen sein mochte; sicher lagen die Bewohner noch alle wohlig warm unter ihren Decken. Junge Paare, Paare mit Kindern, alte Paare. Alle in ihren eigenen Betten. Dann waren da diejenigen, die aus irgendeinem Grund keine Familie hatten. Weil sie verwitwet waren oder geschieden oder im Laufe ihres Lebens keinen passenden Partner gefunden hatten. Alleinstehende Menschen. Viele von ihnen starben, ohne einen Erben zu hinterlassen – deshalb gab es auch so viele leerstehende Häuser in der Gegend.
»Der stillste Ort auf Erden«, trällerte er leise vor sich hin. Aber es war zugleich der einsamste, auch wenn das niemand zugab. Doch genau aus dem Grund hatte der Müllmann vor zehn Jahren beschlossen, dorthin zu ziehen. Und inmitten all der Einsamkeit war da nun auch seine eigene.
Er fuhr rechts ran und stellte den Motor ab. Vorsichtig, um seine Frisur nicht durcheinanderzubringen, setzte er die Schirmmütze mit dem Logo der Städtischen Müllabfuhr auf. Dann stieg er aus und ließ leise die Autotür zufallen. Sofort wurde er von einer beruhigenden Stille umfangen, als hätte man auch ihm eine warme Decke um die Schultern gelegt. Er setzte seine Nickelbrille ab, putzte die Gläser mit dem Saum seiner orangefarbenen Weste, die er über den grünen Arbeitsoverall gezogen hatte, setzte sie wieder auf und schaute sich um. Bald würde das Licht in den ersten Fenstern angehen, die Welt wieder dem täglichen Wahnsinn anheimfallen.
Doch noch war es nicht so weit. Noch war er der unbestrittene Herr der Schöpfung.
Ihm blieben zwei, drei Minuten, bevor seine Schicht begann. Er beschloss, den wunderbaren Zustand der Stagnation zu genießen. Banale Gesten erhielten eine ganz andere, eine höhere Bedeutung zu dieser Uhrzeit. Mit den Fingern zu knacken beispielsweise: Im alltäglichen Lärm gingen diese zarten Geräusche vollkommen unter, in der jetzigen Ruhe jedoch klangen sie plötzlich ganz laut. Noch viel lieber als alles andere mochte er es zu atmen. Eine der kleinen Freuden im Leben, die viele vergessen hatten oder auf die sie nicht achteten. Der Müllmann hatte sie als Fünfjähriger in einem Brackwasserbecken zu schätzen gelernt. In vollen Zügen atmete er ein und wieder aus.
Die Morgenluft war das Beste. Er versuchte immer, die Frühschicht zu bekommen. Neben anderen Vorteilen wie dem, nicht mit irgendwelchen Kollegen reden zu müssen, konnte er die Ruhe bis ins Letzte auskosten. Ein derart intimes Privileg war nicht mit anderen zu teilen.
Der Müllmann war ein schweigsamer Mensch. Und auch wenn er nachdachte, waren seine Gedanken ausgiebige Betrachtungen, das Dahingleiten stummer Bilder in seinem Kopf, begleitet von beinah elementaren Empfindungen.
Er hatte jedoch gemerkt, dass seine Introvertiertheit den anderen unangenehm war. Niemand war gern mit einem Menschen zusammen, der die ganze Zeit kein Wort herausbrachte, nicht rauchte, keinen Alkohol trank, sich nicht an Gesprächen über Sport oder Frauen beteiligte, ja noch nicht einmal eine Ehefrau oder Kinder hatte, über die er sich beschweren konnte. Ein Mann ohne Freunde, hätte man sagen können. Ein Mann, der das alles nicht braucht, hätte er gesagt, wenn er zu einer solchen Selbstbeschreibung fähig gewesen wäre. Denn wenn er über sich selbst nachdachte, fiel dem Müllmann keine Charakterisierung ein.
Straßen reinigen, Abfälle beseitigen – diese Tätigkeiten beschrieben ihn am besten.
Er war sich der häufig negativen Wahrnehmung seiner Arbeit bewusst. Die Leute begriffen zwar, dass sich jemand um ihren Müll kümmern musste, sahen aber trotzdem auf diejenigen herab, die damit beauftragt waren. So als wäre es ein Zwang oder eine Strafe. Ihm machte es jedoch nichts aus. Weder störten ihn die üblen Gerüche, noch ekelte er sich davor, das anzufassen, was andere widerlich fanden. Jemand musste sich nun mal dieser unerfreulichen Aufgabe annehmen, das war ein unumstößliches Gesetz.
Die Müllbeseitigung in Como und in der Gegend um den See wurde diskret abgewickelt. Es war eine Art Spiel, bei dem es ums Prestige ging. Jede Nacht bis zum Sonnenaufgang war ein Heer von Mitarbeitern der Städtischen Müllabfuhr damit beschäftigt, die Stadt zu reinigen, während die Bewohner noch tief und fest schliefen.
Dreimal pro Woche, bevor die Straßen mit dem Wasserschlauch abgespritzt wurden, fuhren die orange-grünen Kleintransporter von Haus zu Haus und sammelten die Abfallsäcke ein, die die Bewohner am Vorabend beflissen auf den Bürgersteig gestellt hatten. Fest verschlossen und von unterschiedlicher Farbe, je nachdem, welche Art von Müll laut Kalender gerade gesammelt wurde.
Es war Donnerstag, da waren die Biosäcke an der Reihe.
Die Quarzuhr am Handgelenk des Müllmanns piepte: Punkt fünf. Zeit für seine Schicht. Er holte seine Arbeitshandschuhe aus dem Kleintransporter und zog sie an. Genau in dem Moment, als die Morgensonne Millionen von Funken auf der Oberfläche des Sees entzündete, begann er, die Müllsäcke vor den Gittertoren der Villen einzusammeln. Als er fertig war, ging er zurück zum Kleintransporter und warf sie sorgsam einen nach dem anderen auf die Ladefläche. Ohne dabei ein Geräusch zu verursachen, er war sehr gewissenhaft. Dann stauchte er sie mit einem Stock zusammen.
Sie hatten ihm das Viertel vor sechs Wochen zugewiesen, und dem Rotationsprinzip zufolge würde er vom Folgetag an ein neues erhalten. Es tat ihm ein wenig leid, er hatte sich an die Gegend gewöhnt. Nun würde er seine kleinen Rituale in einem anderen Bezirk neu erschaffen müssen.
Sechs Wochen lang hatte er zum Beispiel jeden Morgen vor der Hausnummer 23 Halt gemacht und die Villa aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert betrachtet. Sie hatte eigenwillige Fenster mit Spitzbögen, Zinnen auf dem Dach und eine Einfriedung aus Gitterstäben. Ein Mittelding aus Kirche und Schlösschen. Die Spitzenvorhänge waren zugezogen, doch auf dem breiten Fensterbrett, neben einer Vase mit Hortensien, sah man ein großes Kissen, auf dem sich fünf Katzen aneinanderkuschelten. Eine silberfarben, eine schwarz-weiß, eine mit einem schönen rötlichen Fell und zwei getigerte.
Der Müllmann schob sich die Brille auf dem Nasenrücken hoch, warf einen letzten Blick auf das auffällige Gebäude und griff nach dem Beutel mit Biomüll, der neben dem Gitter lehnte.
Er wog ein paar Pfund, nicht mehr.
Como war die stillste und einsamste Stadt der Welt. Und inmitten all dieser Einsamkeit, auch seiner eigenen, war die der Frau, die in diesem Haus lebte.
Er ging zurück zu seinem Transporter, doch statt den Biomüllbeutel auf den Haufen zu den anderen zu werfen, öffnete er die Fahrertür und stopfte ihn unter den Sitz.
Dann stieg er ein und startete den Motor, um seine Tour fortzusetzen.
Gegen drei Uhr an einem sonnigen, aber kühlen Nachmittag verließ ein städtischer Angestellter wie viele andere in Alltagskleidung den Kommunalen Wertstoffhof, um nach Hause zu gehen.
Es entsprach dem Bild, das der Müllmann von sich hatte: Wenn er seinen Arbeitsoverall abgelegt hatte, trug er am liebsten Kleidung, die er im Supermarkt kaufte, vorzugsweise unauffällige Teile. Die Farben sollten möglichst neutral sein. Normalerweise helle Jeans und dunkle Schnürschuhe, ein anthrazitfarbener Pullover, ein hellblaues oder weißes Hemd und eine graue Windjacke mit abnehmbarer Kapuze, falls es regnen würde.
An diesem Tag hatte er außerdem eine schwarze Schultertasche umgehängt.
Er nahm mindestens vier Busse, um das Vorstadtviertel zu erreichen, in dem er wohnte, auch wenn ein einziger genügt hätte. Es gab keinen speziellen Grund dafür, er war einfach nur vorsichtig.
Er stieg an der üblichen Haltestelle aus und ging mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen vergraben, zu dem langgezogenen Platz, der als Innenhof einer Ansammlung von Hochhäusern diente. Die Tasche schlug bei jedem Schritt rhythmisch gegen seine Hüften, als er zwischen Scharen von Kindern hindurch die mit ein paar Kreidestrichen auf dem Asphalt improvisierten Fußballplätze überquerte. An niedrige Trennmauern gelehnt standen rauchend Frauen, die sich in unverständlichen Sprachen miteinander oder am Handy unterhielten, manche schaukelten Kinderwagen, andere diskutierten mit weit ausladenden Gesten. Die Männer hielten sich etwas abseits, sie wirkten ruhiger und hatten fast alle ein Bier in der Hand. Im Hintergrund drang eine wilde Kakophonie unterschiedlicher Rhythmen und Melodien aus den Lautsprechern der Autos, die mit heruntergelassenen Scheiben auf dem Parkplatz standen. In dieser lärmenden bunten Menschenmenge wirkte der Müllmann wie ein Außerirdischer. Er war hier der Fremde, der allen anderen hätte auffallen müssen. Doch niemand grüßte ihn, nicht einmal eines Blickes würdigte man ihn. Um nicht bemerkt zu werden, hätte er den bevölkerten Platz auch meiden können, doch er hatte schon vor einiger Zeit festgestellt, dass er keinerlei Risiko einging, wenn er sich unter die Leute mischte: Seine Anwesenheit wurde ebenso wenig bemerkt wie die einer Küchenschabe bei einer Tanzparty. Früher hatte ihn das verletzt, doch dann hatte er sich eines Besseren besonnen. Wie viele Menschen besaßen diese Gabe? Sie hob ihn von der Masse ab.
Ich bin unsichtbar, hatte er sich gesagt.
Er betrat einen der zahlreichen Eingänge der Mietskaserne. Auf dem Dach ragte ein Wassertank in die Höhe. Der Müllmann nahm den einzigen Aufzug, der funktionierte, um in den siebten Stock zu gelangen. Seine Wohnung war die letzte in einem engen dunklen Korridor. Um sich Zutritt zu verschaffen, musste man drei Sicherheitsschlösser überwinden, die er noch am Tag seines Einzugs an der Wohnungstür angebracht hatte. Er wühlte in den Taschen seiner Windjacke und zog einen kleinen Blechpanzer hervor, an dem der Ring mit den Schlüsseln hing. Eines nach dem anderen öffnete er die Schlösser.
Er trat über die Schwelle, schloss von innen ab und ließ die Außenwelt mit einem Gefühl der Erleichterung hinter sich.
Die Wohnfläche bestand aus gerade einmal zwei Zimmern und einem schmalen Bad. Das erste Zimmer war Wohnzimmer und Küche in einem, auch ein Sofa stand darin, das jeden Abend zu einem Bett umfunktioniert wurde. Der zweite Raum lag hinter einer grünen Tür mit drei Paneelen und einem angelaufenen Messinggriff.
Die grüne Tür war verschlossen.
Den Rücken an die Eingangstür gelehnt, blieb der Müllmann einen Moment stehen und lauschte. Die Geräusche von dem großen Platz vor der Mietskaserne drangen gedämpft zu ihm herauf, zusammen mit dem Geplärr der Fernseher, dem Gezänk der Ehepaare und dem Geschrei der Kleinkinder. Doch nach einer Weile meldete sich in seinem Kopf ein angenehmer Tinnitus, und die Geräusche verschwanden.
Die Sichtschutzfolie, die er auf die Scheiben geklebt hatte, ließ nur wenig Licht ins Zimmer. Das Panorama aus Hochhäusern, das sich vor dem Fenster auftat, interessierte ihn nicht, aber noch weniger behagte ihm die Vorstellung, jemand aus der Nachbarschaft könnte ihn ausspionieren. Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er sich um. Er wollte sicherstellen, dass er in seiner Abwesenheit keinen ungebetenen Besuch erhalten hatte. Nur jemand, der durch die Wände gehen konnte, hätte ohne Schlüssel herein- oder herauskommen können. Trotzdem zwang ihn sein Instinkt, alles zu kontrollieren. Er besaß nichts von Wert. Auch keinen Computer, nicht mal einen Fernseher. Da es in seinem Leben niemanden gab, den er hätte anrufen können, besaß er auch kein Handy. Sein Gehalt überwies ihm sein Arbeitgeber auf ein Konto bei der Post, von dem er nur das Allernotwendigste abhob. Dennoch störte ihn die Vorstellung, ein Fremder könnte in seine Privatsphäre eindringen oder, noch schlimmer, sie beschmutzen. Doch alles war genau so, wie er es am frühen Morgen, als er zur Arbeit gegangen war, zurückgelassen hatte. Alles befand sich an seinem Platz.
Das Wichtigste war der Tisch in der Mitte des Zimmers mit der Blümchendecke und den darunter verborgenen Gegenständen.
Der Müllmann schlüpfte aus seinen Schuhen und stellte sie ordentlich neben die Tür. Erst dann betrat er den Raum. Er nahm die Schultertasche ab, hängte seine Jacke an einen Haken und ging zu einem kleinen zweitürigen Schrank. Er öffnete die linke Tür, zog seine Kleidung aus und legte sie zu den anderen ebenso unscheinbaren Teilen in die Regalfächer. Nur noch mit einer blauen Unterhose und weißen Socken bekleidet, betrachtete er sich ein paar Sekunden lang in dem mannshohen Innenspiegel. Der haarlose, dickliche Oberkörper, die breiten Hüften, die weiße Haut mit den vielen kleinen Leberflecken, die kurzsichtigen Augen, die sorgfältig gekämmten mahagonibraunen Haare.
Warum gehst du nicht ins Wasser?
Er schüttelte den Kopf und schloss die Schranktür, um die Erinnerung zu verscheuchen. Dann nahm er eine dunkle Plastikschürze von einem Haken und zog sie über den Kopf. Ohne Hast wandte er sich der schwarzen Schultertasche zu und holte den Beutel mit dem Biomüll heraus, den er am Morgen vor der Hausnummer 23 eingesammelt hatte. Ihn nur an einem Zipfel festhaltend, trug er ihn zum Tisch.
Mit der freien Hand schlug er die Blümchendecke zurück.
Ordentlich nebeneinander aufgereiht befanden sich auf dem Tisch von links nach rechts sieben leere Dosen Katzenfutter und drei Schachteln Crunchies, vier zerbrochene Ampullen Katzenwurmkur, ein Tiegel Antifaltencreme mit einem winzigen eingetrockneten Rest, eine ausgedrückte Tube Anti-Cellulite-Pflege, ein Blister, in dem acht Diätpillen fehlten, ein Paar Stützstrumpfhosen mit Laufmaschen, ein Dutzend mit dunklem Flaum bedeckte Enthaarungsstreifen, eine Flasche platinblonde Haarcoloration, eine ausgefranste rosa Zahnbürste, neunzehn Päckchen Mentholzigaretten der Marke Vogue, ein leeres giftgrünes Bic-Feuerzeug, drei Wodkaflaschen billigster Sorte, zwei Plastikwasserflaschen im Familienformat, ein abgelaufenes Rezept für »20 mg Lorazepam-Tropfen, Einnahme 3x täglich«, drei Lorazepam-Fläschchen, eine Telefonkarte mit abgekratztem Magnetstreifen, mehrere Klatschmagazine, ein Stapel Kassenbons, die er mit einem Gummiband umwickelt hatte. Und zu guter Letzt eine Streichholzschachtel mit dem Werbeaufdruck eines Tanzlokals.
Das »Blue«.
Der Müllmann betrachtete seinen Schatz an Abfällen der Hausnummer 23, die er in den letzten sechs Wochen gesammelt hatte. Er hatte die Gegenstände sorgfältig aus dem restlichen Müll heraussortiert, getreu einer Lehre, die er im Laufe seines Berufslebens verinnerlicht hatte.
Die Abfälle eines Menschen erzählen seine wahre Geschichte. Denn anders als die Menschen lügen sie nie.
Man konnte so viel aus den Dingen herauslesen, die andere wegwarfen. Der Müllmann liebte es, sich auf diese Art ein Bild von den Menschen zu machen. Aber nur von ganz bestimmten. Ihn interessierten ausschließlich diejenigen, die so waren wie er.
Die Einsamen.
Unter dem Tisch stand eine leere blaue Plastikwanne. Er griff nach ihr und stellte sie an den extra für sie freigelassenen Platz auf dem Tisch. Dann legte er den Beutel mit dem Biomüll hinein, wischte sich die verschwitzten Handflächen an seiner Schürze ab und streifte ein paar Latexhandschuhe über.
Mit einer Schere schnitt er den oberen Saum des Müllbeutels ab und schüttete seinen Inhalt in die Wanne.
Keine große Überraschung: Die Speisereste der Bewohnerin der Hausnummer 23 bestätigten, was der Müllmann sich über ihre Essgewohnheiten gedacht hatte. Vorsichtig begann er, die Abfälle mit den behandschuhten Fingerspitzen voneinander zu trennen, um sie besser untersuchen zu können. Die Überbleibsel der Mahlzeiten und die anderen Gegenstände auf dem Tisch ließen leicht erkennen, dass die Frau nicht viel Geld hatte. Auch die Kassenbons, die er gefunden hatte, sprachen dieselbe Sprache.
Doch bei genauer Betrachtung war da noch etwas anderes.
Etwas, das erst auf den zweiten Blick erkennbar wurde, also nur für das geübte Auge.
Der Müllmann war geschickt im Entschlüsseln versteckter Botschaften, darin bestand sein wahres Talent.
Die Gesamtheit der Abfälle, die er vor sich hatte, ergab das Bild einer Frau, die lieber ihre Katzen mästete, als sich selbst vernünftig zu ernähren. Der Alkohol und die Zigaretten waren kein Laster, sondern Trost in einem traurigen Dasein. Und die übertriebene Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen war nichts anderes als der verzweifelte Versuch, aus ihrem Leben noch etwas zu machen, bevor es zu spät sein würde. Doch der einzige Weg, dem eigenen Unglück zu entkommen, war der Neid auf das Glück der anderen, das auf den Fotos in den Klatschmagazinen schamlos ausgestellt wurde.
Jenseits all dieser Spekulationen war für den Müllmann an diesem Tag noch ein anderer Aspekt von Bedeutung: Der Biomüll lieferte den Beweis, dass die Bewohnerin der Hausnummer 23 seit sechs Wochen keinen Besuch zum Mittag- oder Abendessen gehabt hatte und dass auch niemand auf einen Fünf-Uhr-Tee oder eine Tasse Kaffee vorbeigekommen war. In diesen einsamen Mahlzeiten manifestierte sich das Gefühl der abgrundtiefen Verlassenheit, das die Frau verspüren musste. Und wenn ihr die berechnende Zuneigung ihrer Katzen nicht mehr genügte, suchte sie vermutlich ein wenig menschliche Wärme in den flüchtigen Bekanntschaften, die man in bestimmten Abschlepplokalen machen konnte.
Wie dem »Blue«.
Der Müllmann streifte die Latexhandschuhe ab und nahm eine linierte Kladde aus der Schublade, zwischen deren Seiten ein Bleistift steckte. Er durchblätterte sie rasch: Seit Tagen hatte er darin alles vermerkt, was er im Abfall der Frau gefunden hatte. Ein gewisser Jemand hätte bestimmt zu ihm gesagt, dass man seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten steckte. Dieser Jemand hätte ihn einen »Topfgucker« genannt.
Du mieser kleiner Schnüffler!
Er hätte sich dagegen verwahrt und erklärt, dass man eben genau auf diese Weise Ressourcen sparte, indem man Wertstoffe recycelte und sie in den Produktionskreislauf zurückführte. Glas, Eisen, Plastik, Stahl bekamen ein zweites Leben. Und sein Tun war Teil dieses positiven Kreislaufs.
Doch das, was er aus dem Müll zog, war in Wirklichkeit noch viel wertvoller.
Der guten Ordnung halber legte er noch eine letzte Liste an. Er wusste, er hatte erreicht, was er wollte. Als er die Kladde zuklappte, verspürte er so etwas wie Befriedigung über die getane Arbeit. Gleich würde er den Biomüll wieder in den Beutel packen und endgültig wegwerfen. Auch alles andere könnte er wegwerfen, denn die Geschichte der Bewohnerin der Hausnummer 23 war nun herausgefiltert. Eine Geschichte, die wahrscheinlich niemand außer ihm kannte. Und die vermutlich auch niemanden sonst interessierte. Er hingegen betrachtete sich als Verwalter der intimsten Geheimnisse eines anderen Menschen. Doch die Frau musste sich keine Sorgen machen: Ihre Geheimnisse waren bei ihm gut aufgehoben und würden nur für einen guten Zweck verwendet werden.
Der Müllmann wollte gerade die Kladde wegpacken, als sein Blick von etwas Glänzendem angezogen wurde, das ihn aus dem Schleim in der Plastikwanne anfunkelte. Er beugte sich vor und angelte mit der Spitze seines Bleistifts ein seltsames buntes Stückchen heraus, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Er nahm es zwischen die Finger, tupfte es vorsichtig mit dem Schürzenzipfel ab und hielt es direkt vor seine Nase, um es besser betrachten zu können.
Ein abgebrochener rot lackierter Fingernagel.
Zutiefst fasziniert starrte er auf die unverhoffte Entdeckung. Das war weit mehr als nur Müll. Das war ein Teil von ihr.
Eine Reliquie.
Behutsam legte er den abgebrochenen Fingernagel auf den Tisch. Ein merkwürdiges Strahlen ging von ihm aus, es war wie ein geheimes Signal, das er jedoch zu deuten wusste. Erregung stieg in ihm auf. Dieser abgebrochene Fingernagel war der erste richtige Kontakt zu seiner Auserwählten.
Der Müllmann drehte sich zu der grünen Tür um. Er fühlte er sich bereit, die Schwelle zu überschreiten.
Der Moment war gekommen, Micky ins Spiel zu bringen.
Das »Blue« befand sich in einem Betonklotz mitten in der Pampa.
Um Viertel nach zehn fuhr Micky auf den Parkplatz. Nur acht Autos standen auf der Schotterfläche vor dem Eingang. Auch ein in die Jahre gekommener Kleinbus parkte dort, denn viele Besucher nutzten lieber einen Shuttleservice. »Dancing Blue« stand in großen Neonröhrenlettern, von denen einige jedoch kaputt waren und in der Dunkelheit nur erahnt werden konnten, über dem Lokal. Die Scheiben waren blau gestrichen. Dort, wo die Farbe abgeplatzt war, blitzte das Stroboskoplicht von der Tanzfläche hindurch.
Micky stellte den Motor des Fiat Fiorino ab, zögerte den Moment des Aussteigens aber noch hinaus. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, geduldig zu sein. Geduld zu haben war wichtig, um die Kontrolle über sich selbst zu behalten. Es gehörte zu den Regeln, die er sich auferlegt hatte, und inzwischen hatte er seine Instinkte voll im Griff. Er war geduldig, und er war ein guter Beobachter. Auch das war von entscheidender Bedeutung.
Aus dem »Blue« drang das dumpfe Dröhnen der Bässe aus den Lautsprechern bis zu ihm herüber. In seinem Kopf war das rhythmische Stampfen zu einem Chor von Gebeten geworden. Diese Stimmen beteten für ihn.
Sie wussten, dass er kommen würde.
Immer mit der Ruhe, alles genau durchdenken, wiederholte er für sich selbst, um den Impuls in Schach zu halten, der in ihm aufstieg. Erst als er sicher war, dass er keine bösen Überraschungen erleben würde, verließ er den Kleintransporter und ging auf den Eingang zu.
Er trug einen schwarzen Lederblazer und dunkle Jeans. Ein helles Hemd mit Blumenmuster und spitzem Kragen. Eine schmale Krawatte in Pink. Einen Gürtel mit silberner Schnalle und Stiefeletten.
Seine Haare waren aschblond.
Eine gelangweilte Frau am Einlass drückte ihm einen unsichtbaren Stempel auf den rechten Handrücken.
»Das erste Getränk ist frei«, sagte sie.
Micky schob den roten Samtvorhang zur Seite und fand sich in einem großen, in düsteres Licht getauchten Raum wieder. Er sah den Stempelabdruck, den er an der Bar vorzeigen konnte, auf seiner Hand aufleuchten. Interessant, dachte er, die Wirkung des UV-Lichts.
Jeden Donnerstag gab es im »Blue« eine sogenannte Motto-Party. An dem Abend ging es um Folk-Musik, aber der eigentliche Antrieb für die Anwesenden war vermutlich, dass der Eintritt unter der Woche weniger kostete und es obendrein ein Freigetränk gab.
Durch seine getönte Brille hindurch schaute Micky sich um.
Auf einem kleinen Podest spielte eine fünfköpfige Band ein langsames Stück, zu dem einige Paare eng umschlungen unter einer Diskokugel tanzten. An der Bar, auf der Tanzfläche und im Sitzbereich zählte er knapp vierzig Besucher. Er musterte sie eingehend. Wie er sich schon gedacht hatte, waren die meisten Gäste im »Blue« über sechzig.
Ihm genügte weniger als eine Minute, um die platinblonde Frau zu erspähen, die ganz allein im Raucherbereich saß. Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern, bestimmt eine Vogue Menthol, und die Flüssigkeit in ihrem Plastikbecher war mit Sicherheit ein Wodka Tonic.
Die Informationen des Müllmanns waren korrekt.
Micky ging hinüber zum Tresen, hielt dem Mann hinter der Theke den Stempelabdruck auf seinem Handrücken hin und ließ sich eine Cola geben. Dann schlenderte er mit dem Plastikbecher in der Hand auf und ab und nickte mit dem Kopf im Takt der Musik, als wäre er in bester Stimmung. Die ganze Zeit behielt er die rauchende Frau im Auge, ohne sie jedoch direkt anzusehen.
Er wartete darauf, dass sie die Initiative ergriff.
Sie wird mich bemerken. Weil sie auf der Jagd ist. Die anderen Männer waren fast alle mit einer Begleiterin da, und die wenigen Singles konnten nicht mit ihm mithalten. Er hatte ihnen etwas Entscheidendes voraus.
Er war jung.
Micky senkte den Altersdurchschnitt der Gäste deutlich. Was man ihm auch sofort ansah. Er konnte gar nicht anders, als zur bevorzugten Beute einer nicht mehr jungen Frau zu werden.
Und wie erwartet, bemerkte ihn die blonde Raucherin.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie ihre Position ein wenig veränderte, um einen besseren Blick auf den geheimnisvollen Fremden zu haben, der so ganz allein durch das Lokal schlenderte. Garantiert fragte sie sich in dem Moment, was jemand wie er wohl an einem Ort wie diesem verloren hatte.
Heute Abend hat sie noch keinen gefunden, vermutete Micky. Glück für ihn. Dass sie tatsächlich Interesse an ihm zu haben schien, zeigte sich, als sie von einem anderen Mann zum Tanzen aufgefordert wurde, aber dankend ablehnte.
Sie wartet auf mich, schoss es ihm durch den Kopf. Zeit also fürs Annäherungsmanöver.
Betont lässig machte er einige Schritte in ihre Richtung und zog ein Päckchen Marlboro und ein Zippo-Feuerzeug aus der Tasche. Unter dem Vorwand, rauchen zu wollen, positionierte er sich in strategischem Abstand hinter der Lehne ihrer Sitzbank.
Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Tanzfläche, doch sie musste spüren, dass sein Blick auf ihr ruhte. Und in der Tat versuchte sie, eine Haltung einzunehmen, die ihre weiblichen Reize zur Geltung brachte.
Von seinem Beobachterposten aus konnte Micky in Ruhe ihr Profil studieren. Vierundsechzig, vielleicht fünfundsechzig Jahre alt. Faltiger Hals, grauer Raucherteint. Tief ausgeschnittenes schwarzes Spitzenkleid. Pumps mit hohen Absätzen, die einen Ballenzeh nicht verbergen konnten. Auffälliger Schmuck. Ein stechender Parfümgeruch, der sich mit dem der Mentholzigarette mischte.
Wie beiläufig streckte die Frau die Hand nach dem kleinen Tisch aus, um ihren Wodka Tonic auszutrinken. Sie sog den Rest durch den Strohhalm, an dem Lippenstift klebte, und trommelte mit den Fingern an den leeren Becher. Erst jetzt fielen ihm ihre rotlackierten Nägel auf. Vor allem der Mittelfinger mit der abgebrochenen Spitze. Kein Zweifel, die Unbekannte vor ihm war die Bewohnerin aus der Hausnummer 23. Auch wenn er es bereits gewusst hatte. Die ganze Zeit schon.
Der Müllmann hatte dieses Detail herausgefunden.
Micky sah, wie sie sich vorbeugte, um ihre Zigarette im Aschenbecher auszudrücken, und sich gleich darauf eine neue ansteckte, die sie aus ihrem strassbesetzten Handtäschchen zog. Er nutzte die Gelegenheit, einen Schritt zu machen und ihr die Flamme seines Zippo unter die Nase zu halten.
Sie drehte sich um und tat überrascht. Mit einem Lächeln nahm sie sein Angebot an.
»Magda«, stellte sie sich vor.
»Micky«, erwiderte er und nahm neben ihr Platz.
»Bist du zum ersten Mal im ›Blue‹, Micky?«, fragte sie, seinen Namen kokett betonend.
»Ich hatte schon davon gehört, war aber noch nie hier.« Er ließ seinen Blick durch das Lokal wandern. »Gar nicht so übel, der Schuppen.«
»Heute ist leider ziemlich tote Hose«, bemerkte sie und deutete auf die halb leere Tanzfläche.
»Bist du oft hier?«
»Wann immer ich kann. Am Wochenende ist mehr los, aber an den anderen Tagen gibt es dafür den Shuttle für Leute wie mich, die nicht Auto fahren. Und die Musik ist nicht schlecht.«
Im Hintergrund spielte die Band eine Folk-Version eines Songs, der ihm bekannt vorkam. Bestimmt irgendein Klassiker, aber er war sich nicht sicher. Hoffentlich wollte Magda nicht mit ihm tanzen.
»Was trinkst du da?«, fragte die Frau.
Er hob das Glas an, als müsste er den Inhalt überprüfen.
»Cuba libre«, log er. Alkohol benebelte die Sinne, er musste bei klarem Verstand bleiben.
»Und was machst du so? Beruflich, meine ich …«, versuchte Magda, das Gespräch anzukurbeln.
»Ich bin Handelsvertreter«, sagte er. »Damenschuhe.«
Er hatte mal jemanden sagen hören, dass Frauen verrückt nach Schuhen seien und, wenn man sie ließe, ständig welche kaufen oder darüber reden würden. Die Umstehenden hatten damals über die Bemerkung gelacht, doch es schien etwas dran zu sein, da die Information sofort ihr Interesse weckte.
»Ich bin ständig dienstlich unterwegs«, fuhr er fort. »Nicht immer ganz easy, aber ich mag das: Man kommt immer wieder an neue Orte, lernt immer wieder neue Menschen kennen.«
»Wer weiß, wie viele schöne und vor allem junge Frauen du da triffst«, warf Magda ein.
Er betrachtete den Ring mit dem türkisfarbenen Stein, den er am kleinen Finger der rechten Hand trug.
»Das stimmt«, gab er zu. »Aber ich beurteile einen Menschen nicht nach dem, was in seinem Pass steht … Außerdem fahre ich auch nicht auf jeden Typ Frau ab.«
Seine Gesprächspartnerin reagierte gelassen auf das versteckte Kompliment.
»Und was muss eine Frau haben, damit du dich für sie interessierst?«
»Sie muss blond sein«, sagte er.
Was ausnahmsweise der Wahrheit entsprach.
Er blickte ihr tief in die Augen.
Magda lächelte geschmeichelt. Er nutzte die Gelegenheit und hob sanft ihre Hand an.
»Darf ich?«, fragte er und drehte ihre Handfläche nach oben, damit er daraus lesen konnte.
»Bist du etwa ein Wahrsager?«, kicherte sie.
»Manchmal.«
»Na dann, bitte!«, forderte sie ihn auf.
Micky nahm die blaugetönte Brille ab, legte die Stirn in Falten und machte ein konzentriertes Gesicht, als wäre er dabei, das Geheimnis zu ergründen, das zwischen den Linien auf ihrer Haut verborgen lag.
»Was siehst du?«, fragte sie leicht besorgt.
Sanft strich er mit der Fingerkuppe über die Rillen in ihrer Handfläche, wohl wissend, dass die Berührung sie zugleich erregte und kitzelte.
»Ich sehe ein langes Warten in deinem Leben … und eine große Liebe, eine problematische Liebe«, fügte er hinzu und bemerkte, wie sich der Arm der Frau ganz leicht verkrampfte. »Das Schicksal ist schuld daran, dass du deinen Traum von Liebe nicht verwirklichen konntest. Ein feindlich gesinntes Schicksal und böse, neidische Menschen.« Er musste sie gar nicht ansehen, um zu erkennen, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte, ihr Schweigen war beredt genug. »Und von da an hast du dieses verlorene Gefühl in all deinen Begegnungen mit Männern gesucht, vergebens … Du bist verletzt worden. Und bist seitdem misstrauisch, zu Recht.«
»Und steht da gar nichts über die Zukunft?«, fragte sie schüchtern.
Er lächelte.
»Ich sehe eine lange Reise, denn du hast dir immer gewünscht, die Welt zu sehen. Ich sehe eine Überraschung, etwas Unerwartetes. Und ich sehe eine Begegnung, die alles für immer verändern wird: Ich sehe einen Menschen …«
»Wer ist es?«
Er hob den Kopf und bedachte sie mit einem langen Blick aus seinen blauen Augen. Sie sollte von selbst auf die Antwort kommen.
»Also, du hast es wirklich drauf«, nickte sie anerkennend. »Ich möchte gerne noch was trinken«, sagte sie dann unvermittelt und zog die Hand zurück.
Um ihm zu signalisieren, dass er ihr ruhig einen Drink spendieren könnte, drehte sie ihm mehrmals den Handrücken mit dem Stempelabdruck zu. Offensichtlich machte es ihr Spaß, sich anbaggern zu lassen.
»Aber klar doch«, sagte Micky und setzte die Brille wieder auf. »Die nächste Runde geht auf mich.«
»Wodka Tonic.«
Sie deutete auf ihren leeren Plastikbecher.
Weiß ich doch, hätte er am liebsten zu ihr gesagt.