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((bei fremdsprachigem Autor:))
Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
© Arne Dahl 2021
Published by agreement with Salomonsson Agency
Titel der schwedischen Originalausgabe: »Islossning«,
Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2021
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: likman/depositphotos
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Trotz der Augenbinde kann er alles sehen. Alles, was vor sich geht. Leise. Schweigend.
Die Vorbereitungen.
Es ist beängstigend still. In der Luft liegt der Duft der Sommernacht. Sonst hört man nichts. Keine Vögel, keine Mücken, keine Eulen, kein Laut. Die Natur ist vollkommen still. Nicht das leiseste Knirschen des Sandes unter den Stuhlbeinen. Unter keinem der vielen Stuhlbeine.
Er ist noch so jung. Er hat keine Vorstellung davon, was passieren wird. Hat nur erklärt bekommen, wie es ablaufen soll. Er weiß, dass alles zu seinem Besten geschieht.
Es wird sehr wehtun.
Aber es wird es wert sein.
Das haben sie ihm gesagt: Es wird es wert sein.
Er ist noch so klein, und macht sich schon Gedanken über Verrat. Was ist Verrat? Gibt es schlimmen und weniger schlimmen Verrat? Ist das hier der größtmögliche Verrat, den man sich vorstellen kann?
Trotz Augenbinde kann er den Strand sehen. Wo sie sich sonst mit Sand bewerfen, sich ins Wasser schubsen, Hände und Knie auf dem Meeresgrund aufschürfen, auf die seifig glatten Felsen unter Wasser klettern, um von dort hinunterzurutschen, sich den Hintern zu stoßen und unterzutauchen, auf der Jagd nach bunten Steinen.
Die Sommernacht ist ungewöhnlich still.
Bis er ein schwaches Brummen hört, kaum wahrnehmbar. Ist das ein Motor? Doch das Geräusch erstirbt gleich wieder.
Es ist schon dunkel. Glaubt er zumindest. Es müsste dunkel sein. Jetzt müssten die wenigen dunklen Stunden angebrochen sein, wenn die Sonne hinter dem Horizont für kurze Zeit ins Ungewisse abtaucht. Doch er weiß es nicht.
Er weiß tatsächlich gar nichts.
Aber in ihm rührt sich etwas. Er hat keine Kontrolle darüber. Genau genommen sind es zwei Dinge.
Das eine ist Angst. Entsetzen. Panik. Er weiß, dass es nur zu seinem Besten ist, aber er will nicht, dass es wehtut. Er will nicht auf die Schmerzen warten. Er hasst, was in den nächsten Minuten dieser Julinacht passieren wird.
Das zweite entsteht in diesem Augenblick. Es ist Wut. Die Wut über den Verrat. Obwohl er noch so klein ist, weiß er genau, dass ihn dieses Gefühl nie mehr verlassen wird.
Die Wut durchdringt seine Augenbinde, brennt Löcher hinein, durch die er alles sehen kann. Er sieht die Uferkante und das Wasser des stillen Sees dahinter, er sieht die flachen Felsen, die neugierig aus dem Wasser ragen, er sieht den Waldrand, dessen Silhouette sich wie ein Sägeblatt auf der anderen Uferseite erhebt.
Alles, was er nicht sehen kann, brennt die Wut für immer in seine Erinnerung.
Plötzlich hört er ein Knirschen. Im Sand. Sehr deutlich. Und es ist, als würde ihn jemand aus einer anderen Zeit bedrängen.
Samstag, 4. März
Ihr Bewusstsein wurde von einem Wurmloch verschlungen, und übrig blieb nichts als Schmerz.
Um diesem irren Schmerz zu entkommen, suchte sie nach dem richtigen Wort. Worte beruhigen. Worte beruhigen. Worte beruhigen.
Da sich die Hände dem Wortlosen nur langsam näherten, hatte sie eine Chance, den passenden Ausdruck zu finden. Sie versuchte, ihren Synapsen weitere Assoziationen abzuringen.
Gymnastik. Akrobatik zwischen zwei horizontalen Stangen. Aber man nennt sie nicht Stangen, oder? Und wie heißt die Disziplin?
Sie wusste genau, dass sie sich damit nur ablenken wollte. Dass dies ein Ausweichmanöver war. Damit der Schmerz sie nicht überrollen konnte und die eigentliche Bewegung unmöglich machte.
Frauengymnastik? Männergymnastik? All das fühlte sich männlich an. Was gab es für gymnastische Disziplinen für Männer? Bodenturnen, natürlich. Und dann Pferd, Ringe. Sprung? Gab es die Disziplin Sprung? Aber wie hieß das Gerät mit den Stangen? Barren?
Ja, genau. Barren. So hieß das. Es war der erste schmerzfreie Moment seit unzähligen Monaten, jetzt, da sie das Wort vor sich sah.
.
Die Hände, die sie bis dahin gehalten hatten, ließen sie los, als sie die Holme gepackt hatte. Die beiden Stangen erstreckten sich in die Unendlichkeit.
Zwischen ihnen tauchte ein Gesicht auf, keinen halben Meter entfernt. Die Lippen der Frau bewegten sich, als würden sie ihr etwas zurufen, sie anfeuern. Aber sie hörte kein Wort, die Frau blieb stumm. In ihr war kein Raum für Laute. Der Schmerz hatte jeden Millimeter okkupiert.
Trotzdem machte sie den ersten Schritt. Ihren ersten eigenen Schritt. Sie hing auf den Holmen und kämpfte sich vorwärts. Der Schmerz wurde übermächtig, zu mächtig für ihren Körper. Es war, als würde er durch ihre Haut dringen und sie wie eine fauchende, zischende Aura umgeben. Trotzdem machte sie einen zweiten Schritt.
Und noch einen.
Sie starrte wie besessen auf das Gesicht vor ihr, und dieses Starren schien ein Loch in die Aura zu brennen und Geräusche hineinzulassen. Sie hörte ihr eigenes Gebrüll, das sich mit ihren Tränen mischte und der Frau entgegenschlug.
Die sprang auf sie zu und packte sie am Rumpf.
»Nicht aufgeben, Desiré, Sie haben die Hälfte schon geschafft.«
Irgendwie gelang es ihr, den weiß gekleideten Körper von sich zu stoßen.
»Nennen Sie mich nie wieder Desiré«, fauchte sie.
Dann machte sie den nächsten Schritt.
*
Molly Blom ließ ihren Blick über das kurze Straßenstück schweifen, das zu der kleinen Ansammlung von roten Holzhäuschen auf der Åsögatan führte. Der Stockholmer Winter war fast überstanden, es war ein kalter, ungemütlicher Samstag im März, und in wenigen Minuten würde sich ihr Lebenswille mehr als verdoppeln. Während sie das Haus in der Ploggatan auf Södermalm betrat, fragte sie sich verblüfft, wie es so hatte kommen können. Keinen einzigen Gedanken hatte sie früher an diese Art von Leben verschwendet – und jetzt bestand ihr Leben aus nichts anderem.
Was war aus ihren Träumen geworden?
Sie nahm zwei Stufen auf einmal, und während sie die Treppe hinauflief, tauchten vor ihrem inneren Auge Bilder einer verlorenen Welt auf: Crossfit, Selbstverteidigung für Frauen, Blut und Schweiß und Tränen. Mit der letzten Stufe verschwanden die Bilder, und an ihre Stelle trat die Realität des Treppenhauses, die grauer und kälter war. Gleich aber würde die Sonne aufgehen.
Sie klingelte an der Tür. Der Mann, der öffnete, hatte die Sonne wohl schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vor allem sah er nicht ausgeschlafen aus. Das Kind hingegen, das vor seiner Brust in der Trage hing, schnarchte lautstark.
»Sie mag Wasser«, nuschelte der Mann.
»Das kann niemand verstehen, was du da sagst«, beschwerte sich Molly Blom.
Sam Berger streckte sich, es knackte ordentlich.
»Ich habe die ganze Nacht das Wasser laufen lassen. Es war die einzige Möglichkeit, sie zum Schlafen zu bringen. Verschwendung wäre da noch untertrieben.«
»Bei mir hat sie nie Probleme mit dem Einschlafen«, log Blom.
»Dann sollten wir vielleicht doch zusammenziehen?«, sagte Berger und pellte vorsichtig ihre knapp sechs Monate alte Tochter Myrina aus der Trage.
Blom nahm sie in den Arm und spürte augenblicklich, wie die Sonne aufging. In ihr wurde ein Licht angezündet, das alles überstrahlte.
»Hör auf, dich zu beschweren«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Gib mir Zeit, um nachzudenken.«
»Am Anfang bist du für neun Monate spurlos verschwunden, um nachzudenken«, sagte Berger. »Jetzt hast du noch mal ewig Zeit gehabt. Das ist ganz schön viel Gedenke.«
Er stopfte die Trage in eine Tasche, die an dem Kinderwagen im Flur hing. Molly bettete das schlafende Kind vorsichtig in den Wagen. Berger legte seine Hand auf ihren Arm und sah ihr tief in die Augen.
»Wir haben ein Kind zusammen, Molly, es läuft doch super zwischen uns. Wir arbeiten praktisch jeden Tag zusammen. Warum kann das nicht mehr werden?«
Ausnahmsweise hielt sie seinem Blick stand.
»Du weißt genau, was passiert ist«, sagte sie.
Berger ließ ihren Arm los. Seufzte.
»Das hatte doch nichts mit uns zu tun. Wir sollten endlich anfangen …«
»Es war ein Zeichen«, erwiderte Blom. »Ich muss das erst verarbeiten. Gib mir mehr Zeit.«
»Die Schuldigen sind weg, Molly«, sagte Berger eindringlich und griff erneut nach ihrem Arm. »Nirgends eine Spur von ihnen.«
Wütend starrte Molly ihn an, schlug seinen Arm weg.
»Wir haben Deers abgesägtes Bein in unserem Bett gefunden, als wir vögeln wollten!«, schrie sie außer sich.
Das Echo ihrer Worte vermischte sich mit Myrinas Wimmern und folgte ihnen, als sie zum Aufzug rauschte.
Sam Berger sah ihnen lange nach.
*
Die Holme sind nicht mehr so unendlich lang wie zuvor. Obwohl das Flimmern in ihrem Gesichtsfeld sie verdrehte und verbog, waren sie höchstens noch einen Meter lang. Der Schmerz ließ sich nicht mehr in Worte fassen, er entzog sich ihr. Stach blind auf sie ein, er brüllte so laut, dass ihre Trommelfelle beinahe geplatzt wären, er roch nach Schwefel, schmeckte nach Wermut und versengte ihr von innen die Augenlider. Trotzdem schaffte sie noch einen nächsten Schritt.
Sie versuchte einen weiteren, aber es war, als würde man auf zwei wunden Stumpen laufen, als würden blanke Nerven, Fleisch und Knochen direkt über den Boden scheuern und schaben.
Sie stürzte.
Sie war sich sicher, dass sie stürzen würde.
Stattdessen aber schwebte sie zwischen den Holmen.
Sofort waren die Hände da, hielten sie – sicher, fest – und hoben sie hoch, forderten sie auf, sich erneut festzuhalten. Durch die Tränen sah sie, dass sich der Mund der Frau bewegte. Wieder hörte sie nichts.
»Ich kann nicht mehr«, wimmerte sie. »Es tut so schrecklich weh.«
Die dunklen Augen sahen tief in ihre.
»Dann geben Sie doch auf, verdammt«, hörte sie eine Stimme sagen. »Und probieren Sie aus, ob es so besser wird.«
Das gab ihr neuen Antrieb. Was sie weitermachen ließ, war Wut, Hass. Das Gesicht mit dem höhnischen Grinsen war wie eine Fata Morgana: Sobald sie näherkam, wich es zurück und war von Neuem unerreichbar.
Aus dem Gesicht der Frau war das Gesicht eines Mannes geworden, mit markanten Zügen und einer Narbe in Form eines R auf der Wange. Das verlieh ihr Kraft. Er war das Ziel. Ihn wollte sie töten.
Sie kämpfte um jeden Millimeter. Wie ein Blitz schoss der Schmerz durch ihren Körper. Sie hatte das Ende der Holme fast erreicht, als die Frau wieder das Gesicht übernahm und sie anfeuerte.
»Nur noch einen Schritt. Kommen Sie, Deer, das schaffen Sie.«
Sonntag, 5. März
Die Dämmerung steigt auf und breitet ihr Licht über die schneebedeckten Felsen aus, die aus der Wasseroberfläche ragen, dazwischen vereinzelte Eisschollen. Die ersten Sonnenstrahlen spiegeln sich im Wasser, im Eis und fallen in unregelmäßigen Abständen durch das Panoramafenster in den dunklen Raum.
Wenn man den Zustand dieses Raumes bedenkt, hätte die Zeit längst alle Fenster zerbersten müssen. Aber sie sind noch intakt und halten die schlimmste Winterkälte zurück. Der Raum ist kalt und karg, versinkt im Staub. Es gibt kaum Mobiliar außer ein paar Hockern, die um einen länglichen Tisch herumstehen, darauf ein altes, aufgeschlagenes Notizbuch.
Draußen geht langsam die Sonne auf. Alles ist Ruhe. Alles ist Stille.
Bis die Tür aufgestoßen wird.
Der Mann, der in den Raum stolpert, ist noch ziemlich jung. Seine Kleidung ist schwarz, seine dunkelgraue Mütze hat er tief über die Ohren gezogen. Vor Kälte zitternd, wankt er zum elektrischen Heizkörper in der Mitte des Raumes und dreht ihn auf die höchste Stufe. Er geht auf und ab, schlägt sich die Arme um den Körper, um warm zu werden. Es spritzt.
Es spritzt Blut.
Der Mann vor Blut.
Er wirft das Jagdmesser auf den Tisch und lässt sich auf einen der Hocker fallen. Das Licht ist noch zu schwach zum Lesen, aber schon stark genug, um die dunkelroten Flecken zu sehen, die sich auf dem blau-grün karierten Tischtuch ausbreiten – mit Abstand das Neueste in diesem Raum.
Der junge Mann würde sich gern nach hinten lehnen, sich von den nächtlichen, eiskalten Mühen erholen, aber die Hocker haben keine Lehne. Wahrscheinlich ist es auch besser, so schläft er nicht sofort ein. Er muss wach bleiben. Auf jeden Fall. Außerdem ist die Kälte so tief in seine Glieder gedrungen, dass er im Schlaf erfrieren würde.
Aber diese kurze Pause tut gut.
Es hat begonnen.
Seltsam, denkt er, dass es tatsächlich möglich war, den ersten Schritt zu machen. Es gibt sehr wohl ein Ende, einen logischen Abschluss, nur der Anfang hatte ihn verunsichert. Aber das ist jetzt überstanden. Jetzt wird er das hier beenden, seinen ganz eigenen Schlussstrich ziehen.
Das zähflüssige Blut tropft vom Jagdmesser auf die Tischdecke und wird gierig von den Fasern aufgesogen.
Das kranke Blut.
Ekel.
Reglos sitzt er da und sieht, wie sein Spiegelbild im Fenster langsam verblasst. Als würde er mit zunehmender Helligkeit verschwinden, aufgehen in der Natur, verschmelzen mit der Küste, sich als Individuum verabschieden und zum Schicksal selbst werden. Kurz bevor er sich auflöst, sieht er sich als seine eigene Offenbarung: jung, gesund, kraftvoll – ein Mann, der ewig leben könnte.
Wie der Schein trügen kann.
Dann senkt er seinen Blick und blättert mit blutigen Händen in dem Notizbuch. Wahllos liest er die Aufzeichnungen, die mit pedantischer Handschrift gemacht wurden:
»Es muss ohne Betäubung erfolgen. Der Schnitt ist fein, nicht tief, sauber. Die Lederbänder halten, trotz der enormen Kraft in Armen und Beinen. Die Ohrstöpsel sind das Beste, was der Markt hergibt. Wenn ich das Skalpell weglege, ist kein einziger Schrei durchgedrungen …«
Der junge Mann hebt den Kopf. Die Dämmerung hat noch mehr Licht zugelassen. Er hört das Eis, das sich bewegt, die Eisschollen, die aneinanderreiben. Es ist ein göttliches Geräusch. Und beschreibt doch seinen Zustand.
Das Eisbrechen.
Er feiert, dass er genau vor einem Jahr das Notizbuch gefunden hat. Damals hat er den Entschluss gefasst. Er feiert es auf eine ziemlich außergewöhnliche Art und Weise.
Er hat das Buch schon lange nicht mehr aufgeschlagen, kann den Inhalt aber dennoch auswendig. Die nächsten Worte erfüllen alle Erwartungen und lassen ihn an Kontakte, Kosten und diese grenzenlose Hemmungslosigkeit denken:
»Die Hand in die Eingeweide gleiten zu lassen, entlang der präzisen Schnitte durch die Haut-, Muskel- und Bindegewebsschichten, hat etwas unvergleichlich Erbauliches. Als würde man ans Unterbewusste rühren und in dem herumwühlen, was die Menschlichkeit verbergen will. Um dann das vollendete Organ in den Händen zu halten. Das ist sublim. Denn es hat mindestens siebzig Jahre garantierte, untrügliche Lebenszeit vor sich …«
Er kann die Stimme förmlich hören, das Leiernde, die Betonung der einzelnen Worte. Aber er ist sie leid, und es gelingt ihm, sie zum Verstummen zu bringen.
Der junge Mann mustert seine Hand. Wartet geduldig. Sie ist unerwartet regungslos. Als hätte die Tat sie beruhigt. Als hätte die Gewalt der Messerstiche die Irrwege seines Organismus blockiert.
Aber dann setzt es wieder ein. Es fängt wieder an. Das Zittern.
Zurück zum Bekannten. Das ist sein Leben.
Er lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. Die Küste ist in blasses Winterlicht getaucht. Er sieht den Strand, die runden Felsen knapp über der Wasseroberfläche, den Wald auf der anderen Seite der Bucht. Dort ist es passiert.
ist es passiert.
In der Fabrik.
Das Blut an seiner linken Hand ist noch nicht ganz getrocknet. Als das Zittern wieder einsetzt, fallen die letzten Tropfen auf den Tisch. Er zwingt die Hand, das Notizbuch zu berühren. Nur die rechten Seiten sind beschrieben, nur auf den linken hinterlässt er blutige Fingerabdrücke. Er blättert an den Anfang.
Zum Anfang von allem.
Zur Einleitung.
»Seit der Mensch sich aufgerichtet hat und auf zwei Beinen läuft, seit der Geburtsstunde des menschlichen Bewusstseins und des Abstraktionsvermögens träumen wir davon, das Leben verlängern zu können. Der Traum vom ewigen Leben hat in jede Religion, in jeden Mythos und jede Legende der Weltgeschichte Einzug gehalten. Mit der Säkularisierung ist er aus der diffusen Welt der Mythen aufgebrochen und hat auf seinem Weg das Paradies, die Hölle und das Fegefeuer hinter sich gelassen. Der Traum ist im Hier und Jetzt angekommen. In unserem Leben. Und es ist kein Traum mehr. Wir haben viel zu lange hingenommen, dass wir sterben müssen.«
Die prätentiöse Sprache lässt den jungen Mann erschaudern. Wenigstens ist die Stimme in seinem Kopf endlich verstummt.
Die linke Hand zittert unverändert. Als sie das Notizbuch zuschlägt, hinterlässt sie einen deutlichen Abdruck auf dem Umschlag.
Er greift nach dem Messer, packt es, drückt fest zu, als würde er das letzte Blut aus seinem Schaft pressen wollen. Nach einer Weile hört es auf zu zittern. Die Hand wird ruhig. Alles eine Frage des Willens.
Und er hat jetzt diese Willenskraft.
Er hat den Anfang gemacht.
Alles muss beseitigt werden.
Das Blatt muss bereinigt, muss wieder weiß werden.
Ohne aufzustehen, schiebt er den Hocker ans kurze Ende des Tisches. Hebt mit dem Messer die Ecke der Tischdecke an.
Trotz der Tischdecke ist die Glasplatte beschlagen, als würde sie etwas absondern. Behutsam wischt der junge Mann das Kondenswasser weg.
Und sieht in das Gesicht einer Frau.
Einer sehr schönen Frau.
Freitag, 5. Mai
Der Taxifahrer wandte sich an seinen Fahrgast und fragte: »Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?«
Der Weg wurde immer schmaler, die Bäume streckten ihnen ihre zart sprießenden Zweige entgegen. Und der blasse Himmel kündigte die bevorstehende Abenddämmerung an.
Der Taxifahrer war sich unsicher, ob er diesen Fahrgast mit gutem Gewissen mitten im Nirgendwo absetzen konnte. Denn im Kofferraum befand sich ein Rollstuhl, den er dort hineingehievt hatte.
Aber die Frau mit dem braunen Pagenkopf neben ihm auf dem Beifahrersitz nickte. Ihr Blick war auf den verwunschenen Weg vor ihnen gerichtet. Sie hatte Krücken in der Hand und wirkte sehr konzentriert. Nicht beunruhigt, nur fokussiert.
Der Wald lichtete sich. Am Ende des Weges sah der Taxifahrer ein paar Fahrzeuge stehen. Dahinter war nichts als Wald. Kein Mensch weit und breit.
Er parkte neben den anderen Autos. Seine Kundin öffnete die Beifahrertür. Er ging um den Wagen herum, um ihr zu helfen. Aber sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg und stand langsam, gestützt auf ihre Krücken, auf. Es sah nicht aus, als wären sie häufig in Benutzung.
Der Fahrer streckte ihr die Hand entgegen, um seine Hilfe anzubieten, aber sie schüttelte energisch den Kopf und machte sich auf den Weg in den Wald. Langsam und wankend folgte sie einem kleinen Pfad.
»Ich warte hier«, rief ihr der Taxifahrer hinterher. »Schließlich haben Sie Hin- und Rückfahrt gebucht. Aber wollen Sie wirklich …?«
Die Frau verschwand hinter einem dicken Baumstamm, lehnte eine der Krücken gegen ihren Körper und wollte sich abstützen. Dabei berührte sie mit der Hand eine fast vollständig mit Moos bedeckte Anschlussdose, zuckte angeekelt zurück und packte ihre Krücke. Schwer atmend beugte sie sich nach vorn. Der Schmerz war ein Teil ihres Wesens geworden. So weit war sie bisher nur in der Reha gegangen – getrieben von einer Wut, die an Hass grenzte, und bei jedem Schritt von den Pflegern begleitet.
Aber sie brauchte das hier. Alles in ihr brauchte es.
Sie musste sich wieder als Polizistin fühlen.
Desiré Rosenkvist war zwar zur Kriminalhauptkommissarin befördert worden, aber ihre Aufgaben entsprachen denen einer Praktikantin. Sie war vor knapp einem Monat zurückgekehrt und hatte erfahren, dass sie vorerst im Innendienst arbeiten würde. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie ihre Tage damit verbringen musste, Unterlagen zu sortieren.
Es war lange, sehr lange her, dass sie sich wie Deer gefühlt hatte. Nicht mehr, seit ihr beide Unterschenkel abgetrennt worden waren. Bei zwei Eingriffen innerhalb eines Tages.
Beide Unterschenkel konnten in gutem Zustand geborgen werden, und beide waren erfolgreich replantiert worden, wieder mit nur wenigen Stunden Abstand zwischen den Operationen. Aber es waren komplexe Eingriffe gewesen, nicht ohne Komplikationen.
Hinter ihr lag ein halbes Jahr des Schmerzes. Und des Kampfes, der Rückschläge, neuer Operationen, missglückter Aufenthalte in der Reha, Infektionen, Wutausbrüche, Schmerzmittel, die sie entweder so high machten, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, oder überhaupt nicht wirkten. Sie hatte Tage, die sie schreiend verbrachte. Tage.
Sie war in eine Depression gerutscht und hatte sich innerlich schon auf ein Leben als Frührentnerin vorbereitet, als ihre Physiotherapeutin Farida sie eines Tages anbrüllte: »Dann geben Sie doch auf, verdammt. Und probieren Sie aus, ob es so besser wird.«
Das hatte sie unfassbar wütend gemacht, aber es trieb sie auch an. In diesem Moment war der Mann mit der außergewöhnlichen Narbe auf der Wange vor ihrem inneren Auge aufgetaucht. Und wenn sie ihn sah, schaffte sie immer noch ein paar Meter mehr.
Sie wollte ihn töten.
Und seit etwa einem Monat ging es ihr besser. Das öde Trainingsprogramm in der Reha zeigte endlich Wirkung. Nach dieser langen Phase der Isolation, die sie fast menschenscheu hatte werden lassen, wagte sie sich wieder hinaus in die Welt, unter Leute. Sie übte mit Johnny Autofahren, ihrem Mann, dem es bei ihrem Umgang mit Gas und Bremse manchmal heiß und kalt wurde, obwohl er als Rettungssanitäter ein hart gesottener Profi war. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl in den ICA-Supermarkt im Zentrum von Skogås und verbrachte Zeit mit echten Frührentnern. Und erkannte so, dass sie nicht dazugehörte. Noch nicht.
Ein paar Wochen lang begnügte sie sich damit, alte Ermittlungsakten in ihrer kleinen, abgelegenen Ecke in der Nationalen Operativen Abteilung, kurz NOA, zu sortieren. Erst danach begann sie, sich auch mit aktuellen Fällen zu beschäftigen.
Und genau deshalb war sie hierhergefahren.
Deshalb packte sie ihre Krücken, drückte sich hoch, rutschte mit der linken Krücke weg und verlor die Schutzkappe aus Gummi. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich den unebenen Waldweg hinunter, während die Abenddämmerung unaufhaltsam näher kroch. Es war Anfang Mai, und sie lief Gefahr, sich in einem dunklen Wald zu verlaufen. Nur ihre Entschlossenheit und die Wut auf den Mann mit der Narbe trieben sie an, während die Zweige der Bäume ihr ins Gesicht schlugen. Der Mann mit der Narbe wies ihr in ihrem Inferno den Weg.
Langsam lichtete sich der Wald. Der unverkennbare Geruch von Meer strömte ihr entgegen. Und plötzlich offenbarte sich ihr ein ganz neuer Schauplatz.
Wasser. Die äußeren Schären. Ein blendendes Licht, das eine Art altertümlichen Opferplatz erleuchtete. Weiß gekleidete Druiden liefen mit kantigen, steifen Bewegungen über den schimmernden Sand.
Den Wald im Rücken, beobachtete sie das Geschehen in dem sanften, orangegelben Licht der untergehenden Sonne. Sie sah den Strand, die runden Felsen knapp über der Wasseroberfläche, den Wald auf der anderen Seite der Bucht.
Doch. Sie war richtig hier.
Erschöpft stützte sie sich auf den Krücken ab und ließ den Schmerz zu. Er war grauenvoll – gleichzeitig aber musste sie feststellen, dass sie seit einem Jahr nicht mehr so weit gelaufen war. So stand sie da, tief über die Krücken gebeugt, während der größte der Druiden auf sie zukam. Er war schon fast bei ihr, als er erkannte, wen er da vor sich hatte.
»Deer? Was zum Teufel machst du …?«
»Oh, wie ich es vermisst habe, von dir Deer genannt zu werden, Robin«, keuchte sie.
»Aber …«, stieß der Druide aus. »Bist du nicht …?«
»Doch«, antwortete Deer und hob mühsam den Kopf. »Ich habe Innendienst. Sitze am Schreibtisch. Und bin gar nicht hier.«
»Aber ich dachte, dass du …«
»Tot bist? Frührentnerin? Nein, Robin, so weit ist es noch nicht. Niemand kann mich von dir fernhalten. Erzähl mir, was ihr da gefunden habt.«
»Aber du siehst ganz …«
»Ich weiß, wie ich aussehe«, unterbrach ihn Deer mit tiefer, drohender Stimme. »Los, erzähl.«
Robin kam näher und bot ihr seinen Arm als Stütze an. Aber sie stieß ihn weg.
»Das ist ein Sandstrand, Deer«, sagte er ruhig. »Du kommst hier mit deinen Krücken nicht lang. Lass mich dir helfen.«
Erneut streckte Robin ihr seine Hand hin. Dieses Mal wurde er nicht weggestoßen. Es war das erste Mal, dass sie außerhalb der Reha fremde Hilfe annahm.
Ein Schritt nach dem nächsten, dachte sie bitter.
Der große Kriminaltechniker, einer der Topkräfte des Nationalen Zentrums für Forensik, begleitete sie auf dem Weg zum Tatort. Sie warf einen letzten Blick auf den glühenden Horizont, ehe die Dämmerung ganz über sie hereinbrach.
Vor ihnen lag die Leiche.
Sie wurde von einem Kranz aus Scheinwerfern beleuchtet und war umgeben von Weißgekleideten, die die unterschiedlichsten kriminaltechnischen Untersuchungen durchführten.
Das Opfer war ein Mann um die dreißig, mit einem unübersehbaren Schussloch in der Stirn. Deer konnte auf den ersten Blick keine weiteren Verletzungen feststellen. Er war blond, attraktiv, athletisch und trug Segelschuhe.
»Schuss aus nächster Nähe«, kommentierte Robin, ohne ihren Arm loszulassen. »Ein einziger Schuss, soweit wir das bisher beurteilen können.«
»Dieser Pulli da …«, sagte sie.
Robin zuckte mit den Schultern.
»Auf dem Ärmel steht die Marke. Nautica. Sonst haben wir keine weiteren Anhaltspunkte. Keine Fundstücke, keine Schuhabdrücke. Hier hat jemand sehr sorgfältig hinter sich aufgeräumt.«
»Ich erinnere mich an Nautica«, sagte Deer. »Die Snobs, die damals in den USA in den Segelclubs herumhingen, haben die Marke getragen. Gibt es die überhaupt noch?«
Robin schüttelte langsam den Kopf.
»Das kann nicht der Grund dafür sein, dass du hier vorbeikommst, Deer. Nicht wegen Nautica.«
»Nein«, gab sie zu. »Ich wollte es mit eigenen Augen sehen.«
»Was, die Leiche?«
Sie befreite sich aus seinem Griff, machte ein paar unbeholfene Schritte, aber ihre Krücken versanken im weichen Sand. Auf der anderen Seite der Bucht gingen in den ersten Häusern die Lichter an.
Robin kam ihr zu Hilfe und musste sein nicht ganz unerhebliches Körpergewicht aufbringen, um die Krücken aus dem Sand zu ziehen.
»Erzähl mir noch was über die Leiche«, bat ihn Deer.
Robin zuckte wieder mit den Schultern.
»Es gibt nicht viel zu sagen. Er wurde woanders erschossen, so viel steht fest, und dann hierhergebracht, wahrscheinlich mit einem Wagen. Es scheint kein zu sein, wie die Rechtsmediziner sagen würden, es gibt keine ausgefransten Ränder am Einschussloch, aber der Schuss wurde aus nächster Nähe abgefeuert. Die Haut weist Schmauchspuren auf. Vermutlich Kaliber neun Millimeter, das Austrittsloch ist deutlich größer, was bedeutet, dass wir keine Kugel im Leichnam finden werden. Aber ich habe das Gefühl, dass dich diese Leiche gar nicht so furchtbar interessiert, Deer. Liege ich da richtig?«
Ihre Blicke begegneten sich, und Deer erkannte, wie sehr sie intelligente und aufmerksame Gesprächspartner vermisst hatte.
»Du hast recht, Robin. Was mich interessiert, ist die Aussicht.«
»Die Aussicht?«, rief Robin, als hätte er das Wort noch nie in seinem Leben gehört.
Deer zeigte auf den Strand, auf die runden Felsen knapp über der Wasseroberfläche und den Wald auf der anderen Seite der Bucht. Doch da verlor sie den Halt und stürzte in den Sand.
Robin half ihr auf. Halb stützte er, halb trug er sie vom Strand. Er sah über ihre Schulter, wo der kleine Pfad in den mittlerweile schwarzen Wald führte.
Deer umklammerte wieder ihre Krücken. Hielt sich an ihnen fest.
»Das ist nicht das erste Mal, oder?«, fragte sie Robin, ohne den Blick von ihm zu wenden.
»Wie meinst du das?«
»Ich habe jetzt häufiger mit Menschen zu tun, die wirklich nicht verstehen, was ich meine«, sagte Deer und kämpfte gegen die Schmerzen in ihren Beinen. »Aber du, Robin, gehörst nicht dazu.«
Robin zog eine Grimasse und sah erneut über ihre Schulter.
»Rein kriminaltechnisch gibt es keine Verbindung«, erklärte er.
»Aber du weißt was. Du weißt irgendwas, Robin, oder?«
»Ich weiß nur das, was ich auch wissenschaftlich beweisen kann. Das ist alles.«
Als sich sein Blick ein drittes Mal auf etwas hinter ihr richtete, hatte Deer die Nase voll. Sie ließ sich auf ihre Krücken sinken.
»Ich habe begriffen, dass sich hinter mir etwas von Bedeutung abspielt. Aber das lassen wir jetzt mal für einen kurzen Moment außer Acht. Antworte nur mit Ja oder Nein, Robin. Ist das hier der erste Mord dieser Art oder nicht?«
Robin holte tief und hörbar Luft.
»Nein.«
»Nein?«
»Nach meinem Ermessen, ohne jeglichen Beweis und ganz inoffiziell, sage ich Nein. Nein, das hier ist nicht die erste Tat des Mörders.«
»Danke«, sagte Deer und wandte sich mühsam zum Gehen.
Am dunklen Waldrand stand ein Taxifahrer mit einer Taschenlampe und einem leeren Rollstuhl. Er wartete auf sie.
Deer schloss die Augen. Obwohl sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken, fanden sie ihren Weg.
Mittwoch, 24. Mai
Die Bucht lag weit und still in der Sonne. Von oben hatte sie die Form eines gestrandeten Hais, der in den Felsen stecken geblieben war. Bisher hatten erst wenige Bootsbesitzer ihre Lieblinge zu Wasser gelassen, und der Steg ließ die Bucht von Weitem aussehen, als wäre der Körper des Hais mit Nägeln gespickt.
Es kam zu einer Beschleunigung, das Ziel befand sich nördlich vom Ausgangspunkt, wo die Bucht ziemlich abrupt endete. Dort lag ein Schloss, das herrschaftlich in der Maisonne glänzte. Dann folgte eine Runde über den nördlichen Abschnitt des Ostseearms Edsviken. Die Perspektive wechselte, verlor an Höhenmetern und kehrte zurück zur Westküste, vorbei an einer bunten Mischung von Villen, hinter denen eine große unbebaute Grünfläche auftauchte. Am Ende dieser Fläche, unten am Wasser stand ein kleines weißes Haus. Ein Steg führte weit auf den Edsviken hinaus.
Erst jetzt sah man eine Gestalt, ein Mann stand auf dem Steg und wurde immer größer und größer. Er hatte eine Fernbedienung in der Hand, ein Laptop balancierte todesmutig auf dem Geländer daneben. Kurz darauf nahm der Mann das gesamte Bild ein. Am Ende war nur noch seine enorme Hand zu sehen.
Sam Berger fing die kleine Drohne und nickte zufrieden. Endlich hatte er herausgefunden, wie er das Gerät steuern musste. Er legte die Fernbedienung und das spinnenartige Flugobjekt auf einen Tisch, nahm den Laptop vom Geländer und ging zurück in das frisch renovierte Bootshaus.
Molly Blom war wahrscheinlich in ihrem Zimmer, aber das war wegen der wilden Bewegungen in der Tür nicht zu erkennen.
Hüpfbewegungen.
Berger hatte die Hüpfschaukel eigenhändig angebracht und wusste deshalb, dass sie ordnungsgemäß in der Tür befestigt und sicher war. Trotzdem überkam ihn jedes Mal Panik, wenn seine Tochter die schwarzen Gummibänder bis aufs Äußerste dehnte. Er hockte sich vor den hüpfenden, nicht ganz ein Jahr alten Körper. Obwohl seine Tochter einen Heidenspaß hatte, behielt sie ihr Pokerface. Der ausdruckslose, fast gelangweilte Gesichtsausdruck änderte sich erst, als er in die Trickkiste griff und seine hässlichste Grimasse zeigte. Aber ihre Konzentration war geradezu olympisch, und seine Anstrengung wurde nur mit einem winzigen Lächeln belohnt. Vorsichtig streckte er seine Hand aus, um nicht Myrinas kleine Nase zu erwischen, die sich vor ihm auf und ab bewegte. Es wurde eine eher unbeholfene Berührung.
Dann schob er sich an dem hopsenden Winzling vorbei. Blom saß tatsächlich am Schreibtisch und hackte auf die Tasten ein.
»Ich habe es jetzt im Griff«, sagte Berger und zeigte nach draußen.
Blom sah hoch und schnitt eine Grimasse.
»Faulheit und Unzucht waren der Untergang des antiken Rom. Unsere Gesellschaft hingegen ist durch das Internet und die vielen Drohnen dem Untergang geweiht.«
»Wir brauchen die Drohne am Wochenende«, erwiderte Berger. »Bist du unserem zypriotischen Freund auf die Schliche gekommen?«
Blom wackelte mit dem Kopf.
»Wie man’s nimmt«, sagte sie. »Es gibt auf jeden Fall keinen Grund zur Annahme, dass er rechtmäßige Geschäfte im Sinn hat. Panaiotis Skarparis hat ein ansehnliches Vorstrafenregister auf Zypern. Hauptsächlich Wirtschaftskriminalität. Aber auch Körperverletzung.«
»Was unter Umständen erklären könnte, warum die Ehefrau die Scheidung eingereicht hat …«
Berger und Blom musterten einander schweigend.
»Wer hätte das gedacht«, sagte Berger.
»hätte wer gedacht?«
»Dass ausgerechnet die schwächste Säule unseres ohnehin schon fragilen Businesskonzepts die spannendsten Herausforderungen mit sich bringen würde.«
»Aber du hast doch bitte nicht erwartet, dass Versicherungsbetrug spannender sein würde?«
Berger zuckte mit den Schultern.
»Versicherungsbetrug sichert nach wie vor das Einkommen der Bootshaus Security AG. Ich bin davon ausgegangen, dass es diese klassischen -Nummern wie Untreue überhaupt nicht mehr gibt. Das hat doch bei Scheidungen keine Relevanz mehr.«
»Nicht in unserem Teil von Europa, das stimmt«, sagte Blom und wechselte zu einem anderen Tab in ihrem Browser. »Aber auf Zypern ist es ziemlich schwer, eine Scheidung zu erwirken. Als Frau musst du den Erzbischof davon überzeugen, dass die Ehe nicht mehr zu retten ist. Und wenn der Ehemann weder impotent noch gewalttätig war – oder eben untreu –, muss man mindestens fünf Jahre warten.«
»Wenn man keine Beweise vorlegen kann«, ergänzte Berger nickend.
»Die Buchung ist bestätigt«, sagte Blom und zeigte auf den Bildschirm. »Die Luxussuite im Sjösala Spa – ›Und der Himmel ist gleich nebenan‹.«
»Genau genommen befindet er sich direkt über dem Kopf. Wenn man die elektrischen Jalousien vom Dachfenster nicht zuzieht.«
»Das ist leider einer unserer Unsicherheitsfaktoren«, sagte Blom. »Ein zweiter ist die Manövertauglichkeit dieses Dingsdas. Die unmittelbar mit deinem Fluggeschick zusammenhängt.«
»Ich habe noch ein paar Tage Zeit, um an meiner Technik zu feilen.«
Sie schwiegen erneut, gingen in Gedanken den Einsatz durch.
»Und es gibt kein verstecktes Risiko, dass wir in etwas Größeres hineingeraten?«, fragte Berger. »Ein russisch-zypriotisches Syndikat, oder so? Ich habe irgendwie die Nase voll von der Mafia.«
Blom blähte ihre Wangen auf, dann ließ sie die Luft ganz langsam entweichen und schüttelte den Kopf.
»Nichts deutet darauf hin, dass Panaiotis Skarparis mehr ist als nur ein . Er ist zwar so wohlhabend, dass seine Frau Manolina uns ein großzügiges Honorar zahlen kann, aber ich konnte keine direkten Mafiakontakte finden. Was natürlich nicht zwangsläufig heißt, dass es keine gibt …«
»Und seine Frau selbst? Manolina Skarparis?«
Blom schüttelte den Kopf.
»Keine Vorstrafen. Keine Hinweise. Sie ist auf Facebook. Hausfrau aus Larnaka, sechsundvierzig, zwei halbwüchsige Kinder. Auf Facebook hat sie vor allem Fotos ihrer Kinder in den verschiedensten Aufzügen gepostet. Sie gibt alles, um ihren Alltag, ihre Existenz aufzuwerten, aber zwischen den Zeilen kann man deutlich Überdruss und Angst und Schrecken herauslesen. Das Ehepaar Skarparis ist auch auf ein paar Fotos zu sehen, und da springt kein Funke mehr über. Die beiden stehen so weit wie möglich auseinander.«
»Wenn Panaiotis zur Mafia gehören würde, gäbe es keine Fotos auf Facebook. Dann hätte seine Frau ganz bestimmt keinen Account da.«
Ihre Blicke begegneten sich erneut.
»Alles okay?«, fragte Blom und meinte auch sich selbst damit.
Er zuckte leicht mit den Schultern.
»Wir arbeiten in der Sicherheitsbranche«, sagte Berger. »Da gibt es immer ein Restrisiko. Aber in diesem Fall würde ich auch sagen, dass es minimal ist. Glauben wir Manolinas Version?«
Blom sah aus dem Fenster, den Hang hinauf. Über den Rasen schlängelte sich der Pfad, den sie gerade angelegt hatten, hinauf bis zum Zaun, der das Grundstück einfasste. Der Rasen war gesäumt von Pappeln, die sich in den Himmel streckten. Die Bäume bekamen Knospen, und die frischen Pappelblätter rauschten derart laut, dass man es auch im Bootshaus hören konnte.
»Ihre Geschichte ist glaubwürdig und stringent«, antwortete Blom, ohne ihren Blick abzuwenden. »Manolina Skarparis entdeckte eine SMS auf dem Handy ihres Mannes, die eine gewisse Helena geschrieben hat. Die Nachricht war auf Englisch, nüchtern gehalten, ohne verdächtige Smileys oder Emojis: ›Wie immer? Ein wunderbares Wochenende im Sjösala Spa?‹ Manolina hat ihre Schlüsse gezogen und eine Chance gesehen, ihrer schrecklichen Ehe zu entkommen und die Hälfte des Vermögens zu kassieren – und uns kontaktiert.«
»Und warum ausgerechnet uns?«
»Sie hat uns im Netz gefunden. Vermutlich, weil unsere Adresse in der Nähe vom Sjösala Spa liegt …?«
»Wie schön, dass wir uns durch unsere Verdienste auszeichnen«, brummte Berger schlecht gelaunt.
Blom hob seufzend die Hände.
»Außerdem findet sie den Buchstaben so niedlich.«
»Ein weiterer, makelloser Beleg unserer einzigartigen Qualität.«
Myrina hüpfte unermüdlich weiter. Sie sahen zu ihr. Und auf einmal lief die Angst durch den Raum. Beide dachten an einen früheren Fall, bei dem ihre Tochter nur knapp einer Entführung entgangen war und eine Heldin für sie ihre Beine geopfert hatte.
»Wir können Myrina nicht bei uns haben, wenn wir im Bootshaus sind.«
Blom sah ihn lange an.
»Es gibt nach wie vor kein Wir.«