Clyms Heimkehr

Über dieses Buch

Die leidenschaftliche Eustacia Vye verbringt ihre Tage vor dem Hintergrund der unheimlichen Heidelandschaft von Egdon Heath im fiktivem Wessex. Sie sehnt sich danach, der Einöde zu entfliehen, und träumt von einem Leben in den Städten. Als Clym Yeobright, der sich als Diamantenhändler in Paris niedergelassen hat, in seine Heimat zurückkehrt, um seine Mutter zu besuchen, glaubt Eustacia, endlich einen Ausweg gefunden zu haben. Zwar gelingt es ihr, Clym an sich zu binden, doch dieser hat nicht vor, seine Heimat wieder zu verlassen. Ein Wunsch, der nicht ohne Folgen bleiben wird. Clyms Heimkehr (im Original The Return of the Native) erschien 1878 in zwölf Folgen als Fortsetzungsroman und wurde 1994 unter der Regie von Jack Gold das erste Mal verfilmt.

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Fußnoten

  1. Der Autor erlaubt sich hier zu bemerken, dass die ursprüngliche Konzeption der Geschichte keine Heirat zwischen Thomasin und Venn vorgesehen hatte. Er sollte seinen verschlossenen und verschrobenen Charakter bis zum Ende behalten und geheimnisvoll, ohne dass jemand wusste wohin, aus der Heide verschwinden. Aber gewisse Umstände bei der Fortsetzungsveröffentlichung führten zu einer Änderung der ursprünglichen Absicht.

    Der Leser möge deshalb den ihm gemäßeren Ausgang der Geschichte wählen; derjenige mit strengeren künstlerischen Maßstäben möge den konsequenteren Schluss als den wahren ansehen.

  2. Vgl. dazu die Untersuchungen von Jeannette King, Tragedy in the Victorian Novel: Theory and Practice in the Novels of George Eliot, Thomas Hardy and Henry James, Cambridge 1978, und Dale Kramer, Thomas Hardy: The Forms of Tragedy, Detroit 1975.

  3. Vgl. in diesem Zusammenhang William R. Rutland, Thomas Hardy: A Study of His Writings and their Background, Oxford 1938.

  4. Vgl. Leslie Stephen, Hours in a Library, Bd. 1, London 1892, S. 21: »[…]  a novelist is on the border-line between poetry and prose, and novels should be as if it were prose saturated with poetry.«

  5. Thomas Hardy, The Return of the Native, The New Wessex Edition, Bd. 4, London: Macmillan, 1974. Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Nach dem Schrägstrich sind die Seitenzahlen der vorliegenden Übersetzung angegeben.

  6. Vgl. zur folgenden Interpretation der Charaktere und der Form des Romans Willi Erzgräber, Die Darstellung der ländlichen Gemeinschaft bei Thomas Hardy (Untersuchungen zu Gehalt und Form der Wessex-Romane), Diss., Frankfurt a. M. 1950.

  7. Robert Fricker, »The Return of the Native«, in: Franz K. Stanzel (Hrsg.), Der englische Roman: Vom Mittelalter zur Moderne, Bd. 2, Düsseldorf 1969, S. 231.

  8. Vgl. Jean R. Brooks, Thomas Hardy: The Poetic Structure, Ithaca 1971, S. 183.

  9. Hanna Ufer, Über die kompositionelle Bedeutung der Natur bei Thomas Hardy, Diss., Marburg a. d. L. 1930, S. 37.

  10. Vgl. u. a. Jean R. Brooks, Thomas Hardy: The Poetic Structure, Ithaca 1971, S. 186.

  11. Vgl. Walther Rehm, Experimentum medietatis: Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1947.

  12. Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, Bd. 1, Hamburg 1948, S. 15.

  13. Ich übernehme diese Formulierung aus: Thomas Marc Parrott, Shakespeare: Twenty-Three Plays and the Sonnets, New York 1938, S. 776; Parrott charakterisiert damit Shakespeares King Lear.

Als Zeitraum für die folgenden Begebenheiten mag man die Jahre zwischen 1840 und 1850 annehmen, als das alte Seebad, das hier »Budmouth« genannt wird, sich noch so viel vom Abglanz seiner georgianischen Lebensfreude und seines Prestiges bewahrt hatte, dass es die romantische, phantasievolle Seele einer anmutigen Bewohnerin des Binnenlandes in seinen Bann zog.

Unter der allgemeinen Bezeichnung »Egdon-Heide«, die für den düsteren Schauplatz der Geschichte verwendet wird, werden wenigstens ein Dutzend Heidelandschaften verschiedenen Namens zusammengefasst. Tatsächlich sind diese in Charakter und Erscheinungsbild eins, obwohl ihre ursprüngliche Einheit heute zu einem gewissen Grad durch eingeschobene Landstreifen und -stücke, die mit mehr oder weniger Erfolg unter den Pflug gebracht oder in Waldgebiete verwandelt wurden, verborgen bleibt.

Es ist ein angenehmer Gedanke, sich vorzustellen, dass irgendeine Stelle in diesem ausgedehnten Gebiet, dessen südwestlicher Teil hier beschrieben wird, die Heide Lears, jenes legendären Königs von Wessex – King Lear – gewesen sein mag.

Juli 1895

Um den nach der beschriebenen Gegend Suchenden Enttäuschungen zu ersparen, sollte hinzugefügt werden, dass, obgleich sich das Geschehen des Romans in dem mittleren, abgeschlossensten Teil der als Ganzes zusammengefassten Heidelandschaften (wie oben angemerkt) abspielt, gewisse topografische Eigenheiten, die den beschriebenen ähneln, in Wirklichkeit am Rand des Gebietes auftreten – mehrere Meilen westlich der Mitte. Es wurden aber auch noch andere charakteristische Merkmale von verschiedenen Stellen zusammengetragen.

Die erste Ausgabe dieses Romans erschien 1878 in drei Bänden.

April 1920     T. H.

  To sorrow

  I bade good morrow,

And thought to leave her far away behind;

  But cheerly, cheerly,

  She loves me dearly;

She is so constant to me, and so kind.

  I would deceive her,

  And so leave her,

But ah! she is so constant and so kind.

 

  Die Trübsal

  grüßte ich

und gedachte, sie weit hinter mir zu lassen;

  aber, Freude über Freude,

  sie liebt mich inniglich,

sie ist so beständig und freundlich zu mir.

  Ich würde sie ja überlisten

  und sie so verlassen,

aber ach! sie ist so beständig und freundlich zu mir.

Die drei Frauen

Ein Antlitz, dem die Zeit wenig anhaben kann

Ein Samstagnachmittag im November näherte sich der Stunde der Dämmerung, und das ausgedehnte Gebiet unbegrenzter Wildnis, das als die Egdon-Heide bekannt ist, fiel zusehends in tiefere Schatten. Darüber lag eine den Himmel verbergende, farblos weißliche Wolkendecke, die wie ein Zelt die ganze Heide überspannte.

Da das Firmament von diesem bleichen Schirm und die Erde von einer dunklen Vegetation bedeckt war, entstand bei ihrem Zusammentreffen am Horizont eine klare Linie. In diesem Kontrast schien die Heide die Nacht vorwegzunehmen, bevor deren astronomische Stunde gekommen war: Die Dunkelheit hatte die Heide fast völlig eingehüllt, während der Tag noch klar am Himmel stand. Nach oben blickend hätte ein Ginsterschneider seine Arbeit fortsetzen wollen, während ein Blick nach unten ihn veranlasst hätte, sein letztes Bündel zusammenzuschnüren und nach Hause zu gehen. Die fernen Ränder der Erde und des Firmaments schienen sowohl eine zeitliche als auch eine materielle Trennlinie zu bilden. Allein durch ihr charakteristisches Antlitz schien die Heide den Abend eine halbe Stunde früher eintreten zu lassen; ebenso konnte sie die Morgendämmerung verzögern, die Mittagsstunde trüben, die Finsternis der Stürme vorwegnehmen, noch bevor diese sich zusammenbrauten, und das Dunkel einer mondlosen Nacht zu furchterregendem Grauen steigern.

Tatsächlich war es genau dieser Zeitpunkt des Übergangs in die nächtliche Dunkelheit, der die großartige und eigentümliche Pracht der Egdon-Einöde sichtbar werden ließ, und man konnte von niemandem sagen, er verstehe die Heide, wenn er sie nicht zu dieser Zeit erlebt hatte. Sie war am eindringlichsten zu spüren, wenn sie nicht zu sehen war, da ihre vollständige Wirkung

Der Schauplatz war nun von einer wachen Gespanntheit erfüllt, denn wenn anderes gedankenverloren in Schlaf fiel, schien die Heide allmählich zu erwachen und zu lauschen. Jede Nacht schien ihre titanenhafte Gestalt etwas zu erwarten; aber in dieser Weise hatte sie schon so viele Jahrhunderte hindurch gewartet, über die Krisen so vieler Ereignisse hinweg, dass nur die Vorstellung übrig blieb, sie erwarte die eine, letzte Krise – den endgültigen Untergang.

Es war ein Ort, der denen, die ihn liebten, als ein Bild eigentümlicher und angenehmer Ausgeglichenheit in Erinnerung blieb. Lachende Felder voller Blumen und Früchte bewirken dies kaum, denn sie bewahren ihre vollkommene Harmonie nur durch ihren Ruf, Schöneres hervorbringen zu können, als es die Gegenwart zeigt. Die Abenddämmerung verband sich mit der Szenerie der Egdon-Heide, um etwas hervorzubringen, was majestätisch war, ohne streng zu sein, eindrucksvoll, ohne zu prahlen, nachdrücklich in ihren Warnungen und großartig in ihrer Einfachheit. Jene Eigenschaften, die häufig die Fassade eines Gefängnisses mit mehr Würde ausstatten, als es bei einem Palast von doppelter Größe der Fall ist, verliehen dieser Heide eine Erhabenheit, die an Orten, welche für Schönheit der üblichen Art berühmt sind, völlig fehlt. Gute Aussichten verbinden

Es ist tatsächlich die Frage, ob für die ausschließliche Herrschaft dieses orthodoxen Schönheitsbegriffs nicht die letzte Stunde angebrochen ist. Das neue Tempetal mag vielleicht eine dürre Einöde in Thule sein: Menschliche Seelen mögen sich in immer engerer Harmonie mit äußeren Dingen fühlen, denen eine Düsterkeit zu eigen ist, die unserem Geschlecht, als es jung war, zuwider gewesen wäre. Die Zeit scheint nahe – wenn sie nicht schon gekommen ist –, wo die keusche Erhabenheit eines Moores, eines Meeres oder eines Gebirges dasjenige in der Natur sein wird, was sich vollkommen mit der Gefühlslage des nachdenklicheren Teils der Menschheit deckt. Und am Ende mögen Orte wie Island dem Allerweltstouristen das bedeuten, was für ihn heute die Weinberge und Myrtengärten Südeuropas sind, und auf seiner hastigen Reise von den Alpen zu den Sanddünen von Scheveningen wird er vielleicht an Heidelberg und Baden achtlos vorbeieilen.

Selbst der ernsthafteste Asket konnte sicher sein, ein natürliches Recht darauf zu haben, auf der Egdon-Heide umherzuwandern. Er hielt sich innerhalb der Grenzen eines legitimen Genusses auf, wenn er sich Eindrücken wie diesen hingab. Derart gedämpfte Farben und Schönheiten standen jedem zumindest von Natur aus zu. Nur an Sommertagen, in der gehobensten Stimmung, erlangte die Heide einen gewissen Grad an Fröhlichkeit. Intensität wurde mehr durch Feierlichkeit als durch Glanz erreicht, und zu einer solchen Intensität kam es oft während der Winterdunkelheit, zur Zeit der Stürme und Nebel.

Die Heide war gegenwärtig ein Ort, der vollkommen mit der menschlichen Natur in Einklang stand – weder schaurig, hasserfüllt, noch hässlich, weder gewöhnlich, nichtssagend, noch zahm. Sie war, wie die Menschheit, voller Entsagung und Ausdauer und gleichzeitig einzigartig imposant und geheimnisvoll in ihrer dunklen Eintönigkeit. Aus ihren Zügen schien wie bei manchen Menschen, die lange voneinander getrennt leben, Einsamkeit zu sprechen. Sie hatte ein vom Alleinsein geprägtes Antlitz, das auf tragische Möglichkeiten hindeuten mochte.

Dieses unbekannte, altmodisch und überflüssig gewordene Land ist im ersten englischen Grundbuch, dem Domesday-Buch, registriert. Seine Beschaffenheit wird dort als eine mit Heidekraut, Ginster und Dornbusch bewachsene Wildnis, »Bruaria«, bezeichnet. Danach folgt die Angabe der Längen- und Breitenausdehnung des Gebietes in alten englischen Meilen; und obwohl einige Unsicherheit über die genaue Einheit dieses alten Längenmaßes besteht, scheint sich doch die Egdon-Heide, was ihre Fläche angeht, bis zum heutigen Tag nur wenig verkleinert zu haben. »Turbaria Bruaria« – das Recht, Heidetorf zu stechen – wird dem Bezirk urkundlich zugestanden. »Von Heide- und Torfmoor überzogen«, sagt Leland über denselben dunklen Landstrich.

Dies waren wenigstens klare, handfeste Fakten bezüglich der Landschaft, weitreichende Beweise, die echte Genugtuung erzeugen. Das ungezähmte, ismaelitische Stück Land, das die Heide nun war, war sie schon immer gewesen. Die Zivilisation war

Wenn man sich zu einer Zeit wie dieser zwischen Nachmittag und Nacht auf einem Dornbuschstumpf im innersten Tal der Egdon-Heide zurücklehnte, dort, wo das Auge nichts von der Welt jenseits der Gipfel und Hänge der Heide sehen konnte, und wenn man sich dann bewusst machte, dass alles im Umkreis rundum und darunter seit prähistorischen Zeiten so unverändert geblieben war wie die Sterne am Himmel, so vermochte dies einem unbeständigen und durch das Neue bedrängten Geist Halt zu gewähren. Der großartig unberührte Ort hatte eine uralte Stetigkeit, die das Meer nicht für sich in Anspruch nehmen kann. Wer kann von irgendeinem Meer behaupten, es sei alt? Von der Sonne destilliert, vom Mond durchgeknetet, hat es sich in einem Jahr, in einem Tag, in einer Stunde erneuert. Das Meer änderte sich, die Felder änderten sich, die Flüsse, die Dörfer und die Menschen änderten sich, doch die Egdon-Heide blieb sich gleich. Ihre Oberfläche war weder so steil, dass sie durch Witterungseinflüsse zerstört werden, noch so flach, dass sie das Opfer von Überschwemmungen und Ablagerungen werden konnte. Mit Ausnahme einer alten Straße und eines noch älteren Hünengrabs – von dem gleich die Rede sein wird –, die sich beide durch ihr langes Fortbestehen schon fast in natürliche Produkte verwandelt hatten, waren selbst geringfügige Unregelmäßigkeiten nicht durch Spitzhacke, Spaten oder Pflug verursacht, sondern von der letzten geologischen Veränderung als deren Abdrücke zurückgeblieben.

Kapitel 2

Die Menschheit erscheint auf der Bühne und stört den Frieden

Ein alter Mann ging die Straße entlang. Sein Kopf glich einem schneebedeckten Berg, seine Schultern waren gebeugt, und er machte im Ganzen einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Er trug einen speckigen Hut, einen uralten Bootsmantel und ebensolche Schuhe. Die Messingknöpfe seines Mantels waren mit einem Anker verziert. In der Hand hatte er einen mit einem Silberknauf versehenen Spazierstock, den er regelrecht als drittes Bein benutzte, indem er in kurzen Abständen immer wieder seine Spitze in den Boden stieß. Man hätte vermuten können, dass er zu seiner Zeit so etwas wie ein Marineoffizier gewesen war.

Vor ihm erstreckte sich die lange, mühselige Straße, trocken, leer und weiß. Sie war zu beiden Seiten der Heide ziemlich offen und trennte diese unermessliche dunkle Fläche, wie ein Scheitel einen dunklen Haarschopf teilt. Gegen den fernen Horizont hin wurde sie immer schmaler, um sich dann in einer Biegung zu verlieren.

Der alte Mann schaute des Öfteren aufmerksam nach vorn,

Beim Näherkommen sah er, dass es sich um einen gewöhnlichen gefederten Planwagen handelte, der allerdings eine ungewöhnliche Farbe hatte: Er war von grellem Rot. Der Fuhrmann ging nebenher, und auch er war, wie sein Wagen, vollständig rot. Eine einzige Farbschicht bedeckte seine Kleidung, die Mütze auf seinem Kopf, ebenso seine Stiefel, sein Gesicht und seine Hände. Er war nicht etwa nur zeitweise mit dieser Farbe bedeckt, nein, er war von ihr durchdrungen.

Der alte Mann wusste, was dies zu bedeuten hatte. Der Fuhrmann mit seinem Wagen war ein Rötelmann, – jemand, dessen Beruf es ist, die Bauern mit Rötel zum Markieren ihrer Schafe zu versorgen. Er gehörte einer Berufsgruppe an, die in Wessex zusehends ausstarb, und nahm somit jetzt in der ländlichen Welt den Platz ein, den die Vogelart der Dronte während des letzten Jahrhunderts im Tierreich innehatte. So stellte er eine sonderbare, interessante und fast verloren gegangene Verbindung dar zwischen überholten Lebensformen und solchen, die im Allgemeinen überdauern.

Der heruntergekommene Offizier kam Schritt für Schritt näher, gesellte sich schließlich seinem Weggenossen zu und wünschte ihm einen guten Abend. Der Rötelmann wandte den Kopf und erwiderte den Gruß in traurigem, abwesendem Ton. Er war jung, und wenn man ihn auch nicht gerade als schön bezeichnen konnte, so kam er doch diesem Begriff so nahe, dass wohl niemand einer solchen Feststellung widersprochen hätte, besonders, wenn sein Gesicht in seiner natürlichen Farbe zur Beurteilung gestanden hätte. Sein Auge, das sich ob der Farbe so

Nachdem er den Gruß des alten Mannes erwidert hatte, war er offenbar nicht geneigt, eine Unterhaltung zu beginnen, obwohl sie nebeneinanderher gingen und der Ältere Gesellschaft zu suchen schien. Es war nichts zu vernehmen als der sanft brausende Wind, der über die Graslandschaft ringsumher strich, das Knirschen der Räder, die Schritte der beiden Männer und das Stampfen der beiden zottigen Ponys, die den Planwagen zogen. Es waren kleine, zähe Tiere, wie sie zwischen Galloway und Exmoor vorkommen und die als »Heidemäher« bekannt sind.

Während sie nun gemeinsam ihren Weg fortsetzten, entfernte sich der Rötelmann gelegentlich von der Seite seines Begleiters, um hinter den Wagen zu gehen und durch das kleine Fenster ins Innere zu schauen. Jedes Mal war seine Miene besorgt. Dann kehrte er zu dem alten Mann zurück, der darauf eine weitere Bemerkung über den Zustand des Landes machte, auf die der Rötelmann seinerseits nur unbestimmt antwortete, worauf sie wieder in Schweigen verfielen.

Wahrscheinlich hätten die beiden bis zu ihrer Trennung auch nicht mehr miteinander gesprochen, wäre der Rötelmann nicht immer wieder zu seinem Wagen zurückgegangen. Als er das fünfte Mal zurückkam, sagte der alte Mann:

»Habt Ihr außer Eurer Ladung noch etwas anderes da drinnen?«

»Ja.«

»Jemand, um den man sich kümmern muss?«

»Ja.«

Nicht lange danach hörte man aus dem Innern des Wagens einen unterdrückten Schrei. Der Rötelmann hastete nach hinten, schaute hinein und kam wieder zurück.

»Habt Ihr ein Kind da drinnen, guter Mann?«

»Nein, Sir, es ist eine Frau.«

»Ei, der Teufel! Warum hat sie aufgeschrien?«

»Ach, sie ist eingeschlafen, und da sie das Reisen nicht gewohnt ist, fühlt sie sich nicht wohl und hat schlechte Träume.

»Eine junge Frau?«

»Ja, eine junge Frau.«

»Das hätte mich vor vierzig Jahren interessiert. Ist sie vielleicht Eure Frau?«

»Meine Frau!«, sagte der andere bitter. »Über einen wie mich ist sie hoch erhaben. Aber es gibt keinen Grund, warum ich Euch das erzählen sollte.«

»Das ist wahr. Und es gibt auch keinen Grund, warum Ihr es nicht erzählen solltet. Wie kann ich Euch oder ihr schon schaden?«

»Nun«, sagte er schließlich, »ich kenne sie von früher, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre, ich hätte sie nie gekannt. Sie bedeutet mir nichts, und ich bedeute ihr auch nichts. Außerdem wäre sie nicht in meinem Wagen gereist, hätte es dort ein besseres Gefährt zu ihrer Beförderung gegeben.«

»Wo, wenn ich fragen darf?«

»In Anglebury.«

»Ich kenne den Ort gut. Was hat sie dort gemacht?«

»Ach, nicht viel – nichts, worüber man plaudern könnte. Wie dem auch sei, sie ist jetzt todmüde, und es geht ihr gar nicht gut, und deshalb ist sie so unruhig. Vor einer Stunde ist sie eingeschlafen, das wird ihr guttun.«

»Sicher ein hübsches Mädchen?«

»Das kann man wohl sagen.«

Der andere Reisende schaute interessiert in Richtung des Fensters und sagte, ohne seine Augen abzuwenden: »Ich nehme an, ich darf sie mir mal ansehen?«

»Nein«, sagte der Rötelmann brüsk. »Es ist schon zu dunkel, um noch viel von ihr zu sehen, außerdem habe ich kein Recht, Euch dies zu erlauben. Gott sei Dank schläft sie nun so gut. Ich hoffe, sie wacht nicht auf, bevor sie zu Hause ist.«

»Wer ist sie? Ist sie hier aus der Umgebung?«

»Entschuldigt bitte, aber es spielt keine Rolle, wer sie ist.«

»Es ist doch nicht das Mädchen aus Blooms-End, über das in letzter Zeit mehr oder weniger viel geredet wurde? Wenn ja, dann kenne ich sie, und ich kann mir vorstellen, was geschehen ist.«

»Es spielt keine Rolle … Nun, mein Herr, es tut mir leid, aber ich muss mich jetzt bald von Euch trennen. Meine Ponys sind müde, und da ich noch weiter muss, lasse ich sie für eine Stunde hier an dieser Böschung ausruhen.«

Der ältere Wanderer nickte gleichmütig mit dem Kopf, und der Rötelmann lenkte Pferdchen und Wagen beiseite aufs Gras

Der Rötelmann folgte der Gestalt mit den Augen, bis sie sich zu einem Fleck auf der Straße verkleinert hatte und von dem sich verdichtenden Schleier der Nacht aufgesogen wurde. Dann nahm er etwas Heu von einem Bündel, das unter dem Wagen befestigt war, und machte, nachdem er den Pferden etwas davon vorgeworfen hatte, mit dem übrigen Heu ein Lager auf dem Boden neben seinem Gefährt zurecht. Dann setzte er sich nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Rad. Vom Innern des Wagens drang ein sanftes Atmen an sein Ohr. Dies schien ihn zu befriedigen, und er blickte nachdenklich über die Landschaft, als überlegte er, was als Nächstes zu unternehmen sei.

Dinge bedächtig und in kleinen Schritten zu tun, schien in der Tat zu dieser Dämmerstunde in den Egdon-Tälern angebracht, denn die Heide selbst war von dieser zögernden und unsicher schwankenden Beschaffenheit. Dem Ort war eine Ruhe eigen, die jedoch nicht die Ruhe des Stillstands, sondern anscheinend die einer unglaublichen Langsamkeit war. Ein Ausdruck gesunden Lebens, die der Starre des Todes so sehr ähnelt, ist in sich ein auffallendes Phänomen. Ein Zustand, der die Trägheit der Wüste und zugleich eine lebendige Kraft verkörpert, die der grünen Flur, ja selbst dem Wald verwandt ist, rief in jenen, die sich dies bewusst machten, eine Aufmerksamkeit wach, wie sie gewöhnlich durch Zurückhaltung und Verschlossenheit erzeugt wird.

Die Szenerie, die sich dem Rötelmann darbot, bestand aus einer Folge von langsam ansteigenden Erhebungen, die sich von der Straße aus ins Innere der Heide erstreckten. Sie umfasste kleine Hügel und Täler, hintereinander gelagerte Anhöhen und Hänge, bis zuletzt ein hoher Berg, der sich deutlich gegen den noch lichten Himmel abhob, allem ein Ende setzte. Das Auge des Reisenden schweifte für eine Weile über all dies hin und blieb schließlich an etwas Bemerkenswertem dort oben hängen.

Beim eingehenderen Betrachten des Erdhügels wurde der ruhende Mann gewahr, dass dessen Spitze, die bislang rundum die höchste Erhebung gewesen war, von etwas noch Höherem überragt wurde. Es war etwas, das wie die Spitze einer Pickelhaube das Halbrund des Hügels überragte. Ein phantasiebegabter Fremder hätte wohl instinktiv angenommen, dies sei einer der Kelten, die jene Hügel einst errichtet hatten, so weit entrückt von der heutigen Zeit schien die Szenerie zu sein. Es mochte einer ihrer letzten sein, der nach einem gedankenversunkenen Blick mit den übrigen seines Geschlechts in die ewige Nacht entschwand.

Da stand sie, die Gestalt, bewegungslos wie der Hügel unter ihr. Über der Ebene erhob sich der Berg, über dem Berg erhob sich das Hünengrab, und über dem Erdhügel erhob sich die Gestalt. Über ihr befand sich nichts als das weite Himmelsrund.

Die Gestalt gab der dunklen Ansammlung von Hügeln eine solch makellose, feine und folgerichtige Vollendung, dass sie den Umrissen ihre einzig erkennbare Rechtfertigung zu verleihen schien. Ohne sie war da nur eine Kuppel ohne Türmchen, mit ihr wurden die architektonischen Erfordernisse des Ganzen befriedigt. Es war ein seltsam homogener Anblick: Das Tal, die Hügel und das Grab bildeten zusammen mit der Gestalt eine vollkommene Einheit. Betrachtete man diesen oder jenen Teil der Szene, sah man nicht das vollkommene Ganze, sondern nur ein Stück davon.

Die Gestalt war so sehr ein organischer Bestandteil des gesamten bewegungslosen Gebildes, dass es einem seltsam erschienen wäre, hätte sie sich bewegt. Da Bewegungslosigkeit

Doch eben dies geschah. Die Gestalt gab deutlich sichtbar ihre starre Haltung auf, tat ein, zwei Schritte und drehte sich dann um. Als sei sie durch etwas erschreckt, glitt sie, wie wenn ein Wassertropfen in eine Blütenknospe rinnt, auf der rechten Seite des Hügels hinunter und verschwand. Die Bewegung ließ hinreichend erkennen, dass es sich um eine Frau handelte.

Nun wurde auch der Grund für ihre plötzliche Vertreibung offenbar. Indem sie zur rechten Seite hin den Augen entschwand, hob sich auf der linken ein mit einem Bündel beladener Neuankömmling gegen den Himmel ab, bestieg das Hünengrab und legte sein Bündel darauf nieder. Ein zweiter folgte, danach ein dritter, vierter und fünfter, und schließlich war der ganze Hügel mit beladenen Gestalten bevölkert.

Das Einzige, was man dieser sich vor dem Horizont abspielenden Pantomime von Silhouetten entnehmen konnte, war, dass die Frau zu den Gestalten, die ihre Stelle eingenommen hatten, in keinerlei Beziehung stand, ja, dass sie sie bewusst mied und aus anderen Gründen als diese hierhergekommen war. Die Phantasie des Beobachters beschäftigte sich vorzugsweise mit jener entschwundenen, einzelnen, einsamen Gestalt, die ihm fesselnder, wichtiger, eher mit einer wissenswerten Vergangenheit ausgestattet zu sein schien als die Neuankömmlinge, die er nun unbewusst als Störenfriede betrachtete. Aber sie blieben und richteten sich dort ein, und es schien unwahrscheinlich, dass die einsame Person, die zuvor Königin der Einöde gewesen war, alsbald wieder zurückkehren würde.