Aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Andreas Thomsen
Klett-Cotta
Impressum
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel: »The Dawn of Everything. A New History of Humanity« bei Allen Lane, Penguin Random House, London, New York
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg. Unter Verwendung einer Abbildung von Shutterstock/Pranch
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Lektorat: Dr. Petra Kunzelmann, Coburg
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-98508-5
E-Book ISBN 978-3-608-11841-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
David Wengrow
Vorwort und Widmung
David Rolfe Graeber starb am 2. September 2020 im Alter von 59 Jahren gut drei Wochen,
nachdem wir dieses Buch beendet hatten. Es hatte vor mehr als zehn Jahren als eine
Ablenkung von unseren »ernsteren« akademischen Pflichten begonnen: ein Experiment,
ja fast ein Spiel, in dem ein Anthropologe und ein Archäologe mit dem heute vorhandenen
Quellenmaterial versuchten, den großen Dialog über die menschliche Geschichte wiederzubeleben,
der in unseren Fächern einst ganz normal gewesen ist. Es gab keine Regeln und keine
Fristen. Wir schrieben, wie und wann wir Lust hatten, und dies entwickelte sich allmählich
zu einer täglichen Praxis. Das Projekt kam in den letzten Jahren vor seiner Vollendung
immer stärker auf Touren, und es war nicht ungewöhnlich, dass wir zwei- oder dreimal
am Tag darüber sprachen. Dabei verloren wir oft aus den Augen, wer welche Idee oder
welche neuen Fakten und Beispiele beisteuerte. Alles landete im »Archiv«, das schon
bald weit mehr Material enthielt, als für ein einzelnes Buch gereicht hätte.
Das Ergebnis ist kein Flickenteppich, sondern eine echte Synthese. Wir bekamen ein
Gefühl für unseren jeweiligen Stil zu schreiben und zu denken, und näherten uns einander
schrittweise an, bis alles zu einem einzigen Strom zusammenfloss. Als wir erkannten,
dass wir die geistige Reise, zu der wir aufgebrochen waren, noch nicht beenden wollten
und dass viele der Konzepte, die in diesem Buch vorgestellt werden, von weiterer Entwicklung
und Erläuterung profitieren würden, planten wir, nicht weniger als drei Fortsetzungen
zu schreiben.
Doch das erste Buch musste irgendwo enden. Also verkündete David Graeber am 6. August
2020 um 21:18 Uhr mit dem typischen Twitter-Flair (und einem Zitat frei nach Jim Morrison),
dass es geschafft sei: »My brain feels bruised with numb surprise« (»Mein Geist ist
wie geprellt von dumpfer Überraschung«). Wir kamen genauso zum Abschluss unseres Projektes,
wie wir es angefangen hatten: im Dialog und durch ständigen Austausch von Entwürfen,
während wir dieselben Quellen lasen und oft bis in die frühen Morgenstunden über sie
sprachen.
David Graeber war weit mehr als ein Anthropologe. Er war ein Aktivist und öffentlicher
Intellektueller von internationalem Ruf. Seine Ideen von sozialer Gerechtigkeit und
Befreiung versuchte er zu leben, gab den Unterdrückten Hoffnung und inspirierte zahllose
andere zur Nachfolge.
Dieses Buch ist dem liebevollen Andenken David Graebers (1961–2020) und dem Gedenken
an seine Eltern Ruth Rubinstein Graeber (1917–2006) und Kenneth Graeber (1914–1996)
gewidmet. Mögen sie zusammen in Frieden ruhen.
Dank
Traurige Umstände zwingen mich – David Wengrow –, diesen Dank in David Graebers Abwesenheit
zu schreiben. Zurück geblieben ist seine Frau und ständige Gefährtin Nika Dubrovsky.
Sein Tod löste eine große Welle der Trauer aus, die Menschen über Kontinente, Klassen
und ideologische Grenzen hinweg verband.
Zehn Jahre gemeinsames Schreiben und Denken sind eine lange Zeit, dennoch kann ich
nur vermuten, wem David in diesem besonderen Kontext hätte danken wollen. Seine Mitreisenden
auf den Wegen, die zu diesem Buch führten, werden bereits wissen, wer sie sind und
wie sehr er ihre Unterstützung und Zuwendung und ihren Rat schätzte.
Eines jedoch weiß ich ganz sicher: Dieses Buch, oder wenigstens irgendein Buch in
der nun realisierten Form, wäre ohne die Inspiration und Energie von Melissa Flashman,
unserer klugen Beraterin in allen literarischen Dingen, niemals zustande gekommen.
Mit Eric Chinski von Farrar, Straus and Giroux und Thomas Penn von Penguin in Großbritannien
fanden wir ein Herausgeberteam und echte geistige Partner. Für ihre leidenschaftliche
Auseinandersetzung mit unserem Denken und ihre leidenschaftlichen Interventionen geht
unser herzlicher Dank an Debbie Bookchin, Alpa Shah, Erhard Schüttpelz und Andrea
Luka Zimmerman. Dank schulden wir auch für ihre großzügige und fachmännische Unterstützung
bei verschiedenen Aspekten des Buches Manuel Arroyo-Kalin, Elizabeth Baquedano, Nora
Bateson, Stephen Berquist, Nurit Bird-David, Maurice Bloch, David Carballo, John Chapman,
Luiz Costa, Philippe Descola, Aleksandr Diachenko, Kevan Edinborough, Dorian Fuller,
Bisserka Gaydarska, Colin Grier, Thomas Grisaffi, Chris Hann, Wendy James, Megan Laws,
Patricia McAnany, Barbara Alice Mann, Simon Martin, Jens Notroff, José R. Oliver,
Mike Parker Pearson, Timothy Pauketat, Matthew Pope, Karen Radner, Natasha Reynolds,
Marshall Sahlins, James C. Scott, Stephen Shennan und Michele Wollstonecroft.
Verschiedene Thesen dieses Buches wurden zuerst im Rahmen von Vorlesungsreihen oder
in wissenschaftlichen Zeitschriften vorgestellt: Eine frühere Version von Kapitel
Zwei erschien in Frankreich unter dem Titel »La sagesse de Kondiaronk: La critique
indigène, le mythe du progrès et la naissance de la Gauche« (La Revue du MAUSS); Teile von Kapitel Drei erschienen erstmals unter dem Titel »Farewell to the Childhood
of Man: Ritual, Seasonality, and the Origins of Inequality« (The 2014 Henry Myers
Lecture, Journal of the Royal Anthropological Institute); Teile von Kapitel Vier unter dem Titel »Many Seasons ago: Slavery and its Rejection
among Foragers on the Pacific Coast of North America« (American Anthropologist); und von Kapitel Acht unter dem Titel »Cities before the State in Early Eurasia«
(The 2015 Jack Goody Lecture, Max Planck Institute for Social Anthropology).
Unser Dank sei auch den verschiedenen akademischen Einrichtungen und Forschungsgruppen
ausgesprochen, die uns einluden, über Themen im Zusammenhang mit diesem Buch zu sprechen
und zu debattieren, und insbesondere an Enzo Rossi und Philippe Descola für die denkwürdigen
Veranstaltungen an der Universität Amsterdam und am Collège de France. James Thomson
(der frühere Chefredakteur von Eurozine) half uns als Erster, unsere Ideen durch den Aufsatz »How to Change the Course of
Human History (at least, the Part that’s already Happened)« weltweit zu verbreiten.
Er nahm ihn aus Überzeugung in sein Blatt auf, als andere Medien noch davor zurückschreckten;
Dank schulden wir auch den vielen Übersetzern, die seither die Leserschaft des Aufsatzes
vergrößert haben. Und wir danken Kelly Burdick von Lapham’s Quarterly, die einen Beitrag zu einer Sonderausgabe über das Thema Demokratie bei uns anforderte;
darin stellten wir einige der Ideen vor, die hier in Kapitel Neun zu finden sind.
Von Anfang an integrierten David und ich die Arbeit an diesem Buch in unsere Lehrveranstaltungen
in der Abteilung für Anthropologie an der London School of Economics (LSE) beziehungsweise dem Institut für Archäologie am University College London. Deshalb
möchte ich unseren Studenten in unserer beider Namen für ihre vielen Einsichten und
Überlegungen in den vergangenen zehn Jahren danken. Martin, Judy, Abigail und Jack
Wengrow waren jeden Schritt des Weges an meiner Seite. Mein letzter und tiefster Dank
geht an Ewa Domaradzka für die schärfste Kritik und die leidenschaftlichste Unterstützung,
die sich ein Partner wünschen kann. Du bist ganz ähnlich wie David und dieses Buch
in mein Leben getreten:
»Rain riding suddenly out of the air,Battering the bare walls of the sun …Rain, rain
on dry ground!«
»Regen plötzlich aus der Luft,Schlägt gegen die nackten Mauern der Sonne …Regen auf
trockener Erde.«
Christopher Fry
Kapitel Eins
Abschied von der Kindheit der Menschheit
Oder warum dies kein Buch über die Ursprünge der Ungleichheit ist
Diese Stimmung macht sich ja überall bemerkbar, politisch, sozial und philosophisch.
Wir leben im Kairos für den »Gestaltwandel der Götter«, das heißt der grundlegenden
Prinzipien und Symbole.
C. G. Jung(1), Gegenwart und Zukunft (1957)
Unwiederbringlich ist der größte Teil der Menschheitsgeschichte für uns verloren.
Homo sapiens, unsere Spezies, existiert seit mindestens 200 000 Jahren. Für diesen Zeitraum haben
wir jedoch größtenteils keine Ahnung, was mit dem Homo sapiens passierte: In der Höhle von Altamira(1) in Nordspanien(1) wurden beispielsweise in einem Zeitraum von mindestens 10 000 Jahren, von etwa 25 000
bis etwa 15 000 v. Chr., Gemälde und Gravuren geschaffen. Vermutlich sind in dieser
Zeit eine Menge interessanter Dinge geschehen, wurde eine Vielzahl einzigartiger Objekte
zum ersten Mal überhaupt erst geschaffen und hervorgebracht, aber wir haben keine
Möglichkeit zu erfahren, um was für Ereignisse es sich bei den meisten von ihnen handelte.
Für sehr viele Menschen hat dies so gut wie keine Bedeutung. Sie denken ohnehin kaum
über den Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte nach. Dazu haben sie auch kaum einen
Grund. Wenn das Thema überhaupt aufkommt, dann hängt es meistens mit der Frage zusammen:
Warum befindet sich die Welt offenbar in einem so miserablen Zustand und warum behandeln
Menschen einander so oft schlecht? Das Thema hängt also zusammen mit der Frage nach
den Ursachen für Krieg, Gier, Ausbeutung und der systematischen Gleichgültigkeit gegenüber
dem Leiden anderer. Waren wir schon immer so? Oder ist an irgendeinem Punkt etwas
schrecklich missraten?
Im Grunde genommen ist dies eine theologische Debatte, denn eigentlich geht es um
die Frage: Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? So formuliert hat die Frage
genau betrachtet jedoch kaum einen Sinn. »Gut« und »böse« sind rein menschliche Konzepte.
Niemandem würde es einfallen, darüber zu streiten, ob ein Fisch oder ein Baum gut
oder böse ist, denn »gut« und »böse« sind Begriffe, die wir Menschen erfunden haben,
um uns miteinander vergleichen zu können. Ein Streit, ob die Menschen dem Wesen nach
gut oder böse sind, hat deshalb etwa genauso viel Sinn, wie ein Disput darüber, ob
sie im Grunde dick oder dünn sind.
Dennoch kommen Menschen, wenn sie über die Lehren aus der Vorgeschichte nachdenken,
fast immer auf solche Fragen zurück. Mit der christlichen Antwort sind wir alle vertraut:
Wir lebten einst in einem Zustand der Unschuld, sind jedoch durch die Ursünde verdorben.
Wir wollten sein wie Gott und wurden dafür bestraft. Nun leben wir in einem gefallenen
Zustand und hoffen auf Erlösung.
Die populäre Version dieser Geschichte ist heute vermutlich irgendeine aktualisierte
Fassung von Jean-Jacques Rousseaus(1) 1754 geschriebener Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Einst, so heißt es in der Geschichte, waren wir Jäger und Sammler, die in kleinen
Gruppen in einem anhaltenden Zustand kindlicher Unschuld lebten. Diese Gruppen waren
egalitär, und das war genau deshalb möglich, weil sie so klein waren. Erst mit der
»Neolithischen Revolution«, die je nach Region vor 10 000, teilweise schon vor 20 000 Jahren
begann, und noch mehr mit dem Aufstieg der Städte ging dieser glückliche Zustand zu
Ende und wurde von der »Zivilisation« und »dem Staat« abgelöst. Dies brachte auch
Literatur, Wissenschaft und Philosophie hervor, aber zugleich kam auch fast alles
Schlechte in die Welt: das Patriarchat, stehende Heere, Massenhinrichtungen und nervige
Bürokraten, die von uns verlangen, dass wir den größten Teil unseres Lebens damit
verbringen, Formulare auszufüllen.
Das alles ist selbstverständlich ausgesprochen grob vereinfacht, und doch scheint
es wirklich die Gründungsgeschichte zu sein, die immer dann an die Oberfläche kommt,
wenn irgendjemand, sei es ein Industriepsychologe oder ein Revolutionstheoretiker,
beispielsweise behauptet: »Aber natürlich lebte der Mensch für den größten Teil seiner
Entwicklungsgeschichte in Gruppen von zehn oder zwanzig Mitgliedern« oder »die Landwirtschaft
war vielleicht der größte Fehler der Menschheit«.
Viele populäre Schriftsteller vertreten, wie wir sehen werden, ausdrücklich diese
Ansicht. Das Problem ist nur, dass jeder, der nach einer Alternative zu diesem doch
recht deprimierenden Geschichtsbild sucht, schnell feststellen wird, die einzig verfügbare
ist sogar noch schlimmer: wenn nicht Jean-Jacques Rousseau(2) (1712–1778), dann Thomas Hobbes(1) (1588–1679).
1651 erschien die Erstausgabe des Leviathan von Thomas Hobbes(2). Dieses Buch ist in vieler Hinsicht der Gründungstext der modernen politischen Theorie.
Ihm zufolge sind die Menschen selbstsüchtige Wesen. Deshalb war ihr Leben auch im
Urzustand keineswegs unschuldig, sondern »einsam, armselig, scheußlich, tierisch und
kurz«. Eigentlich herrschte ein Kriegszustand; jeder kämpfte gegen jeden. Wenn es
aus diesem finsteren Urzustand irgendeinen Ausweg gab, so war dieser, wie ein Schüler
von Hobbes(3) argumentieren würde, zum größten Teil jenen repressiven Institutionen zu verdanken,
über die sich Rousseau(3) beschwerte: Regierungen, Gerichte, Bürokratien und Ordnungskräfte. Auch diese Sicht
der Dinge existiert schon sehr lange Zeit. Und es hat seinen Grund, dass die englischen(1) Wörter »politics« (Politik), »polite« (höflich) und »police« (Polizei) so ähnlich klingen; sie alle leiten sich von dem griechischen Wort polis (Stadt) ab. Sein lateinisches Äquivalent ist civitas, dem wir die Wörter »Zivilität«, »zivil« und ein gewisses modernes Vorverständnis
von »Zivilisation« verdanken.
Die menschliche Gesellschaft beruht demnach auf der kollektiven Unterdrückung unserer
niedrigeren Instinkte; je mehr Menschen an einem Ort leben, umso nötiger wird diese
Triebhemmung. Ein heutiger Anhänger von Hobbes(4) würde deshalb argumentieren, wir hätten tatsächlich während des größten Teils unserer
Entwicklungsgeschichte in kleinen Gruppen gelebt, die vor allem deshalb zurechtkamen,
weil sie ein gemeinsames Interesse am Überleben ihrer Nachkommen hatten (»Elternaufwand«
nennen dies Evolutionsbiologen).