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für Gregor,
ich schreibe für dich weiter

ERSTER TEIL

»Kein Licht, kein Schatten, kein ich.«

Taja

STINKE

Weißt du, was Liebe ist?

Liebe ist, wenn dir einer im schönsten Moment die Beine wegtritt und dich dann auffängt.

Liebe ist, wenn sich alle um dich herum drehen und nur du stehst still.

Und Liebe ist auch, wenn du mitten im Sturm aus dem Haus rennst und voll in einen Blitz hinein.

Das ist Liebe.

Alles andere ist Schmus und kitschige Stories, in denen sich einer in den anderen verknallt, und dann heiraten sie und werden zusammen alt und sterben Hand in Hand an einem weißen Strand, während es Sternschnuppen regnet und der Mond ein Auge zukneift, weil er von all dem Gedöns einen Zuckerschock abbekommen hat.

Wer will denn das?

Denn das ist Kitsch, denn das ist so echt wie ein Handschuh ohne Mittelfinger.

Wahre Liebe ist ganz anders.

Wahre Liebe stinkt nicht nach Rosen, Gummibärchen oder Zuckerwatte. Wahre Liebe stinkt nach Erde und Regen, sie ist faul und träge und trocknet sich nach dem Duschen nicht ab. Sie liest Horrorromane und isst Spaghetti mit den Fingern, dass die Soße nur so rumspritzt.

So macht es die wahre Liebe.

Merk dir das.

Und sie funktioniert nicht, wenn du dich selbst nicht liebst.

Ich wiederhol das nochmal, falls du es eben überlesen haben solltest: Wahre Liebe funktioniert nicht, wenn du dich selbst nicht liebst.

Nur darum erzähl ich dir das alles, damit du später nicht herumflennst und dich wunderst, was du falsch gemacht hast.

Liebe dich selbst oder vergiss es.

Punkt.

Ende.

Aus.

Schreib es in dein Tagebuch, ritz es in dein Handy oder mitten auf deinen Arm, und wenn du ganz besonders dämlich bist, lass es dir auf den Hintern tätowieren. Aber was du auch tust, am Ende des Tages geht es nur darum, was du dir selbst wert bist, was du vom Leben willst und was du bereit bist zu tun, um es dir zu holen.

Wer stillsteht, der ist bald nicht mehr.

Stell dir einen Hai vor.

Der steht auch nie still.

Und genau darin liegt gerade mein Problem.

Wer auch immer ich bin, das bin nicht wirklich ich, die da stillsteht. Also schau jetzt mal schnell weg. Geh zum Friseur, kauf dir was Schickes oder flitz bei Rot über eine Ampel. Mach, was du willst, aber schau jetzt woandershin, denn wer auch immer ich gerade bin, das bin nicht ich, die da stillsteht und der gleich die Fresse poliert wird.

Sie sind zu viert und alles Tussis vom Gymnasium, ich bin allein und eine Tussi von der Realschule, die ihre Klappe nicht halten kann. Sie sind mir an der Bushaltestelle quergekommen, als ich versucht habe, den Bus zu erwischen. Der Fahrer hat mich garantiert kommen sehen und dachte sich: Nee, die nehm ich nicht mit. Ich hätte mich wahrscheinlich selbst nicht mitgenommen, denn ich renne in dem Minirock wie ein bekloppter Roboter, dem der Saft ausgegangen ist. Vielleicht mögen Busfahrer keine Roboter, ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich es gerade noch so geschafft habe, mit der Hand gegen die hintere Bustür zu klatschen, als die Karre auch schon davondüste. Es ist der letzte Schultag meines Lebens und da stehe ich also und atme schwer und beschließe, nie wieder den Bus zu nehmen oder mir einen Rock von Rute zu leihen.

Lange Beine, kleiner Arsch und Wespentaille.

Das bin nicht ich, das ist Rute pur.

Das komplette Gegenteil von mir.

Natürlich wollte sie mir den Rock nicht leihen.

Sie sagte: »Der ist dir zu klein.«

Ich sagte: »Ist mir egal, gib schon her.«

Und jetzt habe ich den Salat.

»Schicker Rock.«

»Gibt es den auch in deiner Größe?«

»Auf dem Strich gibt es doch alles.«

»Glaubst du, die ist vom Strich?«

»Nee, die ist aus der Realschule.«

»Ich dachte, das wäre der Strich.«

»Hahahaha.«

»Hehehehe.«

»Hihihihi.«

Ich drehe mich um und da stehen diese vier Tussis aus dem Gymnasium und halten ihre Handys hoch und fotografieren mich.

»Du rennst wie eine Krücke ohne Beine«, sagt die eine.

»Du rennst wie ein Rollstuhlfahrer ohne Räder«, sagt eine andere.

»Wie originell«, sage ich.

Sie kichern und lassen gebleichte Zähne aufblitzen, sie halten die Handys von sich weg und stellen sich in Pose und fotografieren sich schnell mal selbst, damit sie einen Beweis dafür haben, dass es sie wirklich gibt. Meine Hände sind Fäuste, selbst meine Zehen ziehen sich zusammen und werden zu Minifäusten.

»Nimm doch das nächste Mal den Bus«, rät mir die eine.

»Dann musst du nicht so rennen«, sagt eine andere.

»Aber das war doch ihr Bus«, sagt das hellste Licht von ihnen.

Sie gackern, als ob sie gleich von der Stange fallen würden, und heben schon wieder die Handys. Es klickt und klackt und ich wünschte, ich könnte Karate.

»Und wer hat euch ausgeschissen?«, frage ich.

Sie verstummen.

»Ausgewas?!«, fragen sie im Chor.

»Ausgeschissen«, wiederhole ich. »Ausgekackt. Aus der Muschi abgeseilt. Aus dem Klo gekratzt. Aus dem Pariser gepresst. Ohne Briefmarken verschickt.«

Nach den Briefmarken ist Schluss, mehr fällt mir nicht ein. Ich bin nicht wirklich in Form und noch immer ganz außer Atem von meinem Sprint, da fährt mein Kopf immer nur auf halber Pulle. Die Tussis betrachten mich, als hätte ich Griechisch mit türkischem Akzent gesprochen. Also sage ich mal was in klarem Deutsch:

»Lasst mich mal Luft schnappen, dann gibt es eins auf die Fresse.«

Wahrscheinlich hätte ich mir das sparen können. Vier gegen einen ist eine miese Rechnung, egal, wie man es dreht und wendet. Das ist nur gut, wenn ich meine Mädchen an meiner Seite habe, aber niemals solo. In diesem Moment bin ich so solo wie ein abgerissener Daumen und wende mich ab und denke: Ignorieren ist die beste Taktik, wenn es um – – –

Der Schlag trifft mich am Hinterkopf, sodass sich meine Zunge zusammenrollt wie ein Rollmops, der vom Haken will. Ich glaube es nicht! Eine von den Tussis hat mir doch ernsthaft ihr Handy auf die Birne gedonnert. Ich fasse mir an den Hinterkopf und erwarte, dass mir Blut über die Finger spritzt. Da ist nur meine Frisur und die ist durcheinander.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist.

Ich drehe mich um.

Die Tussis grinsen und heben ihre Handys.

Apple zwinkert mir zu und lacht mich aus.

»Wer war das?!«, frage ich und klinge wie eine Zehnjährige, der ein Dackel ans Bein gepinkelt hat.

»Wer war was?«, fragen die Tussis zurück.

Die Tasche rutscht mir von der Schulter und landet mit einem dumpfen Laut auf dem Boden. Ich bereue es, mir gestern die Nägel lackiert zu haben, das wird ja wieder schön scheiße aussehen, wenn ich hier fertig bin.

»Mit dir fange ich an«, sage ich und wähle die Größte von den vieren, denn die Größten muss man gleich am Anfang in die Knie zwingen, dann folgt der Rest wie eine Reihe von Dominosteinen. Das ist eine Regel, sagt Schnappi zumindest und sie muss es ja wissen, denn sie ist die Kleinste von uns.

Dummerweise hat keine von diesen Tussis von dieser Regel gehört.

Zehn Minuten später verpasse ich den Bus zum zweiten Mal.

Eine halbe Stunde später bin ich zu Hause und pfeffer den Rock in die Ecke. Mit dem Ding will ich jetzt wirklich nicht im Kino aufschlagen. Cordhose mit Gürtel und dazu Plateauschuhe, das fühlt sich schon besser an. Ich steck mir das Haar hoch und schenk mir im Spiegel ein dickes Lächeln.

»Isabell, wo willst du jetzt schon wieder hin?«, fragt meine Tante.

»Ich heiße nicht Isabell«, sage ich und flitze wieder los.

Stinke ist von meinem Bruder. Der Name ist um Längen besser als Isabell. Als wäre ich aus Spanien ausgewandert. Nicht normal. So wie die eine aus der 9c, die mit den Zöpfen. Wie Hippie, nur dabei auf Techno. Kante. Warum auch immer Kante. Als ob bei der was nicht stimmen würde. Da bin und bleibe ich lieber Stinke. Der Name klebt an mir, obwohl mein Bruder seit vier Jahren von der Schule abgegangen ist. Ich dachte, danach wäre Ruhe, dem war aber nicht so, alle nannten mich weiterhin Stinke, also habe ich mich daran gewöhnt, wie man sich an einen Splitter gewöhnt, der unter der Haut steckt und nicht rauskommen will.

Stinke geht doch, oder?

Da weiß jeder, dass man sich lieber nicht mit mir anlegt. Es kommt auch keiner auf den blöden Gedanken von wegen Klo und so. Wie sollten sie auch. Ich dufte. Parfum ist mein Schutz gegen die Außenwelt. Schutz vor Typen wie Eric, der sich vor mir umdreht und mir einen Blick zuwirft, als wäre ich von oben bis unten nackt.

Ich sitze in der letzten Reihe zwischen Rute und Schnappi und habe keine Ahnung, warum ich mich so beeilt habe. Das ganze Kino riecht nach altem Popcorn, die Werbung ist öder als öde und dann glotzt mich auch noch Eric an. Ich mache die Augen zu, denn diesen Penner will ich jetzt wirklich nicht ansehen. Arsch ohne Haare. Klar meine ich nicht seinen Arsch, sondern die blöde Glatze. Als wäre er auf dem Weg zur Front, schiebt den Coolen und rasiert sich einmal in der Woche die Birne, dabei hat er nur Stoppeln am Kinn, für eine Zicke wird es nie reichen. Da muss er wohl mehr Kaffee trinken. Sagt zumindest meine Tante. Tante Sissi. Trink zu viel Kaffee und dir wächst ein Bart. Hormone und so. Schönen Dank, das ist ja genau das, was ich nicht brauche. Haare überall. Da hilft nur noch Epolotion oder wie auch immer das heißt. Schnappi kann es bestimmt buchstabieren, Schnappi ist ja immer auf dem Laufenden, wie eine Radiostation ohne Werbung, die alle Nachrichten sammelt und an uns weitergibt.

»Das mit den Haaren geht ruckizucki«, hat sie gesagt. »Da geht eine heiße Nadel rein, hier«, zeigte sie und bohrte auf ihrem Arm herum. »Da rein in die Hautpore, kapiert? Oder ihr macht es mit Wachs, aber heiße Nadel hält länger, ist ja logisch, nicht? Geht also da rein, wo das Haar ist, und dann verbrennt es dir die Wurzeln und es zischt und tut höllisch weh.«

»Autsch!«, rief ausgerechnet Rute, blond, fast durchscheinend und kein sichtbares Haar am Bein.

»Hab dich nicht so«, sagte ich darauf und wollte von Schnappi wissen, wie lange das hält.

»ʼn paar Monate.«

»ʼn paar Monate?!«

»Was dachtest du denn?«

Ein Jahr, hatte ich gedacht, aber ist wohl nicht.

»Und quanta costa?«

Schnappi hat die Augen verdreht.

»Mädchen, ich weiß doch nicht, was das kostet. Gehört mir der Laden, oder was? Geh doch selber fragen.«

Also Epolotion ist nicht, da habe ich mich informiert. Das kostet tierisch und tut tierisch weh. Zweimal tierisch zu viel. Außerdem gefällt mir das Rasieren. Es dauert zwar, aber meine Beine stehen drauf, die machen das ohne Probleme mit und meine Haut prickelt danach, als würde eine Ameisenarmee drüber wegmarschieren. Ich kann ja Indi machen lassen. Wie in so einer Romanze wird es sein – Indi auf dem Wannenrand sitzend, meinen Fuß in der einen, in der anderen Hand den Rasierer und völlig heiß drauf, mir die Zehen zu lutschen. Aber Indi, werde ich sagen, erst rasieren, dann lutschen. Und Indi wird antworten: Na klar. Und dann wird er mir die Beine rasieren und mich dabei mit seinen Blicken völlig nervös machen, während ich da in der Wanne schlummere und vom Schampus nippe, ganz mulmig und schummrig und – – –

»He, bist du noch wach, oder was?«, will Rute wissen.

»Klar, Mensch.«

»Dann nimm deine Birne von meiner Schulter.«

»Okay, okay.«

»Sabbermaul.«

Ich wische mir übers Kinn. Kein Sabber, blöde Zicke.

»Selber Sabbermaul«, sage ich und kneife die Augen zusammen, um die Leinwand besser zu erkennen.

Scheißkino. Scheißplatz. Scheißfilm.

Du kannst dir sicher denken, wie ich mich gerade fühle, oder?

Da habe ich am letzten Schultag meines Lebens den Bus verpasst, mich mit vier Gören vom Gymnasium geprügelt und bin wie eine Blöde durch die Gegend gerannt, nur um pünktlich ins Kino zu kommen, um dann von meiner besten Freundin angepfiffen zu werden. Was ist denn hier los? Da stimmt doch was nicht! Und wer will denn schon hinten sitzen, da erkennt man ja kaum was. Scheißaugen und Scheißkinotag.

»Scheißfilm«, murmel ich.

Rute stößt mich mit dem Ellenbogen an.

»Zicke!«

Nessi beugt sich vor und reicht mir ihre Cola. Zumindest eine, die an mich denkt. Ich trinke und lasse die Eiswürfel schön laut klimpern. Eric dreht sich schon wieder um und gibt mir den Blick.

»Nazi, oder was?«, frage ich.

»Lesbe«, zischt er und dreht sich weg.

»Kannst du mal ruhig sein«, bittet mich Schnappi und dabei trommeln ihre Füße auf den Boden, dass man es vier Reihen nach unten spüren kann. Immer, wenn es spannend wird, verwandelt sich Schnappi in Speedy Gonzales.

Eine Asiatin auf Speed, denke ich und sage:

»Zappel.«

»Na, hast du mal wieder gute Laune?«

»Schnauze, Rute.«

Ich sehe sie von der Seite an.

»Was ist das? Hast du da einen Knutschfleck?«

Rute legt schnell die Hand auf ihren Hals und sagt, ich wär wohl blind.

»Süße, du nervst echt«, flüstert mir Schnappi zu.

»Geh doch pinkeln oder so«, schlägt Rute vor.

»Genau das mache ich auch«, sage ich.

Und genau das mache ich auch.

Nur raus hier.

Raus.

Die Tür zum Kinosaal fällt hinter mir zu, ich atme erleichtert durch. Was für eine fiese Luft da drin. Als hätten alle gleichzeitig gefurzt und dann rumgewedelt. Ich fummel meine Zigaretten aus der Jacke und klopfe mir eine raus.

»Och, komm.«

Ich hämmer das Feuerzeug auf meinen Handballen. Der Feuerstein malmt wie ein Opa, dem sein Gebiss nicht passt. Kein Funken kommt. Na prima, und was jetzt? Ich kann ja schlecht reingehen und nach Feuer fragen, die lynchen mich. Toll. Kippe an der Lippe und Asche in der Tasche. Jetzt denk aber mal nach, Stinke. An der Kasse werden sie bestimmt Feuer haben. Ich will mich eben auf den Weg machen, als dieser Typ von unten die Treppe hochkommt. Er war wohl auf dem Klo, hat eh nichts verpasst.

»Hast du mal Feuer?«

Er zückt gleich so einen Flammenwerfer aus Gold.

»Gehörte meinem Großvater«, erklärt er mir, als hätte er das Ding geerbt, als müsste er es mir erklären, als hätte ich gefragt. Der hat das Feuerzeug bestimmt geklaut, als sein Großvater kurz mal wegsah, wetten? Typ so groß wie ein Basketballer und viel älter als ich. Glaub mir, der hätte dir gefallen. Anfang zwanzig. Gibt mir Feuer und lächelt. Nett.

»Danke.«

»Keine Lust auf den Film?«, fragt er.

»Nö, öde.«

»Dann spar ich ihn mir auch.«

»Wie? Du gehst nicht rein?«

»Wieso sollte ich, wenn der Film öde ist?«

Wieder sein Lächeln, ich weiß nicht, ob er mich verarscht oder nicht, aber ich lächle zurück, denn es ist allemal besser, als alleine hier rumzustehen.

»Wie wäre es stattdessen mit einem Eis?«, fragt er.

Ich verrate ihm, dass ich auf eine Freundin warte, denn so leicht bin ich nun auch nicht zu haben. Der Typ sieht sich um, will wohl schauen, ob es nicht ein Traum ist, dass ich ihm über den Weg gelaufen bin. Nee, du träumst nicht, will ich sagen, da zwinkert er mir zu. Er zwinkert wirklich.

»Wir könnten draußen auf deine Freundin warten und dabei ein Eis essen. Meine Einladung natürlich. Aber nur, wenn du willst«, schiebt er hinterher, mit einem dicken Fragezeichen am Ende. Eigentlich echt freundlich, aber ich lass ihn mal lieber noch eine Minute zappeln. Freundlich ist ja nur die halbe Miete. Ich bin ja nicht naiv.

Trau keinem Fremden, der dir was Süßes anbietet, hat meine Tante mir eingepaukt, und wer ohne Eltern aufwächst, der hört eben auf seine Tante.

»Hm«, mache ich und strecke meine Brust ein wenig raus und checke den Typen von unten nach oben – Doc Martens an den Füßen, Jeans, schwarzes T-Shirt, Lederarmband am Handgelenk, die Haare zum Zopf geflochten wie ein Indianer. Und wenn mich mein Riecher nicht täuscht, hat der Typ genauso viel Parfum hinter den Ohren wie ich. Riecht lecker. So was nennt man ein Qualitätsmerkmal. Als er einen Blick auf seine Uhr wirft, sehe ich schon wieder Gold. Könnte wetten, wenn der lacht, geht die Sonne auf.

»Der Film geht noch eine Stunde«, sagt er, »also, was meinst du?«

Fragen über Fragen. Ich habe eine Frage an mich selbst: Mensch, Stinke, jetzt hab dich nicht so, du blöde Zicke, der geht dir schon nicht an die Wäsche, und wenn, da hast du doch schon Schlimmeres erlebt, oder?

»Ein Eis wäre schon okay«, sage ich und spüre, wie mein Herz laut losflattert.

Bevor wir das Foyer verlassen, kauft er Eis von dem Fritzen, der hinter der Popcornmaschine hockt und aussieht, als hätte man eine Woche lang vergessen, ihn zu gießen. Klar nehme ich das teuerste Eis, ich will mich ja nicht lumpen lassen. Der Typ sagt »Prima« und ich lache und er lacht mit mir, dann stehen wir draußen und knabbern an unserem Eis und sehen uns immer wieder kurz an. Voller Flirtblick, fast wie ein Schleier vor meinen Augen. Es war also doch kein so schlechter Einfall, den Kinosaal zu verlassen. Dazu sieht der Typ aus einem bestimmten Winkel aus wie Alberto. Alberto war kein Italiener, das habe ich mir nur gewünscht. Alberto hieß in Wirklichkeit Albert, aber was ist denn das bitte schön für ein Name? Das war einer, oh Mann, der hat mich so richtig kirre gemacht. Stand voll auf die Stinke. Wollte mich fressen, hat er gesagt. »Isch fresch disch.« Scheißlispeln, aber komisch, wenn man darüber lachen konnte. Und quatschen wollte ich ja so oder so nicht mit ihm. Der hat mich abgeknutscht und an meinen Lippen genuckelt, als wären sie ein rosafarbenes Wassereis. Und einmal schob er mir an der Bushaltestelle seine Pfoten hinten in die Jeans, schob sie unter meinen Slip und grabbelte mir am Hintern. Das ist kein Witz, der grabbelte und grabbelte. »Was machst ’ n da?«, wollte ich wissen und er drückte mich enger an sich, jetzt beide Hände unterm Slip und schwer atmend, drückte mich Ah-ah-ah an sich, dass ich seinen Ständer spüren konnte. »Bin Arschfetischist«, raunte er mir ins Ohr. Ganz die Coole war ich da auch nicht mehr und habe gemurmelt: »Was du nicht sagst.« Ich hatte keine Ahnung, was ein Arschfetischist war, mir blieb auch nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn Alberto drückte und knetete mir die Backen, dass ich dachte, der reißt mich gleich entzwei. So weit kam es dann doch nicht, denn plötzlich wurde Alberto ganz still und hörte auf zu atmen und kam gegen meinen Bauch gedrückt Ah-ah-ahh! mit einem Seufzer, und das alles an der Bushaltestelle an einem schönen Tag im Mai.

»… noch nie gesehen. Ich bin im Wedding aufgewachsen, mein Halbbruder lebt in Bielefeld.«

Der Typ redet und redet und lächelt mich an und ich denke: Wie lange quasselt der eigentlich schon? Ich lächle zurück und lecke mir etwas Eis vom Handgelenk und frage mich, ob er vielleicht auch ein Arschfetischist ist.

»Also siehst du deinen Halbbruder nicht so oft?«, nehme ich das Ende seines Satzes auf.

»Richtig.«

»Cool.«

»Und du?«

»Was ich?«

»Gehst du noch zur Schule?«

Ich zeige ihm mein Handgelenk. Ein kleines Tattoo prangt an der Stelle, an der immer der Puls gemessen wird. Ein Wort, nicht mehr.

»Vorbei?«, fragt er.

»Richtig, vorbei.«

»Abitur?«

»Nee.«

Ich verdrehe die Augen und lache, also wirklich, als ob eine wie ich nach Abitur aussehen würde. Schwachsinn. Der stellt ja Fragen. Achtung, da kommt schon die nächste.

»Und was hast du vor?«

»Mal sehen. Vielleicht mache ich einen Beautysalon auf. So was. Und du?«

»Ich versuche noch immer in meinem Leben anzukommen.«

Komische Antwort, denke ich und tue, als würde ich die Filmplakate studieren. Der Typ soll mich mal in Ruhe betrachten. Vielleicht hat er keine Freundin, wäre doch was für mich. Aber Typen wie der haben garantiert eine Freundin. Eine von den Glatten, die nie aufs Klo müssen und am Morgen wie Blumen aus dem Mund duften. So eine passt zu ihm, denn er ist viel zu nett für diese Welt – redet nett, riecht nett und scheint Kohle zu haben. Vielleicht pumpt er mir einen Zehner, dann müssten wir uns wiedersehen, damit ich ihm das Geld zurückgebe. Keine schlechte Idee, aber Indi würde durchdrehen.

Ich spüre, dass er mich betrachtet.

Zum Glück trage ich diesen dämlichen Minirock nicht mehr. Ich sah ja aus wie Biene Maja mit Verstopfung. Sein Blick wandert von meinen Plateauschuhen nach oben zu meiner durchgewetzten Cordhose mit Schlag, schmale Taille, Bluse unter der Samtjacke, lange Pause an meinen Brüsten, klar bleibt er da mit dem Blick länger hängen, was soll es, er hat ja für das Eis bezahlt. Vielleicht bemerkt er, dass ich ein wenig wie Kristen Bell mit roten Haaren aussehe, aber garantiert hat er Veronica Mars nicht gesehen.

»Wie alt bist du?«, fragt er. Augen auf meinem Mund. Pause.

»Siebzehn«, lüge ich ein Jahr dazu. »Und selber?«

»Zu alt.«

»Komm schon.«

»Wie wäre es mit vierundzwanzig?«

»Definitiv zu alt«, sage ich und lache.

Er lacht auch, holt Luft, setzt an:

»Hättest du Lust  – – –«

»He, he, he, was läuft denn hier?!«

Indi ist aufgetaucht, direkt hinter mir, und er sieht genauso beschissen aus wie gestern Abend. Verfilzte Rastalocken, die ihm bis zur Schulter hängen wie ein zerfranster Wischmopp, Augen auf Halbmast, der Gestank von Räucherstäbchen und Dope, Hemd halb in, halb aus der Hose, barfuß in Sandalen, die Zehen dunkel vom Straßenstaub. Er legt mir den Arm um die Hüfte, sodass seine Fingerspitzen die Unterseite meiner Brust berühren, und fragt den Typen:

»Wer bist du denn?«

Der Typ sieht mich an, als hätte ich ihm die Frage gestellt, dann antwortet er:

»Neil.«

»Ey,  ’n Franzose«, sagt Indi.

»Nein«, sagt Neil und lacht, ohne den Blick von mir zu nehmen.

»Neu hier?«, fragt Indi weiter.

»Was ist denn das?«, schalte ich mich endlich ein. »Ein Verhör, oder was?«

Indi drückt mich enger an sich und wundert sich bestimmt, was seine Schnecke plötzlich hat. Nix mehr mit Schnecke, ich habe große Lust, ihm mit meinen Hacken auf die nackten Zehen zu treten.

»He, wollte nur mal fragen«, spricht Indi weiter. »Interesse und so, kapiert? Hab den Typen noch nie hier gesehen, schadet doch nicht, zu wissen, wo die Leute herkommen. Europa und so.«

»Neil ist in Neukölln aufgewachsen«, sage ich. »Richtig?«

Ich hebe die Augenbrauen, als ich das sage. Neil soll sehen, dass ich ihm zugehört habe. Habe ich, aber nicht gut genug.

»Richtig«, sagt Neil, um mich nicht zu blamieren, dann wendet er sich an Indi: »Und du? Wer bist du?«

»Wer ich bin, Mann?«

Indi lacht und streicht sich eine verfilzte Haarsträhne hinter die Ohren.

»Du musst echt neu sein, Mann, ich bin Conan der Barbier, Alter, was hast du denn gedacht, wer ich bin?«

Indi gackert, Neil lacht mit, während ich versuche, den Mund nicht zu verziehen. Jetzt nur nicht grinsen, denke ich und befreie mich aus Indis Arm.

»Was denn?«, fragt er. »Gibt’s Ärger?«

»Nee, aber lass mich mal los.«

»Empfindlich heute, was?«

Indi hebt die Hände, als hätte er sich an mir verbrannt. Er tritt einen Schritt zurück und grinst Neil an. Neil grinst nicht zurück. Gut so. Indi schaut sich um.

»Wo sind denn die anderen?«

»Im Kino, wo sollen sie sonst sein.«

»Was?! Hat der Film schon angefangen?«

»Seit einer halben Stunde, du Idiot.«

»Oh Mann, und was mache ich jetzt?«

Geh nach Hause, denke ich, als Neil mich fragt, wie ich heiße.

»Stinke.«

»Was?«

»Stinke«, meldet sich Indi und schlingt erneut den Arm um mich. »Das hier ist meine Süße, die Stinke.«

Er drückt mir einen saftigen Kuss auf die Wange, sogar aus dem Mund riecht er nach Räucherstäbchen. Ich schiebe ihn weg von mir.

»Komischer Name«, sagt Neil.

Ich winke ab.

»Ist wegen dem Parfum. Riech mal.«

Er beugt sich vor, schnuppert an meinem Handgelenk.

»Riecht gut.«

»Deins auch.«

Wir sehen uns an.

»Und weil ich miese Laune habe«, gebe ich zu. »Fast immer.«

»Eine echte Stinke also.«

»Aber wie.«

»Ey, ich bin auch noch da«, sagt Indi.

Neil ignoriert ihn und fragt, ob ich heute noch was vorhabe. Ich zucke mit den Schultern, als wäre nichts angesagt, als hätte ich nicht vor, mit meiner Clique eine Weile vor dem Pizzastand herumzuhängen, als wollten wir danach nicht auf dem Spielplatz herumsitzen und quatschen und einen rauchen wie nach jedem bescheuerten Kinonachmittag.

»Wieso fragst du?«, frage ich zurück.

Neil beugt sich vor, seine Lippen berühren kurz mein Ohr, er flüstert:

»Ich brauche dich.«

Nicht mehr und nicht weniger.

Ich brauche dich.

»Gut«, antworte ich viel zu schnell, als könnte jedes kleine Zögern meine Worte nichtig machen.

»Gut was?«, fragt Indi.

»Wir drehen noch eine Runde«, erkläre ich.

»Was?! Und ich? Was mache ich?«

»Warte auf die Clique«, gebe ich ihm den Tipp und wende mich ab und gehe ein paar Meter vor und hoffe, dass Neil nicht in die andere Richtung spaziert. Macht er nicht. An der Ecke bleibe ich stehen und schaue über die Kreuzung, als wüsste ich ganz genau, was ich tue.

»Da vorne.«

Neil zeigt auf einen Jaguar, grau und schick.

»Wow, wo hast du den her?«

»Meinem Vater geklaut«, sagt Neil und schließt die Tür für mich auf.

RUTE

Es waren einmal fünf Mädchen und ich war eine davon.

So oder ähnlich könnte das Märchen beginnen.

Eine davon.

Genau so fühle ich mich, auf dem Rücken liegend und über mir die moosgrüne Zimmerdecke, die ich an einem Nachmittag mit meinen Mädchen zusammen gestrichen habe, als mir das Zitronengelb auf die Nerven ging und ich eine Veränderung brauchte. Ich wohne in einem Altbau am Savignyplatz und das Hochbett steht zwei Meter über dem Boden. Seitdem das Gelb weg ist, ist es jeden Morgen so, als würde ich in einem Wald erwachen. Jetzt erinnert mich das Grün an das Meer, das ich gesehen habe, als meine Eltern mit mir durch die Bahamas gereist sind. Natürlich musste ich tauchen und dort im Wasser wäre es dann beinahe passiert. Für einen Moment habe ich mich in der Tiefe verloren. Ich war ein Teil des Wassers und wusste nicht, wo sich oben und unten befand. Es war das aufregendste Erlebnis, dass ich je gehabt hatte, und ich frage mich seitdem, was gewesen wäre, wenn ich mich falsch entschieden hätte und weiter hinabgetaucht wäre.

Wie verliert man sich?

Verschwindet man oder wird man ein Teil der Tiefe?

Jetzt liege ich auf meinem Hochbett und die moosgrüne Zimmerdecke ist zum Greifen nahe, ich muss nur den Arm ausstrecken. Auch wenn ich mir sicher bin, dass man nicht einfach so verloren gehen kann, bin ich mir nicht sicher, was da eigentlich zwischen meinen Beinen geschieht. Wissen ist nicht alles.

Ist es seine Zunge? Ist es sein Finger?

Ich schaue runter, sein Kopf bewegt sich, es sollte also seine Zunge sein, die ich da spüre. Er lässt sich aber auch ganz schön Zeit. Ich bereue es sehr, dass es so weit gekommen ist. Warum habe ich mich nur so gehen lassen.

Er hat so nett gefragt.

Das ist alles?

Das ist alles.

Ich ziehe leicht an seinen Ohren, denn Haare sind da nicht. Eric schaut auf. Seine Lippen glänzen. Er sieht mich fragend an und ich wünschte mir, er würde ein anderes Gesicht machen.

»Was tust du da?«, will ich wissen.

»Wie fühlt es sich denn an?«, fragt er zurück und grinst und verschwindet wieder zwischen meinen Beinen.

Ich seufze und wünschte, es wäre sein Finger und nicht seine blöde Zunge, dann würde ich garantiert mehr spüren. Es gibt Jungen, die können nicht küssen. Sie tauschen literweise Spucke aus und wollen dich dabei auch noch vor Leidenschaft keuchen hören. Ich will so geküsst werden, dass meine Lichter flackern. Flackern sollen sie und nicht ausgehen. Jungs sollten von Mädchen lernen. Einmal hat mich Nessi geküsst. Es war letztes Silvester, wir haben betrunken bei Taja im Zimmer rumgesessen und plötzlich war knutschen angesagt und mein Mund landete auf Nessis und es wurde der heißeste Zungenkuss, den bis heute kein Junge toppen konnte.

Eric kann definitiv nicht küssen und es nervt mich, dass ich es ihm nicht schon am ersten Tag gesagt habe. Zwei Wochen läuft das jetzt schon mit uns und er knutscht noch immer wie ein Frosch mit Liebeskummer. Taja hat mich vorgewarnt und das habe ich jetzt davon – einen Typen mit Glatze, der nicht küssen kann und zwischen meinen Beinen herummacht, als würde er mit seiner Zunge ein Rubbellos bearbeiten.

Meine Gedanken schweifen ab.

Ich wünschte, Taja wäre jetzt da, dann wäre alles anders.

Süße, wo bist du nur?

Ich zähle die Bücher im Regal, spanne den Bauch an und bewundere meinen Bauchnabel mit dem kleinen Ring. Ich frage mich, welche Pizza ich nach dem Kino bestellen werde und ob der Film wirklich so schräg sein wird, wie alle behaupten. Dann ratter ich das Alphabet rückwärts runter und bei F habe ich genug und ziehe Eric an beiden Ohren zu mir hoch. Irgendwann ist genug einfach genug. Ich küsse ihn und er macht wieder einen auf Frosch, aber das ist besser als dieses Herumgefummel. Ich schmecke mich auf seiner Zunge und das erregt mich und es ist wie ein Kreis, der sich schließt. Erics Bein rutscht zwischen meine Schenkel, der Druck ist gut, ich presse zurück, mein Unterkörper zuckt und es geht so schnell, dass ich seinen Nacken umklammere, um mich nicht völlig zu verlieren. Sein Mund landet auf meinem Hals, ich will ihn warnen, dass er tot ist, sollte er mir einen Knutschfleck machen, aber ich kann ihn nicht mehr warnen, denn meine Lichter brennen durch, kein Flackern mehr, einfach nur Licht aus, während der Orgasmus durch mich hindurchgleitet wie ein glühendes Messer durch einen Block Butter, ohne ein einziges Mal festzustecken. Und es hat nichts mit Eric zu tun.

»Ja«, sage ich leise.

Eric bekommt davon nichts mit, er ist zu erregt, um irgendwas mitzubekommen. Er knetet meine Brüste und atmet in mein Ohr. Ich lasse seinen Nacken los und sinke zurück. Das Messer ist verschwunden, ich bin jetzt nur noch schmelzende Butter und da ist die Hitze zwischen meinen Beinen und die Sanftheit meines Ichs in meinem Kopf.

Es wäre perfekt, wenn ich jetzt alleine wäre.

»Oh Gott!«

Eric seufzt laut, als ich ihn in die Hand nehme. Er zuckt, er drückt sich fester an mich. Mit Lust und der unterschwelligen Panik, zu schnell zu kommen. Ich sehe über seine Schulter auf die Uhr.

Wir haben noch zehn Minuten.

Meine Hand öffnet seinen Reißverschluss. Ich bin träge und faul und würde viel lieber ein Nickerchen machen, meine Bewegungen sind wie unter Wasser. Eric zittert. Ich rolle ihn auf den Rücken. Er ist so willenlos, ich könnte jetzt alles mit ihm anstellen. Seine Boxershorts sind an zwei Stellen feucht. Ich berühre ihn durch den Stoff hindurch und er verkrampft sich. Eric hat mal gesagt, mein Gesicht wäre zu viel für ihn, und ich habe mir vorgestellt, wie er sich befriedigt und dabei unser Klassenfoto anstarrt. Jetzt sind seine Augen weit aufgerissen, beinahe schon erschrocken sieht er mich an.

Das ist keine Liebe, denke ich, das ist was anderes.

Ich schiebe seine Shorts runter, ohne den Blickkontakt abzubrechen. Ich rieche seinen Schwanz, bevor ich ihn sehe. Der Geruch, die Erwartung.

»Augen zu«, sage ich.

Eric schließt die Augen so hastig, als würde sein Leben davon abhängen. Ich beuge mich runter und küsse seine Eichel, lecke darüber. Er glüht, er schmeckt ein wenig bitter. Ich habe darauf bestanden, dass er sich vorher wäscht. Sanft nehme ich ihn in den Mund und spüre ihn zucken und wachsen und lasse ihn wieder aus dem Mund fallen. Er kommt in hektischen Zuckungen, es fließt aus ihm heraus, auf meine Hand, meinen Bauch, das Laken. Dazu wimmert er.

Süß, denke ich und lege einen Finger auf seinen bebenden Schwanz und kann seinen Herzschlag spüren.

Das Zucken nimmt ab, das Fieber ist vorbei.

Ich schaue auf.

Eric starrt an die Zimmerdecke, er kann mir nicht in die Augen sehen, es ist keine Minute vergangen.

Eric wartet im Flur, während ich mir vor dem Spiegel die Lippen nachziehe. Wie ich wohl in vierzehn Jahren aussehen werde? Ich habe zwar nicht wirklich vor, dreißig zu werden, ich hatte aber auch nie vor, mit sechzehn von einem Frosch geleckt zu werden. Mein Blick im Spiegel ist skeptisch. In der rechten unteren Ecke sehe ich ein schwarzes Herz und frage mich, wieso die Zeit so rasend schnell vergehen muss. Das Herz hat Taja vor drei Jahren mit Edding gemalt, als meine Mädchen hier übernachtet haben.

Für ewig, steht unter dem Herzen.

Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat.

Nichts ist für ewig, alles hat ein Haltbarkeitsdatum.

Und ich werde irgendwann dreißig.

Ich bin keine Schönheit. Ich würde nie auf ein Foto von mir starren und mich dabei befriedigen. Ich bin das, was zwischen Schönheit und Langeweile liegt. Ganz ehrlich, ich mache mich hier nicht schlechter, als ich bin. Aber ich hasse es, dass heutzutage jede durchschnittliche Nuss denkt, sie wäre ein Star. Daran sind nur Madonna und Lady Gaga schuld. Langweilige Fressen mit nichts dahinter. Ich bin nicht wirklich besser, aber ich versuche auch nicht krampfhaft, besser zu sein.

Meine Augen sind grau wie ein See nach dem Regen, mein Haar ist glatt und so hell, dass es fast weiß ist. Ich erinnere viele Leute an irgendjemanden, aber niemand kann sagen, an wen genau. Wenn es meine Freundinnen nicht geben würde, wäre ich unsichtbar.

Wir Mädchen sind uns in vielen Dingen ähnlich und genau das hat uns zusammengeführt. Was uns aber grundsätzlich unterscheidet, das ist der Hunger. Stinke nennt es Geilheit, aber ich mag das Wort nicht. Keines meiner Mädchen ahnt, was für ein Hunger in mir brennt und dass dieser Hunger nicht einmal endet, wenn ich satt bin. Er verlangt immer nach meiner Aufmerksamkeit. Selbst nachts lässt er mich aus dem Schlaf schrecken.

Mehr und mehr, zischt er.

Mehr Musik, mehr Gequatsche, mehr Zeit, mehr Sex.

Und ganz besonders mehr Leben.

Mein Zimmer hat vierzehn Quadratmeter.

Mehr nicht.

Ich giere nach mehr.

Meine Mädchen wissen nichts von meinen Plänen. Sie denken, wir werden die nächsten hundert Jahre gemeinsam durch Berlin ziehen, alles miteinander teilen und uns nie trennen. Ich habe da keine Illusionen, ich bin keine Träumerin wie Nessi und auch keine Fatalistin wie Stinke. Ich sehe mein Leben ganz realistisch, deswegen weiß ich auch, dass ich mit meinem Gesicht allein nicht weit kommen werde, für den Rest muss mein Verstand sorgen. Und Verstand habe ich genug.

Ich will was erreichen.

Das Tattoo auf meinem Handgelenk ist kaum noch zu erkennen, obwohl es erst einen Monat alt ist. Nadel, Tinte und eine Flasche Wodka. Die Schrift ist winzig klein. Vorbei. Unser Abschied von der Schule. Heute ist der letzte Tag. Für alle, nur nicht für mich. Wüssten meine Mädchen, dass ich das Tattoo jeden Abend mit Seife und einer Bürste bearbeite, würden sie mir das nie verzeihen. Und wüssten sie, dass ich nach dem Sommer auf die gymnasiale Oberstufe gehe, würden sie garantiert durchdrehen. Wir alle haben Pläne: Stinke mit ihrem Beautysalon, als wäre das die Sahne von der Sahne, irgendwelchen Rentnerinnen die Falten zu polieren. Schnappi will einfach nur weg von ihrer verrückten Mutter, die schon seit Ewigkeiten plant, Schnappi nach Vietnam zu verschicken, damit sie dort einen passenden Mann findet, der sie einmal in der Woche verdrischt und ihr ganzes Geld verpulvert. Schnappi in Vietnam, das ist so wie ich bei Aldi hinter der Kasse. Nee, Schnappi muss einfach raus in die Welt. Sie weiß zwar nicht, was sie will, sie weiß aber, was sie alles nicht will. Nessi hat den schrägsten Plan von uns allen: Die Süße will auf dem Land wohnen. Egal wo. Sie ist unser ganz privater Öko und träumt von einer Kommune, in der wir jeden Tag zusammen kochen und reden und so zufrieden sind, dass sich die Außenwelt auflöst. Die Künstlerin unter uns ist Taja. Sie hat das musikalische Talent von ihrem Vater geerbt und will im Herbst durch Europa tingeln, um auf den Straßen zu musizieren, was ich dämlicher finde, als einen Beautysalon zu eröffnen. Wer mag schon diese Leute, die an der Ecke herumlungern und vor sich hin klimpern? Oder noch viel schlimmer, wer will schon in der U-Bahn sitzen und dann kommt so ein Stimmungsmacher herein?

Ich wünsche mir, ich könnte von jedem meiner Mädchen einen Teil stehlen – Stinkes Wut und Empörung über die Ungerechtigkeit dieser Welt; Schnappis atemlose Energie, die Windräder in Bewegung setzen kann; Nessis Wärme und Fürsorge und dieses unsichtbare Band, das sie immer zwischen uns spinnt und ohne das wir einfach in alle Richtungen verschwinden würden; und ganz besonders hätte ich jetzt gerne etwas von Taja, weil sie schon so lange verschwunden ist, und da ist es egal, was für einen Teil ich abbekomme, da nehme ich alles. Das Leuchten in ihren Augen, als würde sich ein Gewitter nähern, ihre Skrupellosigkeit, die sie machen lässt, was sie will, weil sie sich für unzerstörbar hält. Oder ihre große Lust auf Abenteuer, als wäre das Leben immer gefährlich und nicht bloß eine öde Ansammlung von Schultagen. Taja sieht mehr als wir. Wenn sie mit uns losstürmt, öffnet sich die Welt und beugt das Knie vor unserer gemeinsamen Kraft.

Süße, wo bist du nur?

Wir haben Taja das letzte Mal vor einer Woche gesehen, seitdem herrscht Funkstille und das ist in den vier Jahren, die wir uns kennen, bisher nicht ein Mal vorgekommen. Keine Rückrufe, keine Antworten auf unsere SMS, nichts. Stinke ist am Wochenende sogar nach Zehlendorf runtergefahren, aber niemand hat auf ihr Klingeln geöffnet. Schnappi meinte, Taja könnte vielleicht mit ihrem Vater unterwegs sein, wie sie es letztes Jahr zu Weihnachten getan hat, Sachen gepackt und uns eine Postkarte geschickt, auf der stand, dass die Cocktails spottbillig sind.

Alles ist möglich, es ändert aber nichts daran, dass uns Taja sehr fehlt.

Ich checke hundert Mal am Tag mein Handy, weil ich keine Nachricht von ihr verpassen will. Ich wünsche mir, wir hätten uns gestritten, dann würde es einen Grund geben. Aber in die Leere zu starren und niemand starrt zurück, das ist wirklich Kacke.

»Ich wünschte, du wärst hier«, sage ich leise zu meinem Spiegelbild und berühre das schwarze Herz in der rechten Ecke und denke mir, dass es wirklich an der Zeit ist, dass ich in die Gänge komme. Ich werfe mir einen letzten Blick zu, bevor ich zu Eric gehe, der schon ungeduldig im Flur auf mich wartet.

Das Popcorn schmeckt nach Pappe. Der Fritze hinter der Popcornmaschine sagt, dafür kann er nichts, was wegmuss, muss weg. Er verspricht, mir beim nächsten Mal eine frische Portion zu machen. Ich frage ihn, welches nächste Mal er meint. Da wird er rot und Eric lacht und stößt mich mit der Schulter an, sodass ich die Hälfte von meinem Popcorn über die Theke verteile.

»Der will dich«, sagt er.

»Dann soll er sich hinten anstellen«, sage ich.

Eric setzt sich im Kinosaal zu den Jungs, ich gehe in die letzte Reihe und quetsche mich rein, denn natürlich sind wir zu spät und die Werbung läuft längst und alle stöhnen und machen Sprüche. Dann sitze ich endlich und Schnappi stellt fest: »Du bist zu spät.« Worauf ich sage, dass ich das auch schon bemerkt hätte, nur Nessi hält den Mund, sitzt da und sieht aus, als ob sie am liebsten woanders wäre.

»Und Stinke?«, frage ich.

»Die ist heute unsichtbar«, sagt Schnappi und klopft auf den freien Sitz zwischen uns. »Wenn sie nicht in fünf Minuten auftaucht, sitze ich neben dir. Hast du von Taja gehört?«

»Nee, du?«

»Kein Wort.«

Die Trailer laufen an und natürlich kommt genau da Stinke in den Saal gerannt und alle stöhnen laut auf, während sich Stinke durch die Reihe quetscht und jedem auf die Füße tritt. Kaum hat sie sich zwischen Schnappi und mich gesetzt, kaum ist wieder Ruhe eingekehrt, hustet Schnappis Handy laut los, was immer witzig klingt, denn Schnappi hat sich das Husten ihres Cousins als Klingelton draufgespielt hat, aber witzig ist es nur, wenn man nicht im Kino sitzt. Also stöhnen wieder alle und Schnappi sagt »Sorry, sorry« und schaltet ihr Handy aus und die Trailer wollen gar nicht mehr aufhören. Endlich beginnt der Film und wir sehen ein Schiff im Hafen und alle feiern, dass mir das Gähnen kommt.

»Sind wir im falschen Film?«, fragt Stinke.

»Sieht so aus«, sage ich.

»Sei doch mal still«, zischt Schnappi.

Stinke rutscht im Sitz ein Stück runter und sagt, dass sie den Kinotag hasst.

»Wieso kommst du dann mit?«, frage ich.

»Wieso nicht?«

Ich trinke von meiner Sprite, Schnappi beugt sich rüber, nimmt sich von meinem Popcorn und spuckt es sofort aus.

»Ist das Deko, oder was?!«

Stinke prustet los, auch ich kann mich nicht halten, die Sprite schießt aus meiner Nase und tropft eiskalt zwischen meine Brüste.

Na, vielen Dank.

Auf der Leinwand ist gute Stimmung. Die Leute freuen sich auf die Bootsfahrt, sie tragen Uniformen und sehen aus, wie man sich alle Amerikaner an einem Sonntagnachmittag vorstellt. Eric dreht sich um und zwinkert mir zu, Stinke fragt ihn, ob er ein Foto machen will, Schnappi wirft ihm Popcorn an den Hinterkopf und ich sage, das Popcorn ist wirklich eklig, als alles explodiert und uns die Herzen bis in die Schlüpfer runterrutschen. Flammen und noch mal Flammen, die ganze Leinwand steht in Flammen, eine Explosion jagt die nächste, dass uns der Mund aufklappt und wir nichts mehr sagen können, denn es gibt keine Fragen mehr – wir sind hundertprozentig im richtigen Film.